Das Gesicht des Buddhismus im Wandel

Ein Beitrag von Bhikkhu Bodhi veröffentlicht in der Ausgabe 2024/1 Zeit unter der Rubrik Schwerpunkt Zeit.

Wenn ich hier in Sri Lanka bei einer dieser seltenen Gelegenheiten einen städtischen buddhistischen Tempel besuche, mache ich immer wieder eine erstaunliche Beobachtung. Fast alle anwesenden buddhistischen Anhänger sind mittleren Alters oder ältere Leute, die vielleicht noch ihre Enkel mitgebracht haben. In den Vihâras unserer Dörfer und Städte glänzen jüngere Menschen und auch Erwachsene in der Blüte ihrer Jahre durch Abwesenheit. Für ein Land mit über 70% Buddhistinnen und Buddhisten unter der Bevölkerung, ist solch eine ungleichmäßige Beteiligung an der religiösen Praxis bedenklich. 

Damit der Buddhismus von einer Generation zur nächsten übertragen werden kann, muss die Flamme des religiösen Glaubens die Lücke der Generationen überspringen. Wenn es wirklich diese unsichtbaren jungen Menschen sind, die die Zukunft der Botschaft (Sâsana) des Buddha in ihren Händen halten, dann erscheint die Zukunft nicht gerade rosig. Ihre Abwesenheit könnte vielleicht ein Warnhinweis dafür sein, dass die Botschaft des Dhamma die Menschen nicht mehr erreicht, dass seine Repräsentanten es nicht schaffen, seine Prinzipien in eine Sprache zu übersetzen, welche die erreicht, die am meisten der Führung durch den Dhamma bedürfen. Sollte dieser Trend anhalten, verkommt der Buddhismus in Sri Lanka in wenigen Generationen zu einem Relikt aus alten Zeiten: schön anzusehen, aber ohne Leben, wie die Ruinen von Anuradhapura. 

Äußerlich kann man Symbole des buddhistischen Erbes Sri Lankas überall im Land entdecken. Mönche spielen immer noch eine herausragende Rolle im öffentlichen Leben; gigantische Buddha-Bildnisse starren von Hügeln auf uns herab; in den meisten Städten des Landes schmettern zweimal täglich Pirit-Gesänge aus den Lautsprechern. Paradoxerweise existieren diese rein äußerlichen Darstellungen der buddhistischen Frömmigkeit in einer unruhigen Spannung neben einer bösartigen spirituellen Krankheit, deren Symptome sich durch alle Schichten der Sri Lankanischen Gesellschaft verbreitet hat. 

Ein bitterer unversöhnlicher Krieg zieht sich endlos durchs Land und verroht die Menschen. Streiks gehören zum Alltag, legen die wichtigsten Dienste lahm und die Leid tragenden sind, wie immer, die Armen und Hilflosen. Mord, Diebstahl, Vergewaltigung, Drogenhandel, die sexuelle Ausbeutung von Kindern – das alles hat sich so weit verbreitet, dass auch die grausamste kriminelle Tat kaum noch moralische Empörung in uns auslöst. Alkohol, der Gebrauch von Drogen und Selbstmord sind die gebräuchlichsten Fluchtwege, die besonders von den Armen gewählt werden. Dass sie so populär geworden sind, spricht nicht gerade für den Buddhismus hier im Land. 

Wenn der Buddhismus es nicht schafft, in die Herzen der Menschen durchzudringen, die sich als gläubige Buddhisten bezeichnen, müssen wir uns selbst nach dem Grund fragen und danach, was getan werden kann, um den gegenwärtigen Trend umzukehren. 

Bahiravokanda Vihara Buddha Statue, Kandy, Sri Lanka, Foto von Yves Alarie auf Unsplash

Die Rolle des Buddhismus in unserem Leben

Ich will mich diesem wichtigen Thema zuwenden, indem ich zunächst einmal frage, welche Rolle der Buddhismus in unserem Leben spielen sollte. Ich nähere mich dieser Frage, in dem ich zwei Aspekte unterscheide, die beide der ursprünglichen Lehre des Buddha entstammen. Ich will den einen als den befreienden und den anderen als den anpassenden Strang des Dhamma bezeichnen. 

Der befreiende Strang, die essentielle und einzigartige Entdeckung des Buddha, ist die Botschaft, dass es einen direkten Weg zur Leidfreiheit gibt. Dieser Strang beginnt mit der Erkenntnis, dass das Leiden in uns selbst entsteht, nämlich aus unserer Gier, unserem Hass und unserer Ignoranz und vor allem durch unser Bestreben, ein unabhängiges Selbst zu etablieren, welches uns von allen anderen Wesen abgrenzt. Die Lösung vom Problem des Leidens besteht nach Buddhas Worten in der radikalen Auseinandersetzung mit unserer selbst erschaffenen Ich-Illusion und deren restlosen Überwindung. Dies führt zu einer völlig neuen Seins-Form, die der Buddha Nibbâna genannt hat, das Verlöschen der Gier-Flamme, das Verwehen des Ego- Bewusstseins mit seinen selbstsüchtigen vernichtenden Energien. 

Das Erreichen dieses Zieles, verlangt jedoch einen hohen Preis, höher als die meisten zahlen können: eine strikte kontemplative Disziplin, die auf einer radikalen Zurückhaltung beruht. Als geschickter Lehrer hat der Buddha seine Lehre auch für jene dargelegt, die den strengen Weg des Verzichtes nicht gehen können. Dafür schloss er eine andere Dimension ein. Dies ist der angepasste Strang des Dhamma: ein Weg der Transformation in einzelnen Schritten, der sich über viele Existenzen erstreckt, und der durch verdienstvolle Taten und die Entwicklung der Tugenden verwirklicht wird, die als Fundament zum letztendlichen Erreichen von Nibbâna unverzichtbar sind. Ich betone, dass dieser Strang des Dhamma weder als reiner Notbehelf noch als schönes vom Buddha erdachtes Märchen verstanden sein soll, welches Trost spenden soll oder dazu dient, jemandem moralische Tugenden einzuschärfen. Es ist vielmehr ein integraler Aspekt der ursprünglichen Lehre welche aus der eigenen Einsicht des Buddha in die multiplen Dimensionen empfindungsfähiger Wesen und der Aussicht auf ein Wiedererscheinen innerhalb des Kreises der Wiedergeburten kommt. Aber die Funktion dieser Lehre innerhalb seiner Praxisanweisungen ist eher provisorisch als definitiv, eher weltlich als transzendent. 

Ich nenne diese Dimension des Buddhismus aus zwei Gründen „angepasst“: erstens, weil es die Lehre der Befreiung an die Fähigkeiten und Bedürfnisse derer anpasst, die unfähig sind, den strengen und disziplinierten Weg der Meditation, der in den Lehrreden als direkter Weg zu Nibbâna beschrieben wird, zu gehen und zweitens, weil es hilft, buddhistische Anhänger innerhalb des Samsâra mit diesem vertraut zu machen, während man ihnen lehrreiche Anleitung/Führung anbietet, um sie vor den intensiveren Formen des Leidens zu schützen, insbesondere aber vor einem Fall in niedere Formen der Wiedergeburt. 

Für die gewöhnlichen Menschen bietet der Buddhismus in dieser angepassten Dimension ein verständliches Weltbild, mit dem sie sich ein sinnvolles Bild von ihrem Dasein im Universum machen können. Gleichzeitig vertritt es ein gehobenes System von Werten, das ethische Regeln enthält und uns dabei hilft, unter den wechselnden Tücken des Alltags glücklich und mit unseren Mitwesen in Harmonie zu leben. 

Obwohl der ursprüngliche Leitgedanke des Dhamma die Botschaft von der Befreiung war, schwang, als der Buddhismus sich zuerst über Indien und später über das weitere Asien ausbreitete, das Pendel vom befreienden hinüber zum angepassten Strang des Dhamma. Eine solche Entwicklung ist nur natürlich, wenn (wie in Sri Lanka oder anderswo in Asien) das spirituelle Lehrgebäude, dessen befreiender Kern anfangs für Asketen passend war, sich zu einer Religion entwickelt, die sich über die ganze Nation verbreitet. Aber dieser Aspekt des Buddhismus sollte nicht gering geschätzt oder gar in Konkurrenz zur befreienden Dimension gebracht werden; beide sind wesentlich für die Ziele der Lehren Buddhas. 

Der Weg des Verzichts, der zur völligen Befreiung führt, war immer ein Weg der Wenigen, auch innerhalb des buddhistischen Ordens; für die meisten war der angepasste Strang der Lehre wichtig, sowohl als Weltanschauung als auch als vorbereitende Praxis für den befreienden Dhamma. 

Über Jahrhunderte hinweg bot uns der angepasste Buddhismus ein geordnetes Universum mit dem Buddha als obersten Lehrer, mit vielfältigen Himmeln, die von gütigen Göttern bewohnt werden, regiert von einem ethischen Gesetz, das unsere gegenwärtigen Taten mit unserem zukünftigen Schicksal verbindet. Auf einer Doktrin der Verdienste basierend, war diese Seite des Buddhismus Ansporn für die Menschen, gute Taten zu bewirken und die Früchte davon waren offenkundig in dem allgemeinen Geist des Wohlwollens, der in traditionellen buddhistischen Gesellschaften vorherrschte. 

Von den Anfängen des Buddhismus bis heute funktionierte das Bild des Universums, das der angepasste Buddhismus den Menschen bot, als unangefochtene Grundlage für die Übermittlung und Praxis des Dhamma. Zu Beginn des späten 15. Jahrhunderts näherte sich aber am Horizont eine Herausforderung, die jene selbstsichere Gewissheit des Weltbildes erschüttern sollte. Diese Herausforderung näherte sich in Gestalt der europäischen Kolonialmächte, die in mehreren Wellen die Kontrolle über die sozialen und politischen Institutionen, auf denen der populäre Buddhismus basierte, erlangten. Fremde Eroberer, die missionierenden christlichen Kirchen, die Säkularisierung der Erziehung und ihre Unterordnung unter der kolonialen Herrschaft: all diese Maßnahmen zusammen erschütterten das buddhistische Selbstbewusstsein und die überragende Rolle des Dhamma innerhalb der buddhistischen Bevölkerung. 

Die Rolle des neu aufkommenden naturwissenschaftlichen Weltbildes

Diese Entwicklung wurde noch durch das neu aufkommende naturwissenschaftliche Weltbild verstärkt. Obwohl die grundlegenden Prinzipien der wissenschaftlichen Methode mit dem buddhistischen Geist des freien Untersuchens leicht in Übereinstimmung gebracht werden können, verfolgt die Wissenschaft doch ein Verständnis der Welt, welches, in seiner materialistischen Ausrichtung mit den spirituellen Sichtweisen der buddhistischen Tradition zusammenstößt. Während der klassische Buddhismus ein vielstufiges Universum postuliert, welches von vielen Klassen empfindungsfähiger Wesen bewohnt wird, die auf Grund ihres Kamma in unterschiedlichen Bereichen wiedergeboren werden, betrachtet der wissenschaftliche Naturalismus das Leben als rein physischen Prozess, der gänzlich mit dem Tode endet, ohne dass eine persönliche Identität, gleich welcher Art, das physische Leben überdauert. Während das buddhistische Denken den Geist der Materie als übergeordnet betrachtet, ist die Materie für den Naturalismus das Grundlegende und der Geist aus der Materie abgeleitet, ein Nebenprodukt, ein Aspekt des physischen Prozesses. Während der Buddhismus ein transzendentes Ziel postuliert, eine überweltliche Wirklichkeit, welche durch moralisches und spirituelles Training erreicht werden kann, sieht der Naturalismus nichts jenseits der empirischen Welt und betrachtet alle ethischen und religiösen Regeln als rein menschliche Erzeugnisse. Die wachsende Bedeutung der Wissenschaft, zusammen mit dem Verlangen nach intellektueller und moralischer Freiheit, hat auch im Westen das Christentum von seinem herrschenden Platz vertrieben. 

Es war nicht die reine theoretische Kraft der modernen Wissenschaft, die das traditionelle Weltbild und die dazugehörigen Werte der Buddhisten bedrohte; tatsächlich diente die Wissenschaft im frühen 20. Jahrhundert den buddhistischen Denkern auch als Verbündeter gegen den christlichen Siegeszug. Was aber das traditionelle buddhistische Wertesystem veränderte, war nicht die Theorie, sondern die Praxis: die Vereinnahmung der Technologie von einem System des freien Marktes mit dem Ziel wachsender Profite. Die aus der Verbindung von Technologie und dem freien Markt hervorgegangene Kultur des unstillbaren Konsums basiert auf der Prämisse, dass materieller Wohlstand und sinnliches Vergnügen die einzigen wertvollen Ziele im Leben eines Menschen sind. Es ist diese Kultur des Konsumierens, die gegenwärtig, durch Werbung und Medien stimuliert, wahrscheinlich die einzige und größte Herausforderung an die Spiritualität als effektive Kraft im Leben eines Menschen darstellt. In den Städten hat diese Kultur eine wohlhabende Elite geschaffen, die in hedonistischer Selbstsucht lebt. Die arme Bevölkerung in den Städten und auf dem Lande ist von der durch TV, Radio und Kino ausgestrahlten Pracht überwältigt, was zwangsläufig zu Gefühlen wie Neid, Ärger und Verzweiflung führt. Was wunder, dass es unter solchen Umständen so schnell zu Alkoholismus, Drogenabhängigkeit, Selbstmord und einer gewalttätigen Kriminalität gekommen ist. 

Die Kollision der verschiedenen Weltbilder und Wertesysteme erklärt auch, warum die jüngere Generation buddhistischen Tempeln immer öfter fern bleibt. Im heutigen Tempelbuddhismus ist die Sprache, in der die Belehrungen verfasst sind – das Ambiente, die Atmosphäre, der ganze Tenor der Belehrungen – im mittelalterlichen Weltbild des angepassten Buddhismus hängen geblieben. Dies mag einerseits reizend, nobel und – auf seine eigene Art authentisch sein, aber es ist kaum dafür geeignet, die Botschaft des Dhamma an die heranzuführen, die in der modernen Welt aufgewachsen und erzogen werden. Die Lehren des Tempelbuddhismus stammen aus einer Zeit, welche unwiederbringlich verloren ist, aus einer Zeit, in der die Rollen klar definiert waren und alles seinen Platz in einem verständlichen und freundlichen Ganzen hatte. Aber wir leben, atmen und gehen unseren Weg entlang der Straßen der modernen Welt, wo Veränderungen unfassbar schnell stattfinden, wo eine Menge aggressiver Stimmen um unsere Aufmerksamkeit wetteifert, wo jede bisher für sicher gehaltene Annahme gnadenlos in Frage gestellt wird. Für alle, die in dieser Welt für sich nach einer eigenen Nische suchen, hat der in sich selbst ruhende Buddhismus der Tempel aufgehört, der Dhamma zu sein, die Botschaft vom Erwachen, die unseren Geist öffnet und mit Licht erfüllt. Stattdessen verkam es zu einem etwas merkwürdigen Überbleibsel der Vergangenheit, immer noch dazu fähig, gelegentlich eine Stimmung der Frömmigkeit hervorzurufen, aber kaum brauchbar, um mit den schwierigen Entscheidungen des Alltags fertig zu werden. 

Eine Möglichkeit, sich der Kollision der Weltbilder anzunähern, ist, sich defensiv in die Vergangenheit zurückzuziehen und ganz bewusst das alte religiöse Erbe von den Verwüstungen der Moderne abzutrennen und die Überlegenheit des Buddhismus gegenüber allem Modernen zu rühmen. Dies ist die fundamentalistische Einstellung, nicht notwendigerweise eine aggressive, aber eine, die den nostalgischen Rückzug in die Vergangenheit einer innovativen Anpassung an die Gegenwart vorzieht. Aus dieser Perspektive stellt die Ankunft der modernen Kultur gegenüber dem Dhamma eine wesentliche Bedrohung dar, und die einzige Möglichkeit, die kostbaren Lehren davor zu schützen, ist die Zurückweisung jeglicher Form von Modernität und der Versuch, das Erbe der Tradition mit minimalen Veränderungen zu bewahren. 

Foto von Carol Lee auf Unsplash

Die Notwendigkeit der Anpassung

Aber jeder Organismus muss sich seiner Umwelt anpassen, wenn er überleben will. Das Zurückweisen einer neuen Umwelt und der Kampf, die Vergangenheit zu bewahren, birgt das Risiko in sich, zu einem Fossil zu werden: der Buddhismus verwandelt sich dann in eine veraltete Antiquität, dessen eigentliche Bedeutung verloren gegangen ist und die lediglich nur noch den Zweck erfüllt, Gefühle der andächtigen Frömmigkeit zu wecken. In traditionelleren buddhistischen Kreisen war/ist dies die vorherrschende Meinung. Es ist ein eigensinniger Konservatismus, der die spirituellen Ansichten des Dhamma an eine spezielle Kultur und sozialen Ordnung anbindet und der teilweise dazu beiträgt, dass die Bedeutung des Buddhismus in den Augen vieler jüngerer Menschen weiter abnimmt.

Aber der Rückzug in die Vergangenheit ist nicht der einzige Weg, um den Dhamma vor der Zerstörung zu schützen. Tatsächlich schützt diese regressive Frömmigkeit nur die Hülle, die äußeren Formen des Buddhismus und lässt seine innere Vitalität vergehen. Eine andere, optimistischere Herangehensweise ist aber möglich, eine, die nicht zu der Schlussfolgerung kommt, dass die Modernität das Ende des Dhamma bedeutet. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, könnte die gegenwärtige Krise innerhalb der buddhistischen Kultur als Mittel der Reinigung betrachtet werden, das uns hilft, die Spreu vom Weizen zu trennen, um so das zu entdecken, was wirklich zeitlos an Buddhas Lehre ist. Hierzu ist ein neuer Schwerpunkt gesucht, einer, der als Wechsel von der Überbetonung des angepassten Buddhismus hin zum befreienden, beschrieben werden könnte. 

Wenn ich von dem Wechsel des Schwerpunktes spreche, will ich damit nicht ausdrücken, dass das traditionelle buddhistische Weltbild falsch ist und zugunsten einer rein naturalistischen Lebenseinstellung, wie sie von der modernen Wissenschaft vorgeschlagen wird, über Bord geworfen werden muss. Man muss die unvermeidlichen mythologischen Elemente in der buddhistischen Tradition berücksichtigen, und dennoch bleibe ich doch dabei: Die buddhistische Weltanschauung, die dem Geist und den unvorstellbar gewaltigen Dimensionen der Wirklichkeit eine entscheidende Rolle beimisst, ist reicher und der philosophischen Reflektion angemessener, als die eher verflachte Weltanschauung die uns die wissenschaftliche Methode unter Überschreitung ihrer Grenzen und Kompetenzen vermittelt. Ein beeindruckendes Merkmal der Lehre des Buddha ist die Unabhängigkeit ihres befreienden Kerns von einer bestimmten Kosmologie und die Fähigkeit, direkte Antworten auf fundamentale Fragen des Leben zu geben und zwar so, dass sie für jeden unmittelbar und persönlich nachvollziehbar sind, egal welche Weltanschauung man vertritt. Vor dem Hintergrund der heutigen Situation drängen der materielle Fortschritt und die Erfüllung der Konsumwünsche uns zur Einsicht, dass der Wohlstand nicht wahres Glück bringt; er erzeugt bei uns Gefühle von Leerheit und einem grundlegenden Mangel. So werden wir dazu gebracht, die schmerzliche Wahrheit zu erkennen, von der der befreiende Dhamma spricht: das Verlangen ist der Ursprung unseres Leids. Weiterhin erkennen wir, dass die Befreiung vom Leid nicht dadurch gewonnen werden kann, wenn wir den permanenten Verlockungen und Drängen nachgeben, sondern dadurch, dass wir uns durch das methodische Training unseres Geistes mit dem Ziel der Selbsterkenntnis und der Transformation weiterentwickeln. 

Obwohl es schwierig ist, die Entwicklung des institutionellen Buddhismus in den nächsten Jahrzehnten vorauszusehen, können wir heute aber schon bestimmte wichtige Trends wahrnehmen, die eine echte Wiederbelebung des Dhamma ankündigen. Ein Trend ist die Desillusionierung und Verdrossenheit der Menschen über die so genannten Segnungen des Konsums. Die Erkenntnis, dass man wahres Glück eben nicht in der Einkaufspassage kaufen kann, sollte in uns den dringenden Wusch wachrufen, unabhängig von äußeren Bedingungen, in uns selbst, einen tieferen Lebenssinn sowie Frieden und Glück zu suchen. Dies wird bereits an der wachsenden Zahl der Laien-Buddhisten erkennbar, die bereitwillig den harten Weg der Meditation auf sich nehmen, der traditionell den Mönchen zugedacht war. Für diese Menschen besitzt die konventionelle traditionelle und ritualistische buddhistische Praxis eher einen untergeordneten Stellenwert; der Schwerpunkt wird hier auf die innerliche Schulung und das Training des Geistes gelegt, welches auf privater Ebene, in kleinen Gruppen unter Gleichgesinnten stattfindet. 

So führen uns die Auswirkungen des Materialismus zurück zum eigentlichen befreienden Strang des Dhamma, der über Jahrhunderte unter seiner angepassten Dimension schlummerte. Aber während die alte Anschauung hauptsächlich von der Befreiung aus dem Kreis der Wiedergeburten als Ziel sprach, wird heute Wert darauf gelegt, sichtbarer Nutzen aus der täglichen Dhamma-Praxis zu erzielen: Glück und Erfüllung, gewonnenen durch Geistestraining und Selbsterkenntnis. Selbstverständlich soll weder die Gültigkeit der Wiedergeburtslehre, noch das Konzept vom Ziel des ultimativen Verlassens von Samsâra in Frage gestellt werden; aber es soll betont werden, dass dieses ultimative Ziel für uns erst dann relevant und bedeutungsvoll wird, wenn wir unser alltägliches Leben mit Hilfe der Erforschung und Meisterung unseres Geistes in Ordnung gebracht haben. Ansonsten würde es bei einer utopischen Phantasie bleiben, welche ja heute noch Bestandteil des angepassten Buddhismus ist. 

Wie dem auch sei: Das Versprechen des Dhamma lässt sich nicht auf die Suche nach dem persönlichen Frieden des Geistes in zukünftigen Epochen reduzieren. Wir befinden uns in einem historisch entscheidenden Moment, in dem die Zukunft der Menschheit und die unseres Planeten als biologische Einheit sich in einem prekären Gleichgewicht befindet. Unsere Kommunikationsmedien und die Möglichkeit, jeden Ort der Erde schnell zu erreichen, hat die Menschheit überall zu einer einzigen Familie zusammengeschweißt, wo jeder einzelne sowohl für das Wohl aller, als auch für das seiner ganzen Lebensgemeinschaft verantwortlich wird. Aber während die Technologien uns heute die Möglichkeit geben, jedem ein passables Leben zu ermöglichen, bleiben trotzdem Probleme ernsten Ausmaßes. Armut, Krieg, Hunger, Ausbeutung und Ungerechtigkeit werfen ihre Schatten auf unsere Zukunft. Sie fordern zu viele Opfer, die, allein gelassen, ihrem Leiden keine Stimme verleihen können, geschweige denn es beenden können. 

All diese Probleme, seien es nun politische, ökonomische und ökologische, schreien nach Lösungen, und eine der Hauptaufgaben der Religionen heutzutage ist, als Stimme des menschlichen Gewissens zu dienen. Wenn man diese Probleme lediglich als vorübergehend betrachtet, die mit Hilfe von politischen und sozialen Reformen beseitigt werden können, übersieht man die eigentliche, dem zugrunde liegende Ursache dafür: eine blinde und eigensinnige Selbstsucht, die äußerst schädlich in ihren Konsequenzen ist. Es ist genau die Rolle der Religion in ihrem ureigensten Wesen, auf dieses Geschwür hinzuweisen und es zu beseitigen. In der Vergangenheit hat sich die Religion zu oft als Kraft präsentiert, die Menschen eher aufhetzt und entzweit als vereint, und bei den heutigen Arten verschiedener religös-fundamentalistischer Gruppen auf der Welt sieht man, dass dieser Trend noch anhält. Alle großen spirituellen Traditionen beinhalten in ihrem Kern die Wahrnehmung von der Einheit aller Menschen, die nur in einen Lebensweg übersetzt werden muss, der von Liebe und Mitgefühl begleitet wird. Genau diese Seite der Religion, und nicht die entzweiende, muss in unmittelbarer Zukunft gepflegt werden. 

Eine der wichtigsten Aufgaben, mit der sich der Buddhismus zukünftig in der ganzen Welt auseinandersetzen muss, ist, umfassende Visionen von Lösungen zu entwickeln, die die ökonomischen und politischen Probleme bekämpfen, welche heute auf breitem Feld immer näher rücken. Dazu muss man nicht Politik und Religion mischen, aber man sollte eine präzise Diagnose der zerstörerischen Fixierungen des Bewusstseins erstellen, aus denen diese Probleme entspringen. Diese Diagnose muss offen legen, wie die menschlichen Verunreinigungen – genau die Gier, der Hass und die Verblendung, die für unser privates Leid verantwortlich sind – eine kollektive Dimension annehmen, welche Bestandteil der sozialen Strukturen ist. Es reicht aber nicht, die bedrückende und schädliche Natur dieser Strukturen aufzudecken, sondern wir müssen zusätzlich nach neuen Alternativen suchen: neue Perspektiven in Bezug auf soziale Organisation und zwischenmenschlichen Beziehungen, die politische, ökonomische und soziale Gerechtigkeit sicherstellen können, den Erhalt der Umwelt und die Aktualisierung unseres spirituellen Potentials. 

Obwohl ein Projekt von solch gewaltigem Umfang eine neue Herausforderung für den Buddhismus darstellt, ist es eine Herausforderung, die teilweise mit den Einsichten des Buddha über den Ursprung des Leidens und die Mittel zur Erlösung von diesem Leiden zusammenpasst. Aber nur teilweise, denn hier wird kreatives Denken gebraucht, um diese Einsichten zur Lösung heutiger Probleme anzuwenden. Das bedeutet tatsächlich, dass die befreiende Dimension des Dhamma erweitert wird, indem man ihr eine kollektive oder sogar globale Anwendbarkeit gibt. Bei diesem Unternehmen müssen sich Buddhisten mit den Führern anderer Religionen, die das gleiche Ziel verfolgen, vereinen. Abgesehen von den unvermeidlichen Differenzen, stimmen die großen Religionen in der Erkenntnis überein, dass die ernsten sozialen und kommunale Probleme aus der ursprünglichen Blindheit stammen, die in der Illusion eines Selbst verwurzelt ist und sich entweder persönlich oder zu ethnisch-nationalistischen Identitäten aufbläht. 

Was wir aus der der Perspektive der großen spirituellen Traditionen tun können, um uns zu befreien und die Fahne der Menschlichkeit auf Erden hoch zu halten, ist, das Verfolgen unserer selbstsüchtigen Ziele aufzugeben und uns wieder mit dem Gesetz des Universums – dem zeitlosen Dhamma – in Einklang zu bringen. Der Buddha lehrt uns, dass wir nur dann wahres Glück erreichen, wenn wir die Illusion des Selbst transzendieren und unsere Herzen auf das Wohl aller ausrichten. Dieses Prinzip ist nicht Eigentum einer bestimmten Religion, es kann aber von jedem mit gutem Willen verstanden werden. Was der Buddhismus uns und der Welt auf der Schwelle des neuen Jahrtausends gibt, ist ein klarer Weg zur Meisterung von uns selbst, aber auch zum Hervorbringen von Weisheit und Mitgefühl, die wir im neuen Jahrtausend dringend benötigen. 

Bhikkhu Bodhi

Quellenangabe:

aus: Facing the Future, Four Essays on the Social Relevance of Buddhism – The Wheel (2000, Buddhist Publication Society – Kandy – Sri Lanka) 

Deutsche Üersetzung aus: „Wege in die Zukunft“ von Bhikkhu Bodhi, Herausgeber: Theravada-Netz der DBU. Übersetzer: Kurt Jungbehrens, Manfred Wiesberger. 

Die Theravada-AG der Deutschen Buddhistischen Union versendet das Buch auf Spendenbasis: www.theravadanetz.de/angebote.php

 

Bhikkhu Bodhi

BHIKKHU BODHI ist buddhistischer Mönch US-amerikanischer Nationalität, geboren in New York City im Jahre 1944. Nach Promotion im Fach Philosophie an der Claremont Graduate School ging er nach Sri Lanka um dem Saṅgha beizutreten. Sein Noviziat begann 1972, 1973 wurde ihm die höhere Ordination zu teil. Beides geschah unter dem bekannten Mönchsgelehrten, dem ehrwürdigen Balangoda Ānanda Maitreya, mit dem er Pāli und den Dhamma studierte. 1975 zog er zu Nyānaponika Mahāthera in die Forest Hermitage bei Kandy. 2002 kehrte er in die USA zurück und lebt und lehrt seither im Bodhi Monastery und Chuang Yen Monastery. Er ist Autor mehrerer Arbeiten über den Theravāda-Buddhismus, darunter Neu-Übersetzungen großer Teile des Suttapiṭaka und der zugehörigen Kommentare. Er war langjährig Redakteur und Präsident der Buddhist Publication Society. Bhikkhu Bodhi ist Gründer und Vorsitzender des Buddhist Global Relief.

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