Leben in einer gefährdeten und kostbaren Welt

Ein Beitrag von Gabriela Frey, Fotos: Olivier Adam veröffentlicht in der Ausgabe 2024/1 Zeit unter der Rubrik Frauen im Buddhismus.

Die Welt steht vor immensen Herausforderungen. Eskapismus und Verzagtheit helfen nicht, unterstreicht Gabriela Frey. Sie engagiert sich in internationalen buddhistischen Frauennetzwerken und erläutert im Rückblick auf die große Sakyadhita-Konferenz in Südkorea 2023, warum ein solidarisches, engagiertes und bewusstes Leben lohnt.

Sakyadhita Conference 2023 Seoul

Die täglichen Nachrichten machen es offensichtlich: Wir leben in einer prekären, gefährdeten Welt. Umweltschäden, Kriege, Extremismus, Terrorismus, Pandemien, Armut und häusliche Gewalt breiten sich aus. Nicht wenige Menschen versuchen, vor der bedrückenden Realität zu flüchten, indem sie sich in zu viel Arbeit stürzen oder im Überkonsum verlieren, Mitmenschen diskriminieren, aggressiv oder depressiv werden, zu viel trinken oder sich mit Drogen betäuben.

Doch wie lässt sich den aktuellen Herausforderungen mit einem klareren Kopf begegnen, mit offenem Herzen und mehr Gleichmut? Diese Frage stellten sich rund dreitausend ordinierte und nicht ordinierte buddhistische Frauen auf dem jüngsten Kongress der buddhistischen Frauenorganisation Sakyadhita International. Alle zwei Jahre lädt sie zu einem internationalen Treffen ein. 2023 fand es im südkoreanischen Seoul statt; auch einige Männer waren unter den Teilnehmenden.

Dem Titel der Konferenz „Leben in einer prekären Welt“ folgte die ermutigende Unterzeile „Vergänglichkeit, Resilienz, Erwachen“: damit sich der eigene Blick weiten konnte für konstruktive Lösungen, die helfen, aus Gewohnheiten auszubrechen und solidarische neue Wege zu gehen. Nicht ins Deutsche übertragen lässt sich das kluge Wortspiel des Konferenzmottos im Englischen: „Living in a prec(ar)ious World“ – nur zwei Buchstaben trennen precarious (prekär, gefährdet) von precious (kostbar, wertvoll).

Gefährdet wird kostbar

Die vielen Konferenzbeiträge mutiger und engagierter Frauen zeigten eindrücklich, wie sich die Verwandlung von prekär in kostbar unter den verschiedensten Lebensumständen bewerkstelligen lässt. Für die Zeit des Buddha hat die Autorin Vanessa R. Sasson das in ihrem Buch „The Gathering – A Story of the First Buddhist Women“ untersucht, das auf dem Kongress vorgestellt wurde. Nach jahrelangen Recherchen hat die Religionswissenschaftlerin die Erfahrungen der ersten buddhistischen Frauen in ein eindrucksvolles Erzählformat gefasst. Inspiriert durch die Therigatha, Gesänge erwachter Frauen, beschreibt sie, wie herausfordernd es für Frauen in der frühen Zeit des Buddhismus war, einen selbstbestimmten und spirituellen Weg zu gehen. Gefangen in patriarchalen gesellschaftlichen Strukturen brauchten sie eine unglaublich starke Entschlusskraft, um auszubrechen und Wege aus dem Leid der aufgezwungenen Unmündigkeit zu finden. Nur mit großem Mut – mitunter dem der Verzweiflung – und vor allem dank einer weiblichen Solidarität über alle Kastengrenzen hinweg haben diese Frauen es geschafft, gegen massive Widerstände in die Sangha des Buddha aufgenommen zu werden. Aber auch als ordinierte Nonnen blieb ihre Lage schwierig.

Gelongma Pema Deki

Ein anderes wichtiges Thema, das die Gleichberechtigung von Frauen in der buddhistischen Welt betrifft, brachte Tashi Zangmo, Präsidentin der Bhutan Nuns Foundation, mit auf die Konferenz. Schon ihr persönliches Leben zeugt von der großen Entschlusskraft, die buddhistische Frauen in vielen Ländern der Welt noch immer brauchen, um ihren Weg zu gehen: Tashi Zangmo wurde 1963 in einem bhutanischen Dorf geboren und konnte als erstes Mädchen ihrer Familie eine Schule besuchen. Auf verschlungenen Wegen, mit einer Zwischenstation als Sekretärin, kam sie später nach Indien und in die USA, studierte Buddhologie und Development Studies, ein Fachgebiet, das sich mit den Ursachen und Auswirkungen von internationalen Entwicklungs- und Globalisierungsprozessen befasst, und promovierte. Auf der Konferenz berichtete sie, wie es durch Beharrlichkeit, Solidarität und mit der Unterstützung der Königin und des Königs von Bhutan gelungen ist, im Land trotz massiver Gegenkräfte endlich die volle Ordination von Frauen in der tibetischen Mulasarvastivada-Tradition wieder einzuführen. Wer mehr erfahren möchte, kann sich mit dem Buch „Befreit“ von Gelongma Pema Deki, vormals Emma Slade (unter diesem Namen ist das Buch zu finden, die Red.), befassen. Sie war eine der 143 Frauen, die im Juni 2022 in Bhutan ordiniert werden konnten, und beschreibt ihren Weg vom Leben einer Bankerin zur Nonne und Gründerin der preisgekrönten Hilfsorganisation „Opening your Heart to Bhutan“, über deren Arbeit auch auf der Webseite openingyourhearttobhutan.com viel zu erfahren ist.

Häusliche Gewalt eindämmen

Weil die Gewalt gegen Frauen weltweit alarmierende Ausmaße angenommen hat, haben die Australierinnen Diana Cousens und Anna Halafoff eine Kampagne zur Vermeidung von Gewalt in der Familie und gegen Frauen in buddhistischen Gemeinschaften mit auf den Weg gebracht und stellten sie auf der Konferenz vor. Erstere ist stellvertretende Vorsitzende des Buddhistischen Rats des australischen Bundesstaats Victoria und Ehrenmitglied der Australian Catholic University, Letztere Soziologieprofessorin an der renommierten Deakin University in Melbourne und ebenfalls Buddhistin. Die Antigewalt-Kampagne wurde zunächst von der australischen Regierung finanziert und bezog alle Religionsgruppen ein. Der buddhistische Rat von Victoria hat das Thema zusätzlich für Buddhistinnen und Buddhisten aufbereitet und vertieft.

Häusliche Gewalt ist weltweit ein großes Problem, unterstrichen die beiden Referentinnen. Nicht nur physische und sexualisierte Gewalt gehören dazu, sondern auch finanzieller und emotionaler Missbrauch. Obwohl viele Länder ihre Gesetzgebung modernisiert und Behörden Maßnahmenpakete auf den Weg gebracht haben, nehmen die Opferzahlen Jahr für Jahr zu. Neben den direkten Opfern der Gewalt ist oft auch deren unmittelbares Umfeld betroffen, vor allem Kinder.

Leider gibt es häusliche Gewalt auch unter Mitgliedern religiöser Gemeinschaften. In einer breit angelegten Umfrage zeigte sich vor einigen Jahren sogar eine große Bevölkerungsmehrheit davon überzeugt, dass religiöse Überzeugungen eine mögliche zusätzliche Ursache von Gewalt gegen Frauen darstellen: 60 Prozent der Befragten in Europa, in Deutschland sogar 70 Prozent, bejahten das (tinyurl.com/Religion-Gewalt-gg-Frauen).

Politische und rechtliche Rahmenbedingungen allein reichen offensichtlich nicht aus. Menschen in schwierigen Lebenssituationen brauchen eine leichter zugängliche Hilfe. Das in Victoria auf den Weg gebrachte Pilotprojekt zur Gewaltprävention in Familien umfasst unter anderem ein Handbuch für Verantwortliche in religiösen Gemeinschaften zum Umgang mit häuslicher Gewalt. Ein weiteres befasst sich mit dem Thema, wie man gute Familienbeziehungen fördert. Eine ganze Reihe von Ressourcen sind eigens für Kinder entwickelt worden: etwa die 100-positive-Wörter-Postkarte „Umgang mit starken Emotionen“, ein Poster „Wie wird man ein guter Freund“ sowie Infografiken über den respektvollen Umgang mit anderen Menschen und den Umgang mit der eigenen Wut. Teils sind die Materialien in mehrere asiatische Sprachen übersetzt worden.

Sakyadhita Conference 2023 Seoul

Es sind vor allem unbewusste Ängste und ein Mangel an Kommunikationsfähigkeit, die zu unkontrollierten Emotionsausbrüchen und aggressivem Fehlverhalten führen, erklärten die Referentinnen. Aus buddhistischer Sicht, so unterstrichen sie, fürchteten sich viele Menschen vor dem unsicheren Boden des Wandels und der Vergänglichkeit. Das ist beispielsweise der Fall, wenn Männer nicht akzeptieren können, dass ihre Partnerin neue Berufswünsche entwickelt, neue Freundschaften knüpft oder sich gar trennen möchte, und zu Gewalt greifen, um das zu unterbinden. Darum sei es für alle Menschen wichtig, die Realität der Vergänglichkeit zu erkennen, anzunehmen und schließlich zu lernen, darin keine Bedrohung mehr zu sehen

Solidarisch, resilient und bewusst

Abschließend noch einige persönliche Worte: Allen, die in dieser Welt mit ihren riesigen Problemen und dem großen Leid verzagen, möchte ich empfehlen, einmal an einem Sakyadhita-Kongress teilzunehmen. Mir selbst wurde in Seoul wieder deutlich, wie eng Vergänglichkeit, Resilienz und Erwachen zusammenhängen. Die buddhistische Perspektive lehrt uns die Vergänglichkeit und die wechselseitige Verbundenheit. Unser menschliches Dasein und unsere Umwelt sind kostbar und es ist in unserem gegenseitigen Interesse, uns jeden Tag bewusst und mit liebevollem Herzen für andere zu engagieren. Wenn wir uns Schritt für Schritt gemeinsam um eine solche Lebensweise bemühen, macht uns das solidarischer gegenüber allen Menschen, ganz gleich welchen Geschlechts, denn wir müssen uns aus unseren gedanklichen Gender-Gefängnissen befreien. Das macht uns resilienter gegenüber Widrigkeiten, führt zu einem umfassenden Gewahrsein und schließlich zum Erwachen.

Sakyadhita Conference 2023 Seoul, vlnr: Thea Mohr, Gabriela Frey, Jetsunma Tenzin Palmo

Weitere Informationen

sakyadhitafrance.org
sakyadhita-germany.org
europeanbuddhistunion.org/network-buddhist-women-in-europe

Fotos

Olivier Adam, Web: www.olivieradam.net

Gabriela Frey

Gabriela Frey, Delegierte von Sakya Kalden Ling in der DBU, Delegierte und Gründerin von Sakyadhita France in der EBU, Repräsentantin der EBU im Europarat und bei der EU. Seit 1989 parlamentarische Assistentin deutscher Abgeordneter im Europäischen Parlament in Straßburg.

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