Wie sexuelles Fehlverhalten spirituelle Gemeinschaften erschüttert: Lektionen für Buddhistinnen und Buddhisten
Die Autorinnen dieses Essays sind Gründungsmitglieder von An Olive Branch Associates LLC, einem (US-amerikanischen, red.) Beratungsunternehmen, das mit Organisationen zusammenarbeitet, um sexuellem Fehlverhalten vorzubeugen oder, wenn bereits geschehen, dagegen anzugehen.
Wenn einem vertrauten spirituellen Führer sexuelles Fehlverhalten vorgeworfen wird, kommt es häufig zu einer Spaltung des Sangha. Nachdem Sangha-Mitglieder Jahre ihres Lebens mit ihrem Lehrer praktiziert und sich ihm gewidmet haben, können Anschuldigungen wegen Fehlverhaltens die Grundfesten ihr Bekenntnis zum Weg erschüttern. Eine Gruppe von Anhängern, die Loyalisten, findet es unmöglich zu glauben, dass ihr Lehrer sich eines Fehlverhaltens schuldig gemacht haben könnte. Ihre instinkthafte Reaktion besteht darin, die Anschuldigungen zu leugnen oder sie als unwahr abzutun. Möglicherweise verunglimpfen sie sogar die Personen, die die Anschuldigungen erheben, um den Ruf ihres Lehrers zu schützen. Eine zweite Gruppe, die Verbündeten, stellt sich schnell auf die Seite der Ankläger, da sie nur zu gut wissen, dass die Möglichkeit des Missbrauchs in religiösen Organisationen – und buddhistische Organisationen sind da keine Ausnahme – zu einer bedauerlichen Realität geworden ist. Diese Gruppe nimmt die Behauptungen derjenigen, die Missbrauchsvorwürfe erheben, unhinterfragt für bare Münze und versucht, sie zu schützen und ihr Leid zu lindern. Noch eine andere Gruppe, nennen wir sie die Agnostiker, nimmt eine abwartende Haltung ein, vielleicht in der Hoffnung, dass die Anschuldigungen das Ergebnis eines großen Missverständnisses sind und dass alles wieder zur Normalität zurückkehren kann, sobald die Wahrheit bekannt ist. Leider ist dieses Ergebnis unwahrscheinlich, es sei denn, die Organisation geht die Ursachen des Problems an und unterzieht sich einem bewussten Heilungsprozess.
Was geschieht innerhalb der Organisation?
Indem wir buddhistischen und nicht-buddhistischen Klientinnen und Klienten bei der Bewältigung von Vorwürfen sexuellen Fehlverhaltens geholfen haben, haben wir bei An Olive Branch gelernt, dass sowohl Organisationen als auch Einzelpersonen durch Missbrauch negativ beeinflusst werden. Wie Abbildung 1 zeigt, können Sangha-Mitglieder als Reaktion auf Fehlverhalten eine Reihe von Emotionen erleben, und es ist nicht ungewöhnlich, dass Mitglieder zwischen verschiedenen Gefühlen hin und her schwanken. So können die Mitglieder zunächst schockiert und ungläubig sein, wenn sie von den Vorwürfen erfahren. Diese Gefühle können in Wut umschlagen, wenn sie erkennen, dass ihre Praxis und der Zugang zu ihrem geliebten Lehrer unterbrochen wurden. Andere empfinden vielleicht Wut auf den Lehrer, weil er anderen Sangha-Mitgliedern Schaden zugefügt hat. Wenn mehr Informationen an die Oberfläche kommen, können dieselben Sangha-Mitglieder Schuldgefühle und/oder Reue empfinden, wenn sie erkennen, dass ihre eigenen Handlungen es unwissentlich ermöglicht haben, dass der Missbrauch stattfand oder unangefochten weiterging.
Sobald sich die Anhänger:innen in Fraktionen aufspalten, kommt es in der Regel zu Konflikten auf der Organisationsebene und der Sangha ist wie gelähmt. Loyalisten und Verbündete beschuldigen sich gegenseitig, unaufrichtig zu sein, und hören oft ganz auf zu kommunizieren. Loyalisten können wütend auf die Informanten sein, die die Anschuldigungen zuerst an die Öffentlichkeit gebracht haben, da sie sie als illoyal gegenüber ihrem Lehrer ansehen. Verbündete können den Loyalisten mangelndes Mitgefühl für die Geschädigten vorwerfen. In der Zwischenzeit könnten die Agnostiker lautstark nach Informationen verlangen. Und wenn Informationen über die Geschehnisse nicht weitreichend innerhalb der Sangha weitergegeben werden, ist Gerüchten und Halbwahrheiten Tür und Tor geöffnet.
Auch der Vorstand der Organisation kann zu einem Zeitpunkt lahmgelegt sein, zu dem seine Führung am dringendsten benötigt wird. Darüber hinaus kann es für den Vorstand besonders schwierig sein, zu handeln, wenn der beschuldigte Lehrer ein stimmberechtigtes Mitglied ist und nicht freiwillig zurückgetreten ist oder sich nicht von der Beteiligung an Entscheidungen zurückgezogen hat, die der Vorstand als Reaktion auf das vorgeworfene Fehlverhalten trifft. Ungeachtet dessen liegt es in der Verantwortung des Vorstands, den spirituellen Leiter von allen spirituellen, lehrenden und administrativen Aufgaben zu entbinden, bis eine Untersuchung durchgeführt worden ist.
Nur zu oft besteht die erste öffentliche Reaktion eines Sangha aus Untätigkeit, Leugnung oder dem Versuch, die Angelegenheit zu beschönigen. Es gibt viele Gründe dafür, dass Sanghas die Sache hinauszögern oder Anschuldigungen rundheraus leugnen. Die Mitglieder tun dies vielleicht aus Ehrfurcht vor den spirituellen Fähigkeiten des Lehrers oder aus Angst vor dessen Missbilligung, oder weil der Lehrer die Angelegenheiten der Organisation streng kontrolliert, oder weil die Mitglieder selbst über die richtige Vorgehensweise verwirrt sind. Diese Verwirrung ist verständlich, wenn der Sangha weder über klare ethische Grundsätze verfügt, die Verhaltensweisen ächten, die für Lehrer und Sangha-Mitglieder tabu sind, noch ein Beschwerdeverfahren für den Umgang mit Anschuldigungen etabliert hat. Selbst wenn es eine Ethikrichtlinie und ein Beschwerdeverfahren gibt, brauchen Sanghas oft die Unterstützung einer neutralen dritten Partei, um die Anschuldigungen und die daraus resultierenden Folgen zu klären.
Was ist sexuelles Fehlverhalten und wer ist dafür verantwortlich?
Sexuelles Fehlverhalten liegt vor, wenn eine Autoritätsperson eine schutzbedürftige Person ausnutzt, um sexuelle Gefälligkeiten zu erlangen. Das kann von Vergewaltigung oder Kindesmissbrauch über unerwünschte Berührungen bis hin zur Verwendung sexualisierter Sprache oder der Weitergabe von pornografischem Material reichen. Angesichts des hohen Status, den ein spiritueller Lehrer innerhalb einer Gemeinschaft innehat, ist sexuelles Fehlverhalten gleichzeitig auch ein Machtmissbrauch. In spirituellen Gemeinschaften, in denen die Treue zum Lehrer an erster Stelle steht (die Schüler:innen legen oft ein Gelübde ab, den Wünschen ihres Lehrers gewissenhaft zu folgen), kann ein:e Schüler:in dieses Gelübde dahingehend missverstehen, dass es auch sexuelle Handlungen mit dem Lehrer einschließt.1 Es gibt viele Gründe, warum Schüler:innen den Annäherungsversuchen ihres Lehrers nachgeben, zum Beispiel das geringe Selbstwertgefühl der Schüler:innen, die Verwechslung von spiritueller Intimität mit Sex, Anbetung und der Forderung des Lehrers nach absoluter Treuepflicht.
Das Wichtigste, woran man sich bei Beziehungen zwischen Lehrer:innen und Schüler:innen erinnern sollte, ist, dass die Lehrer:innen dafür verantwortlich sind, sichere Grenzen gegenüber den Schüler:innen zu wahren, und zwar ausdrücklich aufgrund des Machtgefälles zwischen ihnen. Ein geistlicher Leiter „hat die Macht und die Verantwortung, diese Grenzen zu wahren, um die seelsorgerische Beziehung zu erhalten. Sexuelles Fehlverhalten im Klerus ist gleichzeitig eine sexuelle Übertretung und ein Machtmissbrauch. Es ist ein Betrug an dem Vertrauen… im Verhältnis des Geistlichen zur Gemeinde.“2 Die Behauptung des Lehrers, die Anziehung sei „einvernehmlich“ gewesen, täuscht über die Machtdynamik hinweg, die der Beziehung zwischen Lehrern und Schüler:innen innewohnt. Selbst wenn ein:e Schüler:in bereit ist, „muss der Lehrer immer seine eigenen Wünsche und Absichten zurückstellen und das tun, was im besten Interesse des Schülers oder der Schülerin ist.“3
Organisationsbezogene Faktoren, die Fehlverhalten begünstigen
Warum sind religiöse Organisationen und insbesondere buddhistische Organisationen anfällig für Fehlverhalten von Lehrern? Ein Grund liegt in der buddhistischen Praxis, nach innen zu schauen, um uns mit unseren eigenen Verblendungen und egoistischen Verhaltensweisen zu konfrontieren.4 Diese Art der Selbsterforschung, besonders wenn sie in privaten Einzelgesprächen durchgeführt wird, kann sowohl Lehrer als auch Schüler offen und verletzlich machen. „Eine Beziehung zu einem spirituellen Lehrer oder einer spirituellen Lehrerin fühlt sich oft sowohl sehr intim als auch sehr sicher an. Diese Sicherheit und Intimität sind selbst extrem sexy und verlockend.“5 Wenn Lehrer sich an ihrer eigenen Macht berauschen oder Schüler:innen die Freude über ihr eigenes spirituelles Erwachen mit der Liebe zu ihrem Lehrer verwechseln, können Zuneigung und sexuelle Anziehung entstehen.
Ebenso erklärend sind einige organisatorische Merkmale, die Sanghas anfälliger für Fehlverhalten von Lehrern machen. Wenn ein Lehrer sowohl die spirituellen als auch die administrativen Angelegenheiten des Sangha beaufsichtigt, gibt es nur wenig oder gar keine Gegenmacht, um Missbrauch zu verhindern. Wenn die Kultur der Organisation eine eifrige und bedingungslose Hingabe an einen Lehrer und die strikte Einhaltung von Praktiken verlangt, die das Hinterfragen einschränken und die Äußerung von Zweifeln oder abweichenden Meinungen entmutigen, können die Schüler glauben, dass eine solche Loyalität der einzige Weg zur Erleuchtung ist, vor allem, wenn Andersdenkende oft öffentlich beschämt oder bestraft werden. In Verbindung mit der Forderung, dass die Teilnahme an der Gemeinschaft familiäre, berufliche oder freundschaftliche Bindungen ersetzen soll, kann eine solche Loyalität zu einem mitschuldigen inneren Kreis führen, dessen Mitglieder von dem Missbrauch wissen, aber daran arbeiten, ihn zu verheimlichen, um den Lehrer vor einer genaueren Untersuchung und einer breiteren Öffentlichkeit zu schützen – vermutlich, weil sie selbst von ihrer Mitschuld profitieren oder Repressalien oder Ächtung fürchten, falls sie ihre Meinung sagen. Einzeln betrachtet mögen diese Praktiken nicht problematisch erscheinen, aber in ihrer Gesamtheit können sie einen fruchtbaren Boden für Missbrauch bilden. Niemand sieht Sanghas gerne als sektenähnlich an, aber in Sanghas, in denen Missbrauch stattgefunden hat, stellen die Mitglieder sie im Nachhinein oft genau so dar.
Wer ist für das Wohlergehen der Organisation verantwortlich?
Während die Lehrerinnen und Lehrer für die Einhaltung ihrer eigenen Grenzen verantwortlich sind, trägt der Vorstand die treuhänderische Verantwortung für das Wohlergehen des Sangha. Zu dieser Verantwortung gehört es, sich mit den Konflikten und der Lähmung innerhalb der Organisation auseinanderzusetzen und zu entscheiden, wie heikle Fragen zu beantworten sind, wie zum Beispiel:
- Wie können wir feststellen, ob die Anschuldigungen wahr sind oder nicht?
- Welche Informationen sollten mit dem Sangha und der Öffentlichkeit geteilt werden?
- Wie kümmern wir uns um diejenigen, die sich beschweren?
- Sollte der Lehrer von seinen Pflichten entbunden werden, bis über seine Schuld oder Unschuld entschieden ist?
- Wie können wir damit beginnen, den Aufruhr zu beruhigen und Konflikte innerhalb der Sangha zu heilen?
In den neun Jahren, in denen An Olive Branch Associates spirituelle Gemeinschaften berät, die mit sexuellem Fehlverhalten konfrontiert sind, hat die Organisation Prozesse entwickelt, die ihnen helfen, diese turbulenten Zeiten zu bewältigen. Die Prozesse werden zwar an die besonderen Umstände jeder Organisation angepasst, aber zu den Merkmalen des Ansatzes gehören Transparenz, tiefes Zuhören, Fürsorge und Mitgefühl für alle Beteiligten. Die Gewährleistung einer unabhängigen Untersuchung der Vorwürfe und deren Veröffentlichung erhöht die Transparenz. Prozesse des tiefen Zuhörens fördern die Heilung in mehrfacher Hinsicht. Erstens bieten sie den Geschädigten einen sicheren, unabhängigen und unparteiischen Ort, an dem sie vertraulich und ohne Repressalien über ihre Erfahrungen berichten können – ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zu ihrer individuellen Genesung. Zweitens gewährleisten Hörkreise für den gesamten Sangha kollektives Wissen über die Reaktion der Organisation auf die Untersuchungsergebnisse und helfen, den Puls der Gemeinschaft zu fühlen. Drittens verarbeiten die Mitglieder in den Zuhörkreisen die widersprüchlichen Emotionen, die durch die Anschuldigungen aufgewühlt wurden, und bezeugen und normalisieren das Spektrum des Schmerzes, den der Sangha als Ganzes erlebt. Entscheidend für den Erfolg eines jeden Sangha-Treffens ist es, klare Grundregeln aufzustellen und einen übergreifenden Geist des Mitgefühls für sich selbst und andere während der Sangha-Treffen zu schaffen. Fürsorge und Unterstützung für den Vorstand, während er mit Entscheidungen über den zukünftigen Status des beleidigenden Lehrers und Änderungen in den Leitungsverfahren ringt, sind ebenfalls von größter Bedeutung für die Förderung der organisatorischen Heilung.
ANMERKUNGEN
1 Der Dalai Lama hat sich am 1. August 2017 ausdrücklich zu diesem Thema geäußert. Das, was er sagte, wurde so wiedergegeben: „Der Buddha ermutigte seine Anhängerinnen und Anhänger, die Lehren zu hinterfragen und zu prüfen. Daher ist es falsch zu denken, dass man alles tun muss, was ein Lehrer oder eine Lehrerin sagt, ohne zu prüfen, ob seine oder ihre Anweisungen mit dem Dharma übereinstimmen, insbesondere mit den Prinzipien des Nicht-Verletzens und des Mitgefühls. Wenn dies nicht der Fall ist, sollte sich der Schüler respektvoll weigern, sie zu befolgen.“
Aus: Was hat der Dalai Lama wirklich gesagt? 27. August 2017. howdidithappen.org/dalai-lama-sogyal-rinpoche-abuse-allegations
2 Grenz, Stanley J. & Roy D. Bell. 2001. Betrayal of Trust: Confronting and Preventing Clergy Sexual Misconduct. Grand Rapids, MI: Baker Books, S. 87.
3 Edelstein, Scott. 2011. Sex and the Spiritual Teacher. Boston: Wisdom Publications, S. 53.
4 Wie in Dogens Lehre „Daher solltest du den Schritt zurück machen und das Licht nach innen wenden“, in Fukanzazengi. Kazuaki Tanahashi (Hrsg.). 2000. Enlightenment Unfolds: Die wesentlichen Lehren des Zen-Meisters Dogen. Boston: Shambhala, S. 32.
5 Edelstein, S. 61.
Der Beitrag ist zuerst erschienen auf Buddhistdoor Global, 16. Dezember 2020:
www.buddhistdoor.net/features/how-sexual-misconduct-shatters-spiritual-communities-lessons-for-buddhists
Mehr Informationen:
An Olive Branch: www.an-olive-branch.org
Barbara Grey
Dr. Barbara Gray ist Gründungsmitglied von An Olive Branch, gehört dem Vorstandsteam an und ist Mediatorin für An Olive Branch. Sie ist emeritierte Professorin für Organisationssoziologie an der Pennsylvania State University und verfügt über 40 Jahre Erfahrung in der Erforschung von Konflikten, Verhandlungen und Zusammenarbeit sowie in der Intervention und im Schreiben darüber. Außerdem ist sie als Laienlehrerin des Soto-Zen betraut.
Weitere Gründungsmitglieder von An Olive Branch sind:
Dr. Katheryn D. Wiedman und Leslie Hospodar.