Editorial der Ausgabe 2024/1

Ein Beitrag von Susanne Billig veröffentlicht in der Ausgabe 2024/1 Zeit unter der Rubrik Editorial.

Liebe Leserinnen und Leser,

als Kind bin ich katholisch aufgewachsen, mitten in der christlich geprägten Kultur. Eine Sage aus dem Siebengebirge hat mich als kleines Mädchen erschauern lassen und tut es, offen gestanden, noch heute. Mein Vater hat sie uns Kindern erzählt, in unseren familiären „Dämmerstündchen“, wie wir sie nannten, wenn wir manchmal abends das Licht einfach nicht anmachten, sondern Mond und Sterne in die Küche scheinen ließen und miteinander über den Kosmos, Gott und das Unbegreifliche sprachen.

Ein Mönch wandelte im Garten des Klosters Heisterbach und grübelte über die Petrusworte nach: „Dieses eine aber, ihr Lieben, sollt ihr nicht übersehen: Ein Tag ist in den Augen Gottes wie tausend Jahre und tausend Jahre sind wie ein Tag.“
Da hörte er einen ihm unbekannten Vogel singen. Überrascht folgte er dessen Stimme, verließ den Garten, ging tief in den Wald und vergaß darüber Raum und Zeit. Schließlich schlief er müde auf einem Baumstumpf ein. Als er wieder aufwachte, machte er sich schnell auf den Weg zurück ins Kloster.
Gegen Abend trat er dort ein, um mit den anderen Mönchen das Abendgebet zu sprechen. Doch an der Tür erstarrte er. Kein einziges Gesicht war ihm vertraut. Er nannte den Mönchen den Namen des Kölner Erzbischofs.
Sie erschraken, schwiegen lange, bis der Abt schließlich sagte: „Seitdem sind dreihundert Jahre vergangen.“ Einem der Mönche fiel ein, dass er in alten Klosterschriften von einem Bruder gelesen hatte, der damals spurlos im Wald verschwunden war. Plötzlich verstand der Mönch. Vor Gott sind tausend Jahre wie ein Tag. Er lächelte, alterte in wenigen Minuten, sank zu Boden und starb.

Wir erleben die Zeit als Paradox. Auf der einen Seite kennen auch Buddhistinnen und Buddhisten Termindruck, übervolle Kalender, nicht verschiebbare Verpflichtungen. Sie kennen die Sehnsucht danach, in den Lauf der Zeit einzugreifen, Leiden zu beenden. Gelegenheiten sind auch für sie unwiederbringlich verstrichen, Menschen für immer gegangen. Und natürlich hat der Zeitstrahl auch angenehme Seiten: Jetzt beginnt die gemeinsame Meditation und alle sind pünktlich versammelt. Gleich hält die geschätzte Dharmalehrerin einen Vortrag und genauso kommt es auch. Fünfzehn Minuten soll das Gemüse dämpfen und, ja, auch heute ist es zuverlässig gar. Die Zeit fließt gut getaktet von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft.

Und dann wieder löst sich alle Zeit auf. Auf dem Meditationskissen, wenn der Geist die Grenzen des konventionellen Denkens und Fühlens überschreitet. Oder wenn Erinnerungen und gegenwärtiger Augenblick sich so miteinander mischen, dass eine seltsam neue Erfahrung entsteht. Oder in tiefer Versunkenheit, dem berühmten Flow. Auch Schlaf und Traum tragen uns regelmäßig in solche Zwischenwelten. In einem einzigen Bild sind wir Kind und erwachsen zugleich und wundern uns darüber nicht.

Alle Schwerpunktbeiträge dieser neuen Ausgabe von BUDDHISMUS aktuell umkreisen in der einen oder anderen Weise die paradoxale Natur der Zeit. Es geht um Muße und Gegenwärtigkeit, die Zeit der Uhren und des Erlebens und um dharmische Verbindungen quer durch Raum und Zeit. Fast nahtlos passen dazu die Beiträge, die dem Schwerpunkt nicht angehören, aber, das ist die Ganzheitlichkeit des Buddhismus, doch wie ein Prisma weitere Aspekte aufleuchten lassen: Einheitserfahrungen in der Meditation. Die Parallelen zwischen dem Gärtnern mit seinem Warten auf den rechten Augenblick und der meditativen Versenkung. Eine buddhistische Nonne, deren Entschlossenheit auch nach fünfzig Jahren noch genau so frisch ist wie zu Beginn. Ein Shin-Buddhist, der es aufgegeben hat, etwas erreichen zu wollen, und nun im Nicht-Weg seinen Weg findet.

Gönnen Sie sich ein winterliches Dämmerstündchen, widmen Sie sich dem Unbegreiflichen, kommen sie gut ins neue Jahr und seien Sie herzlich gegrüßt von dem Redaktionsteam und Ihrer

Susanne Billig,
Chefredakteurin

Susanne Billig

Susanne Billig ist Biologin, Buchautorin, Rundfunkjournalistin (Wissenschaft, Gesellschaft) und Sachbuchkritikerin. Sie ist seit 1988 in Praxis und Theorie mit Buddhismus und interreligiösem Dialog befasst, Kuratoriumsmitglied der Buddhistischen Akademie Berlin-Brandenburg und Chefredakteurin von BUDDHISMUS aktuell.

Alle Beiträge Susanne Billig