Wir begegnen einander nicht in der Zeit

Ein Beitrag von Agnes Pollner veröffentlicht in der Ausgabe 2024/1 Zeit unter der Rubrik Schwerpunkt Zeit.

Wer das berühmte Hier und Jetzt zu fassen versucht, wird scheitern, sagt die Dharmalehrerin Agnes Pollner. In ihrem Beitrag erkundet sie, wofür wir Zeit brauchen und dass wir uns doch dort begegnen, wo die Vorstellung von Zeit nicht greift.

„Wir begegnen einander nicht in der Zeit, wir begegnen einander im Herzen“ Lama Shenpen Hookham

 

Manchmal vergessen wir die Zeit, wir fallen aus der Zeit, wir sind in etwas versunken – vielleicht in tiefer Meditation? Oder doch eher in einer Traumwelt, einem packenden Roman, im Sog eines Workflows? Manche Märchen erzählen von Menschen, die in die Welt der Feen hineingezogen wurden. Und als sie nach einem Augenblick wieder daraus auftauchten, stellten sie zu ihrem Erschrecken fest, dass für die Menschenwelt viele Hundert Jahre vergangen waren.

Das Phänomen des subjektiven und variablen Charakters der Zeit ist schon lange bekannt und bestaunt – nur unsere Terminkalender und Fahrpläne bilden das nicht ab. Gleichzeitig wünschen sich viele Menschen mehr und vor allem unstrukturierte Zeit. Wir haben eine erstaunlich klare Intuition dafür, dass wir in einer durchgetakteten Zeit nicht wirklich lebendig sein können.

Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts.

Hugo von Hofmannsthal, Libretto zur Oper „Der Rosenkavalier“ von Richard Strauß

Ja, die Zeit ist wirklich sonderbar und wenn uns das auf dem buddhistischen Weg auffällt und wir, wie die Marschallin im Rosenkavalier oder wie Alice im Wunderland auf der immerwährenden Teeparty, verwundert innehalten und darüber staunen, sind wir auf einer heißen Spur zu einer tieferen Erkenntnis.

Meditative Erforschung

Meine Überlieferungslinie sind die Mahamudra-Lehren der Kagyü-Schule des tibetischen Buddhismus. Mahamudra-Wege werden in vielen tibetischen buddhistischen Schulen gelehrt. Sie beinhalten Methoden, die uns die wahre Natur unseres eigenen Geistes zeigen sollen. Und dafür üben wir, die drei Zeiten meditativ zu erforschen, um so Einsicht in die Wirklichkeit zu erlangen. 

Auf dem Meditations- und Einsichtsweg lernen wir, wie wir immer tiefer in unsere Erfahrung blicken können. Wir werden aufgefordert, uns zu fragen: Wie erlebe ich Zeit und das Vergehen von Zeit tatsächlich? Dabei kann uns etwas auffallen: Die Vergangenheit ist tatsächlich weg. Der Moment, der Gedanke, die eben noch so deutlich da waren, sind nirgendwo mehr zu finden. Sie sind fort und werden auch nirgendwo aufbewahrt. Scheint es mir so, dass ich „denselben“ Gedanken immer wieder denke, ist es in Wahrheit ein neuer, frischer Gedanke. 

Im Mahamudra-Kontext gibt es Meditationsanweisungen, die in etwa lauten: „Schau nicht zurück und frag nicht nach der Zukunft.“ Das klingt gut, irgendwie erleichternd. Doch falls mir diese Präsenz wirklich gelingen würde, wo wäre ich denn dann – oder besser: wann? „Nun ja“, sagen die ganz Schlauen, „dann bist du doch in der Gegenwart, im Hier und Jetzt; darum geht es doch im Buddhismus.“ Aber wo ist das – und vor allem: Wie lang? 

Normalerweise stellen wir uns die drei Zeiten in einer Art „Käsestullen-Modell“ vor: Eine Brotscheibe ist die Vergangenheit, die andere die Zukunft und dazwischen liegt die Käsescheibe der Gegenwart. Wird mir aber klar, dass die Vergangenheit wirklich vorbei ist, selbst der kleinste Moment, der eben noch da war, und dass die Zukunft niemals erreicht werden kann, denn sie liegt ja eben in der Zukunft, dann lässt sich die Vorstellung von der Käsestulle nicht aufrechterhalten. Denn die beiden Brotscheiben, die mir die dazwischenliegende Gegenwart festhalten und definieren sollten, sind anscheinend gar nicht in der Weise da, wie ich dachte. Wo aber ist dann das, was ich „jetzt“ nenne? Und wie lang? Wie kann ich es beschreiben, messen, fassen? 

Die Antwort lautet: Gar nicht. 

Das viel beschworene „Jetzt“ erweist sich als unfassbar.

Fang den Moment

Eine andere Forschungsaufgabe der Tradition besteht darin, die Schülerin oder den Schüler damit zu beauftragen, den gegenwärtigen Moment oder den Gedanken „jetzt“ genau zu erwischen. In einem Retreat verbrachte ich mehrere Tage mit diesem Versuch. Ich sehe mich noch vor dem Seminarhaus auf der Wiese auf- und abgehen; hoch konzentriert und voller Eifer hatte ich das Gefühl, es schaffen zu können, in dieser oder der nächsten Sekunde, und sah den Erfolg schon vor mir. Doch immer wieder, wenn ich es fast geschafft hatte, entwischte mir die Gegenwart wie ein Stück Seife in der Badewanne. Das Jetzt war so verführerisch nah, und doch erreichte ich es nie. 

Und plötzlich wurde mir klar: Ich versuche etwas zu ergreifen, was unfassbar ist. 

Es ist das geheimnisvolle, wahre Wesen der Wirklichkeit, das sich mir in der Unfassbarkeit des Moments zeigt – nicht messbar, unbeschreiblich und doch klar erfahrbar. Die unmittelbare Erfahrung in ihrer Einfachheit geschieht nicht an irgendeinem Punkt auf unserem Strahl der Zeitmessung. Sie hat kein Wann und Wo.

 

Pfade und Stufen in der Zeit

Gleichzeitig organisiert sich auch die buddhistische Lehre in Pfaden und Stufen: Es gibt die Schritte auf dem Weg, die Lernprozesse und Entwicklungen, und sie alle brauchen ihre Zeit. Wir brauchen als Praktizierende Zeit, uns auf das Dharma einzulassen und um Beziehungen aufzubauen, die uns dabei helfen. Wir brauchen Zeit, um Sanghas zu schaffen und zu pflegen. In diesen Zeiträumen knüpfen wir wertvolle Verbindungen zu anderen, die denselben Weg gehen wie wir: Herzensverbindungen.

Als Lernende auf dem Weg brauchen wir ebenfalls Zeit, um eine Lehrerin zu finden, mit der wir gut lernen können und der wir vertrauen. Die buddhistische Überlieferung rät dazu, die Lehrenden zu überprüfen – „drei Jahre lang“, wird oft gesagt –, ob sie das, was sie lehren, auch selbst umsetzen und eine authentische Lehrlinie vertreten. 

Westliche Praktizierende stehen oft noch vor der Herausforderung, überhaupt zu verstehen, welche Rolle eine buddhistische Lehrerin, ein buddhistischer Lehrer für sie spielen kann. Wir kennen Therapeutinnen, Coaches, Influencer, Freundinnen und Freunde. Von allen könnte die Lehrerin, der Lehrer etwas haben, aber das ist nicht ihre Kernkompetenz. Die Lehrenden sind dazu da, uns die wahre Natur des Herzgeistes zu zeigen. Sie ist nicht in der Zeit und gleichzeitig ganz nah, näher als der eigene Atem. Es braucht Zeit, das miteinander zu entdecken.

Die Lehren sagen auch, dass der Weg zum Erwachen sehr lang sei. In den Mahayana-Sutras heißt es sogar, es brauche eine unermesslich lange Zeit, ihn zu gehen. Allerdings wird dort auch erzählt, dass Erwachen ganz plötzlich geschehen kann, einfach so. Im Lotussutra hören wir von der achtjährigen Naga-Prinzessin, die zum großen Erstaunen der anwesenden Langzeitpraktizierenden Erwachen im Handumdrehen demonstriert. Allerdings muss sie dafür noch (kurz) einen männlichen Körper annehmen – aber das ist eine andere Geschichte. Auch von Niguma, der Gründerin der Shangpa-Kagyü-Linie, wird berichtet, dass sie in kürzester Zeit vollständig erwachte. Mein Lehrer Rigdzin Shikpo, der im April 2023 verstorben ist, hat oft gesagt, dass wir nicht wissen können, wo wir auf dem weiten Weg zur Erleuchtung stehen. Es könnte direkt beim nächsten Schritt geschehen. Wir dürfen uns weder daran festhalten, dass es lange dauern wird, noch daran, dass es direkt bevorsteht.

Der Intuition vertrauen

Die wesentlichen und prägenden Beziehungen zu Menschen, ohne die wir nicht hier wären oder ohne die wir den Dharmaweg nicht gehen würden, sind Herzensverbindungen. Wir nennen sie in unserer Linie auch Samaya-Verbindungen.

Es sind die Beziehungen zu unseren Eltern, Kindern, Liebespartnerinnen und -partnern, zu Menschen, für die wir eine besondere Verantwortung spüren oder Fürsorge tragen und ganz besonders zu unseren Dharmalehrer:innen und -gefährt:innen. Auch Beziehungen, die mit schwierigen Gefühlen verbunden sind, können solche Herzensverbindungen sein. Das klingt eigentlich widersprüchlich. Aber ein Streit, ein Zerwürfnis können uns schließlich ein Leben lang beschäftigen und auf diese Weise mit der anderen Person zutiefst verbinden. 

Solche Verbindungen sind so wesentlich, dass wir sie direkt in unserer Mitte spüren und erleben. Um zu beschreiben, wo sich in uns diese Beziehungen knüpfen, verwenden wir Redewendungen wie „Ich bin im Herzen bei dir“ oder „Du bist in meinem Herzen“. Emojis für Liebe sind nicht zufällig kleine Herzchen. Wir meinen damit aber nicht das physische Organ in unserer Brust, sondern den lebendigen Raum im Zentrum unseres Seins, der so unfassbar ist wie das Jetzt.

In ihrem Buch „Beim Sterben geht es nicht nur um den Tod“ erläutert Lama Shenpen:

Herzensverbindungen sind nicht in Zeit und Raum. Man könnte sie daher für schwach halten, aber sie sind bedeutungsvoller und wichtiger als alles andere. Auch die Verbindung zwischen einer karmischen Tat und ihrem Ergebnis ist außerhalb von Raum und Zeit, es könnte sonst keine Auswirkung geben, die von einem Leben zum nächsten geht. Ebenso besteht unsere Verbindung mit dem Pfad des Erwachens außerhalb von Raum und Zeit. Darum können wir ihr im Moment des Todes vertrauen. Diese Verbindung ist zeitlos und unzerstörbar. Das rein rationale Denken würde argumentieren, dass diese Verbindungen genauso wenig wie Karma von einem Leben zum anderen weitergehen können. Und trotzdem wissen wir intuitiv, dass es etwas bedeutet, von solchen Verbindungen, die über Leben und Tod hinausgehen, zu sprechen. Und es ist möglich, dieser Intuition zu vertrauen.

Immer verbunden

Die Beziehungen, die wir im Dharma knüpfen, sind aus buddhistischer Sicht zentral, denn sie können uns immer wieder mit dem Dharma verbinden, in diesem und in allen Leben. Deswegen formuliert die buddhistische Tradition den starken Wunsch, der auch immer wieder rezitiert wird, niemals von unseren Lehrer:innen getrennt zu sein und ihnen immer und immer wieder zu begegnen. So tragen wir uns gegenseitig von einem Leben ins nächste. 

Möge ich in allen meinen Leben das unübertreffliche Dharma üben, die nötige Muße, die passenden Umstände und genug Interesse, Energie und Vertrauen haben, um guten spirituellen Freundinnen und Freunden zu dienen und von ihnen zu lernen.

Wenn wir einem Menschen sagen, wir seien im Herzen bei ihm oder ihr, dann trifft das möglicherweise wortwörtlicher zu, als wir normalerweise meinen: Denn unsere Herzen beeinflussen sich immer gegenseitig. Wir sind immer eng miteinander verbunden, nicht nur durch Ursachen und Bedingungen, sondern zutiefst durch unser wahres Wesen. Nichts kann das jemals ändern.

Agnes Pollner

ist buddhistische Meditationslehrerin und Gründerin der Sangha „Herz der Dinge“ als Schwester-Sangha zur Awakened Heart Sangha
ihrer Lehrerin Lama Shenpen Hookham und in enger Beziehung zum Netzwerk Tara Libre um Sylvia Wetzel. Sie ist Autorin des Buches „Die weibliche Seite des Buddha“.

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