Tibetischen Buddhismus im Westen lehren
Mehr Intimität und Demokratie
Seit 1980 lehrt James Low nach einer langjährigen Ausbildung in Indien den tibetischen Buddhismus der Dzogchen-Tradition im Westen. Bei einem Besuch in Deutschland konnte sein Schüler Andreas Ruft ein Interview mit ihm führen.
Andreas Ruft: Warum ist der Buddhismus für westliche Menschen und unsere westliche Kultur von besonderer Bedeutung?
James Low: Die im Westen vorherrschende materialistische Sichtweise reduziert die Welt und uns auf das Zusammenspiel von Atomen und Molekülen. So viele Menschen glauben, der Geist sei eine reine Begleiterscheinung der elektrochemischen Aktivitäten im Gehirn. Aber wohin sollten wir erwachen, wenn es so wäre? Wenn die Ursache meiner selbst etwas ist, mit dem ich keinen direkten Kontakt habe, bin ich nichts weiter als ein Schattengebilde, hervorgebracht von einem geistlosen Geist, dem organischen Gehirn.
Unsere gelebte Erfahrung erzählt uns jedoch etwas ganz anderes: Sie ist sehr komplex und subtil. Achten wir nur einmal auf unsere täglichen Erfahrungen, den Geschmack des Tees, wie der Himmel am frühen Morgen und am späten Abend erscheint oder wie unsere Freundinnen und Freunde aussehen. Wirken sie glücklich oder traurig? Wie ändert sich ihre Haltung und ihre Atmung, wenn sich ihre Emotionen verändern? Je stärker wir mit solchen Nuancen des Gefühlsausdrucks verbunden sind, je stärker wir wahrnehmen, wie das auf uns selbst wirkt, wie es uns verändert, wie unser neues Empfinden, unser neuer Ausdruck dann wieder andere beeinflusst, umso mehr nehmen wir diese Komplexität wahr. Alles das zeigt sich uns aber nur, wenn unser Geist ruhig und klar ist. Und das führt uns zur Wichtigkeit grundlegender buddhistischer Meditationspraktiken: shamatha und vipassana, Ruhe- und Einsichtsmeditation.
Müssen westliche Menschen von sich aus etwas mitbringen oder sich in besonderer Weise öffnen können, um für die Lehre des Buddha empfänglich zu sein?
Für Menschen, die stark in Projektionen verhaftet sind, ist es sehr schwierig zu erkennen, dass sie ein interaktiver Teil der Prozesse in ihrem Leben sind. Wir sind von so vielen Projektionsangeboten umgeben. „Unsere Wirtschaft floriert nicht, weil wir zu viele Einwanderer haben. Deshalb müssen wir die Einwanderer loswerden.“ Solche Sätze überzeugen Menschen, die meinen, zu den Guten zu gehören, während andere die Probleme verursachen. Wir sehen das am Aufstieg der extremen Rechten in den USA. Der Slogan von Donald Trump für seine Gefolgschaft lautet: „Wir sind die guten Menschen, die Amerika wieder großartig machen. Die anderen ruinieren das Land.“ Er versucht, die Fähigkeit der Menschen zum komplexen Denken zu untergraben. Slogans machen uns einerseits blind für Vielschichtigkeit, andererseits fühlen wir uns stark und klar, weil wir ja so genau wissen, was richtig und falsch ist. Das wirkt wie eine Selbstvergiftung, die es sehr schwierig macht, Einsicht zu entwickeln.
Einsicht entwickeln bedeutet Arbeit.
Viel Arbeit! Ich muss genau hinschauen und meine eigenen Strukturen untersuchen, was mich schließlich zur Weisheit führt. Außerdem muss ich andere Menschen und mich selbst tatsächlich kennenlernen und die komplexe Natur des Lebens betrachten. Das führt mich in den Bereich des Mitgefühls.
Unterrichten Sie als westlicher Lehrer den Buddhismus anders als tibetische Lehrer?
Vor hundert Jahren durften Lehrer hier im Westen ihre Schülerinnen und Schüler schlagen und anschreien. In der Universität saßen sie in einer Robe an einem hohen Pult, fühlten sich überlegen und sahen auf ihre Schüler herab. Inzwischen sind die Hierarchien sehr viel flacher geworden. Lehrerinnen und Lehrer versuchen, mit der Klasse zusammenzuarbeiten und ermutigen sie, Verantwortung für ihr Lernen zu übernehmen, also nicht nur Fakten zu pauken, sondern sich Meinungen zu erarbeiten, um auf der Grundlage von Überzeugungen argumentieren zu können. Der Lehrer hat sich vom Boss zum Moderator entwickelt. Er sieht es als seine Aufgabe an, die Entwicklung und Reifung junger Menschen zu fördern.
In der tibetischen Kultur hat es eine große Bedeutung, wenn ich als Lama auf einem hohen Thron sitze. Die Anzahl der Kissen gilt als Symbol dafür, wie ich die yanas, die Pfade der spirituellen Verwirklichung beherrsche. Meine goldene Glocke, mein hoher Thron, die teure chinesische Teetasse sind Zeichen meiner Macht und Bedeutung. Meine Macht ist dabei sowohl weltlich wie spirituell, und das Zusammenspiel beider Ebenen schafft für andere eine Atmosphäre für Vertrauen und Zuversicht.
Im Westen interessieren sich nicht viele Menschen für diese Art patriarchalischer Strukturen, auch nicht als Lehrerin oder Lehrer. Die dich umgebende Kultur muss dir ja deine überlegenen Qualitäten bestätigen, doch unsere Kultur spricht religiösen Menschen heute nicht mehr viel Status zu. Wenn die Leute heute einen Pfarrer auf der Straße sehen, verbeugen sie sich nicht mehr vor ihm, sondern drängen sich rasch vorbei; es ist ihnen egal. Solche Ehrerbietung ist uns im Westen fremd geworden und das finde ich positiv. Warum? Weil es eine größere Intimität zwischen Lehrenden und Lernenden schafft. Schülerinnen und Schüler können davon ausgehen, dass auch sie eines Tages dorthin gehen können, wo ihre Lehrerinnen und Lehrer jetzt sind, wenn die ihnen helfen, noch einige Hürden auf dem Weg zu überwinden. Diese eher egalitäre, demokratische und freundschaftliche Zusammenarbeit finde ich gut, solange wir klar wissen: Wir sind hier kein Freundeskreis und kein sozialer Verein, sondern wir kommen zusammen, um Weisheit und Mitgefühl zu entwickeln.
Gibt es kulturelle Barrieren, die es schwierig machen, den Buddhismus im Westen weiterzugeben?
Wir können die Tradition nicht einfach so weitergeben wie in den Jahrhunderten davor, sondern stehen heute vor der Herausforderung, die Frage zu beantworten: Wie können buddhistische Ideen und Praktiken zu mehr Gleichheit, mehr Verbundenheit und Freiheit für die Menschen auf dem Dharma-Pfad führen? Zum Beispiel haben viele westlich-buddhistische Frauen heute eine klare feministische Haltung. Sie sind das viele mansplaining leid – Männer, die vorne sitzen und die Welt erklären.
Leider sind Projektionen, wenn wir sie erst einmal auf mächtige Menschen gerichtet haben, seien es Könige, Firmenchefs oder eben Lamas, schwer wieder aufzulösen. Das britische Königshaus ist unendlich reich, dennoch bezahlt der Staat es immer weiter. Die Ungerechtigkeit des Systems liegt direkt vor unserer Nase, doch die meisten sind blind dafür. Genauso nutzen viele Lamas ihre Macht, um eine Menge Geld zu verdienen, Frauen auszubeuten und riesige Paläste oder Klöster zu errichten. Die Frage, ob Paläste oder Klöster wirklich der beste Weg sind, um den fühlenden Wesen zu helfen, stellen sie nicht. Sie tun das für ihr eigenes Identitätsgefühl.
Wir müssen also auch schwierige Fragen an die Tradition stellen und unsere Projektionen auflösen. Welche Illusionen sind bei westlichen Schülerinnen und Schülern besonders häufig?
Die Illusion, unsterblich zu sein. Natürlich wissen sie auf einer konzeptionellen Ebene, dass sie sterben müssen, aber sie tun so, als müssten sie es nicht. Auf diese Weise wird der Tod zu etwas Theoretischem. Schließlich sind die meisten von uns jetzt halbwegs gesund, und wenn nicht, gibt es medizinische Hilfe. 70 ist das neue 60, wir streben nach einem für immer erfüllten Leben, und die Medizin sagt uns auch voraus, dass wir länger gesund sein werden als Menschen in früheren Jahrzehnten. Alles das führt zu einem Ewigkeitsdenken, einer Ewigkeitskultur. Doch die Dharmalehren fordern uns auf, uns unserer Sterblichkeit täglich bewusst zu sein und uns gründlich auf den Tod vorzubereiten. Wie wichtig das ist, wird den meisten Menschen nicht bewusst, bis sie sehr alt sind.
Eine andere häufige Illusion westlicher Schülerinnen und Schüler besteht darin, sie hätten zu allem Wissen leicht Zugang – über das Internet, über Bücher –, könnten damit ihren eigenen Weg finden und bräuchten keine Lehrerin, keinen Lehrer. Sie sagen sich: „Ich bin erwachsen und habe es satt, dass andere mir Vorschriften machen.“
Wenn wir das mit der anderen Illusion, dem Ewigkeitsglauben, zusammen betrachten, sehen wir, wie wichtig eine kreative Angst vor dem Sterben und dem Tod ist. Denn die sechs Reiche von Samsara sind ziemlich beängstigend. Ich werde wiedergeboren, aber ich weiß nicht wo. Für eine gute Wiedergeburt, in der ich weiterhin den Dharma praktizieren kann, brauche ich Hilfe; ich brauche einen klaren Weg, eine Lehrerin, einen Lehrer, die mir helfen. Diese Art von Demut kennen viele Menschen nicht. Sie setzen ein falsches Vertrauen in ihre vermeintlichen Fähigkeiten, ihren eigenen Weg zu finden. Was sie tun, sieht aus wie Freiheit, Freude, Selbstvertrauen – aber tatsächlich maskiert und verdrängt es eine grundlegende Existenzangst vor gravierenden offenen Fragen: Wer bin ich? Wie soll ich leben? Was ist Liebe?
Das Thema Wiedergeburt hat in mir, wie wohl bei vielen westlichen Menschen, schon immer Zweifel geweckt. Doch wenn ich das jetzt höre, verstehe ich, dass uns im Westen ein langfristiges Denken fehlt. Vielleicht sollten wir zumindest so tun, als würden wir wiedergeboren. Oder wir sollten daran denken, dass unsere Kinder nach uns weiterleben werden. Wie sehen Sie das: Ist der Glaube an ein nächstes Leben eine Voraussetzung, um Buddhistin oder Buddhist zu werden?
Der Glaube an die Wiedergeburt ist nicht notwendig, wenn du die Dharmalehren lediglich nutzen möchtest, um ein besserer Mensch zu werden. Dann entwickelst du mehr Geduld und Sorgfalt, wirst reflektierter und anderen gegenüber mitfühlender. Aber wenn du zum Geist selbst erwachen willst, so wie er ist – nicht der vergängliche Inhalt des Geistes, sondern der Geist, der sich nie verändert, unendlich ist, ohne Anfang und ohne Ende, ungeboren – dann kannst du das nicht, wenn du gleichzeitig die Idee hast: „Wenn ich sterbe, stirbt auch mein Geist und das war’s.“ Wenn du die Vorstellung eines endlichen Geistes hast, dessen Dauer sich auf dieses eine Leben beschränkt, dann werden die nichtdualen Traditionen des Mahamudra und Dzogchen für dich undurchdringlich bleiben.
Wie können wir unsere Illusionen überwinden?
Du musst zumindest ansatzweise Klarheit darüber gewinnen, dass alles, was du erlebst, keine voneinander getrennten Dinge und Vorgänge sind. Es gibt keinen realen Beobachter, der reale Dinge beobachtet, sondern komplexe Erfahrungsmuster, die subjekthaft und objekthaft erscheinen können.
Wenn ich der Meinung bin, ich sei mein Ich, mein Selbstgefühl, mein Ego-Konstrukt – dann ist das nicht von Dauer. Es wird mit Sicherheit mit meinem Tod enden. Das Ego-Muster endet mit dem Tod, doch dann formt sich und entsteht ein neues Muster. Ich kann mich also entspannen, denn ich werde in der Hand des Buddha gehalten. Ich muss mich nicht zusammenreißen, denn die Leere wird mich nicht fallen lassen, sondern stützen. Aber wir müssen darauf vertrauen.
In den 1940er-Jahren entstand der Walt-Disney-Film „Dumbo, der fliegende Elefant“. Dumbo führt als Lachnummer in einem Zirkus ein trauriges Leben. Er möchte gerne fliegen, weiß aber nicht, wie er das anstellen soll. Er versucht, kräftig mit den Ohren zu wedeln, doch er stürzt ständig ab. Schließlich schenken ihm seine Freunde eine „Zauberfeder“ und damit entspannt er sich plötzlich – seine Ohren flattern schneller und er fliegt.
Wenn du deine Angst loslässt, kannst du die Qualitäten und Potenziale verwirklichen, die schon vorher in dir waren. Manchmal haben Kinder große Angst vor Wasser und finden es schwierig, schwimmen zu lernen. Man muss sie unterstützen, bis sie sich mit dem Wasser angefreundet haben, dann entspannen sie sich. Wenn ich gegen das Wasser ankämpfe und mit den Armen um mich schlage, werde ich immer ängstlicher und erschöpfter werden. Aber ich kann lernen, mit dem Wasser zusammenzuarbeiten. Dann mache ich die Erfahrung: Wenn ich freundlich zum Wasser bin, ist das Wasser freundlich zu mir.
Genauso ist es mit der Leerheit: Wenn du die Leere fürchtest und bekämpfst, weil du sie als Vernichtung und Auslöschung ansiehst, bekommst du immer mehr Angst. Du ziehst dich zusammen und verfestigst dich, anstatt dich in die Offenheit hinein zu entspannen. Wenn du lernst, dich in die Leere hinein zu entspannen, beginnst du zu fühlen, dass die Leere dich tragen wird.
Im zweiten Teil des Interviews, der in der kommenden Ausgabe erscheinen wird, vertieft James Low seine Betrachtungen über das Bewusstsein.
James Low
hat in Indien viele Jahre tibetische Sprache, Literatur und Geschichte gelehrt. Er erhielt Belehrungen von vielen hohen Lehrern, unter anderen von Dudjom Rinpoche, ist langjähriger Schüler von Chhimed Rigdzin Rinpoche und hat bedeutende tibetische Schriften übersetzt. Den Anweisungen seines Lehrers folgend, begann er 1980 den Dharma in Europa zu lehren und arbeitete gleichzeitig als Psychotherapeut und Supervisor. Seine Dharmaschülerinnen und -schüler schätzen ihn für seine tiefe Einsicht in die Dzogchen-Lehren, seine überzeugende Präsenz, sein Verständnis der menschlichen Psyche und seinen ansteckenden Humor. James Low lebt heute in London, widmet sich seit seinem Ruhestand noch intensiver der Übersetzer- und Lehrertätigkeit und nutzt dazu auch moderne Medien wie Zoom und YouTube.
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