Wie eine Gebetsfahne: Mit den acht weltlichen Winden praktizieren

Ein Beitrag von Santacitta Bhikkhuni übersetzt von Sabrina Reiniger veröffentlicht in der Ausgabe 2022/2 Nahrung unter der Rubrik Nahrung.

Diese Winde sind in vier Paare aufgeteilt, weil nie einer alleine auftritt. Sie entstehen immer zusammen. Wir erhoffen uns Lob – wir fürchten uns vor Kritik. Wir wünschen uns Gewinn – wir fürchten Verlust. Wir möchten von allen gemocht werden – wir fürchten uns vor Kritik oder Nichtbeachtung. Wir möchten angenehme Erfahrungen machen – und unangenehme Erfahrungen vermeiden. Aber sobald wir Lob ernten oder Gewinn machen, wandelt sich dieser Wunsch leider in die Angst vor Verlust. Es gibt keinen wirklichen Ruhepol zwischen diesen Hochs und Tiefs. Diese vier Paare der Winde sind eine Metapher dafür, wie das Leben sich anfühlt, wenn wir uns auf alles mit den Konzepten von “ich” und “mein” beziehen. Selbst wenn wir die Dinge bekommen, die wir uns wünschen, sind wir immer noch in dem Kreislauf des Verlangens gefangen, da jegliche Befriedigung nur temporär sein kann. Die Frustration über diese ruhelose Suche war höchstwahrscheinlich genau das, was uns alle auf diesen spirituellen Weg gebracht hat.

Wenn ein Wind gerade sehr stark weht, wird er zu einem späteren Zeitpunkt nur ein schwaches Lüftchen sein – oder sich komplett legen. Wenn jetzt einer weht, wird später ein anderer wehen. Wenn wir selbst erkennen, dass das alles nur Wetterkapriolen sind, können wir uns dazu entschließen, kein großes Drama daraus zu machen. Egal ob es regnet oder schneit, heiß oder kalt ist, wir können uns entscheiden, wie wir uns anziehen, und ob wir rausgehen oder nicht; das Wetter aber können wir nicht ändern. Wenn wir praktizieren, um diese Winde loszuwerden, erwartet uns eine Enttäuschung. Aber wenn unsere Praxis mit der Zeit in die Tiefe geht, erleben wir womöglich immer öfter Momente, die nicht von diesen Winden dominiert werden, und wir entwickeln ein größeres Verständnis dafür, wie sie tatsächlich funktionieren. Wenn ein bestimmter Wind weht, wissen wir: „Das ist einer der Winde. Er bläst in diese Richtung, dann in jene.“ Diese Einsicht bringt den Wind jedoch nicht zum Verstummen. Wir lernen die Winde zwar richtig gut kennen, aber sie werden immer ein Teil unseres Lebens sein.

Das ist alles sehr individuell. Etwas, das mich sehr stark beeinflusst, wird von jemand anderem vielleicht gar nicht wahrgenommen. In einer Kultur werden wir für eine bestimmte Tat gelobt. In einer anderen Kultur werden für genau dasselbe getadelt. Die Macht der Konditionierung ist unglaublich stark. Selbst wenn einige Aspekte von kulturgeprägten Werten willkürlich erscheinen, sollte man es ernst nehmen, auf welche Arten die kulturelle Konditionierung die Wahrnehmung beeinflusst. Uns wird beigebracht, bestimmte Ereignisse entweder als Gewinn oder als Verlust wahrzunehmen, als angenehm oder schmerzhaft, als etwas, für das wir geschätzt werden, oder als etwas, für das wir verachtet werden. Das hat enorme Auswirkungen darauf, wie wir unser Leben leben; und egal was wir tun, wir können dem Einfluss dieser Winde nicht entkommen. 

Foto: Khamkeo Vilaysing auf unsplash.com

Sie sind wie die Jahreszeiten. Selbst wenn wir erleuchtet wären, würde Herbst immer noch zu Winter und Winter zu Frühling werden. An manchen Tagen wird es weiterhin regnen, an anderen nicht. Wir würden nicht nur eine Jahreszeit wollen. Wenn sich unsere Umwelt verändert, sind wir gezwungen, uns daran anzupassen. Die Lehre des Buddha ist eine Anleitung, wie wir diesem ständigen Wandel, diesem Fluss des Lebens, mit einem offenen Geist und offenem Herzen begegnen können. Das ist das Herz der spirituellen Übung.

Der Wind, den wir am problematischsten finden, weist uns auf etwas Ungelöstes in unserer Psyche hin. Diese schmerzhaften Erfahrungen können als Weckruf dienen. Wenn wir nicht wiederholt durch diese Winde herausgefordert werden, haben wir keinen Grund, genauer hinzuschauen und uns zu fragen „Was ist hier eigentlich los? Wo hänge ich fest? Warum ist es gerade so schwierig und verwirrend?“ Auf diese Art sind die acht weltlichen Winde unsere kostbaren Lehrer.

Wenn wir dasselbe Szenario oft genug durchgespielt haben, blicken wir vielleicht mit einem Gefühl der Dankbarkeit auf eine schwierige Erfahrung wie beispielsweise Trauer zurück, weil diese Erfahrung uns dazu gezwungen hat, an ihr zu wachsen. Das trifft auch zu, wenn wir von Angst überwältigt werden. Wenn wir uns mit dieser Angst auseinandersetzen, werden wir Vertrauen in den Prozess und in unsere eigene Fähigkeit zur Transformation gewinnen. Wir vertrauen immer mehr darauf, dass alles dazu beitragen kann, unseren Geist und unser Herz zu öffnen und unseren Horizont zu weiten. Selbst die schmerzhaftesten Erfahrungen können dem Erwachen dienen.

Wenn die acht weltlichen Winde besonders stürmisch sind, ist es wichtig zu versuchen, Frieden mit ihnen zu schließen – eine Art Waffenstillstand zu vereinbaren, wenn alle anderen Lösungsversuche gescheitert sind. Vier Punkte sind notwendig für einen dauerhaften Frieden: präsent zu sein, zuzuhören, ehrlich zu sein und sich nicht auf eine bestimmte Vorstellung davon, wie Erfolg aussehen könnte, zu fixieren. Wenn wir auf all diese vier Arten reagieren können, wird der Prozess von selbst ablaufen und es wird sich eine Lösung finden.

Ich kann definitiv aus eigener Erfahrung sagen, dass selbst die größten Herausforderungen sehr hilfreich für mein inneres Wachstum waren. Mein Weg zur spirituellen Praxis begann kurz nach dem Tod meiner Mutter. Dieser große Schmerz hat mich in die Knie gezwungen und führte mich auf den spirituellen Weg. Abgesehen davon, dass sie mir das Leben geschenkt hatte, war ihr Tod das größte Geschenk meiner Mutter an mich. Kraftvolle Erfahrungen wie diese können natürlich auch sehr überwältigend sein. Starke Winde können viel Schaden verursachen und manchmal müssen wir auch Schutz suchen und abwarten, bis der Sturm etwas nachlässt.

Stell dir vor, wie du an einem stürmischen Tag rausgehst und gegen den Wind ankämpfst. Wie soll das nur funktionieren? Andererseits kann der gleiche Wind ein Rotorblatt antreiben, um dadurch Strom zu erzeugen. Wenn es ein starker Wind ist, drehen sich die Rotorblätter sehr schnell. Wenn es nicht sehr windig ist, drehen sie sich nur langsam. In beiden Fällen wird Energie erzeugt und kann für viele gute Zwecke genutzt werden. Oder du hast zum Beispiel ein Segelboot – ohne Wind kommst du nirgendwohin. Aber egal in welche Richtung der Wind weht, wenn du die Segel richtig ausrichtest, kannst du an dein gewünschtes Ziel gelangen. Diese Winde tragen eine enorme Energie in sich und deshalb wollen wir sie nicht blockieren oder so tun, als gäbe es sie nicht. Wir wollen lernen, wie wir diese kostbare Energie uns zunutze machen können, um uns auf dem Weg des Erwachens voranzubringen. Es gibt keine Erfahrung, die nicht genutzt werden kann, um dazu zu erwachen, wie die Dinge wirklich sind: unbeständig, unbefriedigend und leer von einem getrennten, dauerhaften Selbst. Das ist der Grund, warum der Buddha lehrte, dass Befreiung die Essenz aller Erfahrungen ist. Sie alle können uns den Weg aus dem Leiden heraus zeigen. 

Gebetsfahnen sind ein weiteres schönes Beispiel dafür, wie wir von der Kraft des Windes profitieren können. Es heißt, dass sie aus der schamanistischen Bön-Tradition des alten Tibets stammen und Frieden, Mitgefühl, Stärke und Weisheit verbreiten. Wenn der Wind weht, wird das, was auf der Gebetsfahne steht, ins gesamte Universum ausgesandt. Egal aus welcher Richtung der Wind kommt, solange er die Fahne bewegt, wird ein Gebet ausgesandt. Mingyur Rinpoche sagt in seinem Buch Das Ziel der Achtsamkeit „Achtsamkeit ist die Grundlage oder sozusagen die ‚Stütze‘ des Geists. Sie ist stetig und unveränderlich, wie der Mast, an dem die Fahne des alltäglichen Bewusstseins befestigt ist.“

Eine Fahne sträubt sich nicht gegen den Wind, aber sie ist an einem Fahnenmast befestigt, damit sie nicht weggeweht wird. Wenn der Wind weht, flattert die Fahne auf und ab, hin und her. Fahnen sind nicht aus Holz oder Metall gemacht, das würde nicht funktionieren. Sie sind aus Stoff hergestellt, damit sie sich mit dem Wind bewegen können. Wenn wir wollen, dass unsere Praxis Früchte trägt, müssen wir die Eigenschaften einer Gebetsfahne kultivieren – geerdet, aber flexibel, leicht, aber widerstandsfähig. Nach und nach lernen wir, uns von der starren Geisteshaltung zu befreien, dass die Dinge nur auf eine bestimmte Art sein dürften. Nach und nach lernen wir, dass der Friede, nach dem wir uns sehnen, durch Loslassen entsteht, nicht durch den angstgesteuerten Versuch, die Dinge zu beherrschen.

Immer wenn die Winde in unserem Geist auftauchen, können wir uns das Bild einer Gebetsfahne vor Augen halten und in den Wind hinein loslassen. Wenn die Energie zu stark wird, tasten wir nach dem Fahnenmast der Achtsamkeit und erden uns. Wir werden eins mit dem Rhythmus des Windes und bewegen uns in Harmonie mit ihm. Auf diese Art erlauben wir allen Erfahrungen, uns etwas zu lehren, sodass Weisheit und Mitgefühl zum Wohl aller, einschließlich uns selbst, gedeihen können.

Wir haben alle ziemlich klare Vorstellungen davon, was in unserem Leben passieren soll und was nicht. Die Wurzeln dieser Vorlieben liegen sehr, sehr tief. Aber mit der Zeit habe ich gelernt, dass die Intention, Weisheit und Mitgefühl zu entwickeln, eine tiefere Befriedigung bringt als irgendeine meiner Vorlieben. Egal was unsere Hauptmotivation ist – was auch immer dieser spirituelle Weg uns bedeutet – das ist es, was wir auf unsere Gebetsfahne schreiben sollten. Dann können wir, egal unter welchen Umständen, jeden Tag aufwachen, uns in unserer tiefsten Motivation verankern und diesen Wunsch zum Wohl aller Wesen ins Universum hinaussenden.

Der Wind ist da. Genauso der Fahnenmast. Und auch die Fahne, die wir Körper und Geist nennen, auf der unsere tiefste Intention in den Stoff unseres Lebens eingeschrieben ist – all die Arten, auf die wir denken, sprechen und handeln. Das ist der Weg und wir müssen ihn nur gehen. 

Santacitta Bhikkhuni

stammt aus Österreich und studierte Kulturanthropologie mit Schwerpunkt Tanz, Theater und Ritual in Wien. Eine Begegnung mit Ajahn Buddhadasa 1988 in Südthailand weckte ihr Interesse am Klosterleben und 1993 begann ihr Nonnentraining in England und Asien, vor allem in der Traditionslinie von Ajahn Chah. Seit 2002 empfängt sie auch Unterweisungen in der Traditionslinie von Dilgo Khyentse Rinpoche. Ayya Santacitta ist Mitbegründerin von Aloka Vihara Forest Monastery (alokavihara.org/deutsch) in Kalifornien und wurde 2011 als Bhikkhuni ordiniert.

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