Die Muße ist ein Tor zur Gegenwärtigkeit

Ein Beitrag von Leon Kirschgens veröffentlicht in der Ausgabe 2024/1 Zeit unter der Rubrik Schwerpunkt Zeit.

In dem hektischen, auf Effektivität ausgerichteten Leben dieser Zeit will jeder Moment genutzt sein. Trotzdem tun sich auch darin immer wieder Lücken auf, kleine Momente der Muße. Aus buddhistischer Sicht sind sie eine Chance, schreibt Leon Kirschgens in seinem Essay.

Meine erste bewusste Begegnung mit der Muße muss ich mit etwa zehn Jahren gehabt haben, als ich in der Grundschule eine meiner ersten Deutscharbeiten schrieb. Ich erinnere mich noch genau: Ich saß vorn rechts im Klassenraum, meine Lehrerin verteilte liniertes Papier. Angespannt blickte ich auf die Blätter, die sie mir reichte, schon damals erfasst von Pflichtgefühl und Leistungsdruck.

Doch als ich die Aufgabenstellung las, passierte etwas in mir. Dort muss so etwas gestanden haben wie: „Schreibe eine Geschichte und lasse deiner Fantasie freien Lauf.“ Das war alles – und ich war so viel Freiheit und Freiraum nicht gewohnt. Ohne Vorgabe zu schreiben, ohne richtig und falsch. In diesem Moment tat sich in meinem Geist ein Weite auf. Ich schwebte in meine Fantasiewelt, die Zeit dehnte sich und gleichzeitig nahm ich sie als bewusst und konzentriert wahr: Ich schrieb, wie es mir schien, in einem zeitlosen Raum, frei und leicht.

Diktat der Effektivität

Interessanterweise ereignete sich dieser Moment der Weite nicht im Müßiggang – immerhin schrieb ich eine Deutscharbeit. Dennoch erlebte ich die Grundschulstunde nicht als Arbeit, nicht als ausgerichtet auf Effektivität und Zweckdienlichkeit. Heute würde ich sagen: Ich erlebte echte Muße.

Solche Augenblicke der Muße, in denen der Takt der Zeit keine Rolle mehr spielt, sind leider selten für mich geworden und auch nicht mehr so positiv besetzt wie in meiner Kindheit. Vor allem in der Schule habe ich mit den Jahren verinnerlicht: Wer müßig ist, ist auch faul. Wer nichts tut, ist ein Nichtsnutz.

Angesehener ist es, etwas zu erreichen. Selbst unsere Freizeit müssen wir gestalten. Je knapper die freie Zeit, desto mehr will sie genutzt sein. Effektivität scheint das verinnerlichte Ideal, das uns treibt. Momente der Offenheit erscheinen dann wie vergeudete Zeit und lassen sich, sollten sie sich überhaupt einstellen, nur schwer aushalten. Gähnende Leere. Der Bauch verkrampft. Früher erlebte ich spätsommerliche Sonntagnachmittage so und wusste mit der vielen Zeit einfach nichts anzufangen. Langeweile stellte sich ein, Rastlosigkeit. Heute geht es mir manchmal nach Stunden am Schreibtisch so. Dann schleiche ins Wohnzimmer und frage meine Mitbewohnerin, ob sie nicht eine Idee habe, was ich mit dem Rest des Tages anfangen könne.

Müßiggang als subtile Form der Zerstreuung

Aus buddhistischer Sicht ist die Muße eine Chance: Ja, manchmal kündigt sie sich zunächst mit einer gähnenden Leere an – und dann ist da für einen Sekundenbruchteil Raumhaftigkeit. Wer wachsam bleibt, kann in solchen Momenten der Öffnung des Geistes in Gegenwärtigkeit verweilen. In der Meditation, aber auch im Alltag lässt sich genau beobachten, an welcher Stelle sich die Weggabelungen auftun: Verpassen wir den Augenblick der Öffnung, weil wir uns der Schläfrigkeit oder dem Eifer, unseren Gedankenketten oder dem inneren Effektivitätsdiktat hingeben, landen wir entweder in Langeweile oder Rastlosigkeit. Doch glücklicherweise begegnen uns Momente der Muße eigentlich immer wieder. Wenn wir flanieren. Uns mal treiben lassen. Wenn wir etwas erledigt und die nächste Aufgabe noch nicht in die Hand genommen haben …

In diese Lücken hineinzuspüren, kann die Tür zu einer neuen Lebendigkeit öffnen. Sie stellt sich mit dem Gewahrsein der Gegenwärtigkeit ein. Doch der Moment der Muße darf nicht in Müßiggang versinken, denn der ist etwas ganz anderes als offene Weite, nämlich eine subtile Form der Zerstreuung. Genau betrachtet ist Nichtstun eben doch häufig mit Tun verbunden: Füße hochlegen, in Erinnerungen schwelgen, spazieren gehen, Vögel beobachten. Die meiste Zeit hängen wir dabei unseren Gedanken nach. Das Begehrenswerte dieses vermeintlichen Nichtstuns ist der sanft-süße Genuss von Selbstgenügsamkeit. Ein Funken Erhabenheit schwingt in ihm mit; vielleicht sogar Stolz über die errungene Leichtigkeit. Die Philosophin Isabell Lorey hat es so ausgedrückt:

Der Müßiggang ist der missratene Sohn der Muße, der all ihre Tugenden (Kontemplation und Ideenschau) über Bord wirft, indem er sich vergnügt und berauscht oder aber verstört und traurig umherschweift.

Damit mich niemand falsch versteht: Es ist sehr schön, einfach mal den Gedanken nachzuhängen und die Sanftheit des inneren Umherschweifens zu genießen. Unser Denken folgt dann keiner Absicht, Gedanken sind Selbstzweck, ohne Selbstvorwürfe.

Müßiggang ist aber auch ein Stagnieren – man macht es sich bequem. Es gibt darin kein Fortkommen aus selbstbezogenen Gedankenschleifen. Wer tatsächlich nichts tut, würde auch dem leisen Begehren nach dieser Selbstgenügsamkeit nicht mehr folgen.

Leon in der Welt der Fantasie

Nuanciertes Verhältnis zur Verlangsamung

Der Buddhismus hat ein nuanciertes Verhältnis zur Verlangsamung und inspiriert dazu, den Geist in einem echten Nichtstun verweilen zu lassen und sich furchtlos der Raumhaftigkeit hinzugeben. Was wir dann erleben können, ist eine zuvor ungeahnte Kreativität. Wenn wir in diesem Sinne in Muße sind, können wir eine zuvor ungeahnte Lebendigkeit und Leichtigkeit erfahren. Der Geist entfaltet sein Potenzial spielerisch, absichtslos, frei – solange wir nicht der Versuchung erliegen, ein Ergebnis konservieren zu wollen.

Die Herausforderung liegt darin, die aufrichtige Motivation aufrechtzuerhalten, gegenwärtig zu bleiben und nicht in den Müßiggang zu gleiten. Ich persönlich finde das schwieriger als mit starken Emotionen umzugehen. Die sind leicht auszumachen. Aber wer lehnt schon eine Einladung zu einem seligen gedanklichen Flanieren ab?

Als Grundschulkind bin ich der Muße zum ersten Mal bewusst begegnet – von der Chance, die dieser Erfahrung innewohnt, hatte ich noch keine Ahnung. Und was ich damals

geschrieben habe, ich weiß es nicht mehr. Auch die Note ist mir nicht in Erinnerung. Wichtiger als das Ergebnis war am Ende etwas ganz anderes: der Moment der Weite und dass ich seiner gewahr war

Leon Kirschgens

hat Sozialwissenschaften und Entwicklungszusammenarbeit in Köln und Maastricht studiert. Parallel dazu hat er die Kölner Journalistenschule besucht und arbeitet seitdem als freiberuflicher Journalist in Aachen. Dort praktiziert er mit anderen jungen Menschen im Zentrum für tibetischen Buddhismus.

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