Stellen wir uns eine buddhistische politische Philosophie vor
Randeep Purewall meint, es ist an der Zeit, eine buddhistische politische Philosophie zu definieren. Er schlägt vier Kernkomponenten für eine vom Dharma geprägte politische Philosophie vor.
Es war 2005. Vier Jahre waren seit den Anschlägen vom 11. September vergangen, und ich war im zweiten Jahr meines Jurastudiums. Der Krieg gegen den Terror war in vollem Gange. Der Irak stand in Flammen. Und Präsident George W. Bush hatte den bürgerlichen Freiheiten „in the Land of the Free“1, im Land der Freien, den Krieg erklärt.
Um diese Zeit begann ich, über Politik und internationale Angelegenheiten aus buddhistischer Sicht nachzudenken. Während meines Batchelorstudiums in Politikwissenschaft hatte ich Locke, Rousseau und Mill gelesen, aber das, was mich in diesen Jahren wirklich gefesselt hat, war die buddhistische Philosophie. So viel ich auch zu diesem Thema gelesen hatte, so fiel es mir doch schwer, in meiner Lektüre der politischen Philosophie viel ursprünglich oder konsequent Buddhistisches zu finden.
Heute brauchen wir eine neue Denkweise über Politik und die Welt. Ich möchte die Idee einer „buddhistischen politischen Philosophie“ vorschlagen. Eine buddhistische politische Philosophie würde bedeuten, Regierung, Staat, Macht und Werte (wie Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit) aus der Perspektive der buddhistischen Philosophie zu betrachten. Sie würde sich damit befassen, die politische Macht mit den ethischen und moralischen Prinzipien des Dharma in Einklang zu bringen.
Basierend auf meinen Studien über Buddhismus, Recht und Politik möchte ich die folgenden vier Schlüsselkomponenten einer zukünftigen buddhistischen politischen Philosophie vorschlagen.
Naturgesetz
Erstens würde Politik in der buddhistischen politischen Philosophie im Sinne der buddhistischen Sicht auf die Existenz verstanden. Nach dieser Auffassung ist jede Existenz – die individuelle und die kollektive – unvollkommen. Alle Gesellschaften und Gemeinschaften unterliegen Veränderungen, die durch viele voneinander abhängige, miteinander verbundene Faktoren bedingt sind.
Das steht im Gegensatz zu der positivistischen Sichtweise der modernen westlichen politischen Philosophie. Die positivistische Sichtweise ist eine weltliche und rationale Sicht der Welt, die besagt, dass alle Dinge in der Welt sachlich beobachtet werden können, ohne auf Erklärungen der ersten oder „letztendlichen“ Ursachen wie Gott oder der Natur zurückzugreifen. In Recht und Politik besagt der Positivismus, dass der Souverän (also der oder die Herrschende, die Regierung) die Quelle aller politischen Autorität ist, ohne auf ein unabhängig oder über dieser Autorität hinaus existierendes Naturgesetz verweisen zu müssen.
Das Problem des Positivismus ist, dass er die Politik auf eine bloße Machtfunktion reduziert, ohne höhere Prinzipien wie die Moral zu berücksichtigen. Das nationalsozialistische Deutschland ist ein extremes Beispiel für die Folgen der positivistischen Denkweise. Als das Dritte Reich erklärte, dass es legal sei, deutsche Juden zu diskriminieren, kümmerte es Deutschland nicht, ob für die Juden höhere Gesetze, wie die natürlichen Rechte eines Menschen, galten.
Aus buddhistischer Sicht würde eine politische Philosophie, die das Naturgesetz ignoriert und Prinzipien wie die gegenseitige Abhängigkeit und Einheit des Lebens missachtet, Einzelpersonen und Gemeinschaften schaden. Um dies weiter zu veranschaulichen, betrachten Sie diese Prinzipien im Lichte der buddhistischen Idee des Nicht-Selbst.
Der Buddha sagte, dass der moralische Charakter eines Herrschers, einer Herrscherin, den moralischen Charakter der Gesellschaft bestimmt.
Der Buddhismus lehrt, dass wir immer dann, wenn wir uns mit einer in sich geschlossenen Einheit wie einer bestimmten Klasse, Nation oder Religion identifizieren, wir ein statisches „Selbst“ einer ansonsten dynamischen und fließenden Welt aufzwingen oder es auf sie projizieren und dadurch Leiden erzeugen. Die Trennung zwischen „Selbst“ und allem, was nicht „Selbst“ ist, erzeugt Widerstände, Konflikte, Spannungen, Zwietracht und Disharmonie. Gedanken, Worte oder Handlungen, die dieses Naturgesetz ignorieren, erschaffen dhukka, Leiden.
Nehmen wir zum Beispiel Donald Trumps Bemerkung, dass bestimmte US-Kongressfrauen dorthin „zurückkehren“ sollten, wo sie herkommen. Trumps Bemerkung schafft ein begrenztes „Selbst“, das auf der Idee von Rasse, ethnischer Zugehörigkeit und Herkunftsort basiert. Aus dieser Einschränkung ergibt sich die Idee, dass diese Kongressabgeordneten (und alle anderen, die von den Bemerkungen betroffen sind) von Trump (und solchen wie ihm) getrennt sind. Aus dieser Trennung entsteht ein Gegensatz zwischen Trump (und solchen wie ihm) und den Kongressfrauen (und anderen), der auf der Idee von Rasse, ethnischer Zugehörigkeit und Herkunftsort beruht. Aus diesem Gegensatz entstehen Widerstand, Konflikte und Leiden (zum Beispiel Frustration oder Empörung).
Auf diese Weise können wir sehen, wie eine politische Philosophie, die Naturgesetze in Form von Prinzipien wie der gegenseitigen Abhängigkeit und der Einheit des Lebens missachtet, Leiden schaffen kann.
Moral
Zweitens wäre Politik in der buddhistischen politischen Philosophie eine moralische Verpflichtung für jede Führerin, für jeden Führer. Im Gegensatz dazu interpretieren die meisten modernen westlichen politischen Philosophien die Politik als „moralisch neutral“, basierend auf den utilitaristischen2 Überlegungen eines Führers zu Macht und öffentlichem Wohl.
Im Buddhismus bedeutet gedeihen, nach dem universellen moralischen Gesetz zu leben, das als dharma,Naturgesetz, bekannt ist. Um Damien Keown zu paraphrasieren, in Übereinstimmung mit dem Dharma zu leben und seine Anforderungen umzusetzen (wie im Achtfachen Pfad des Buddha dargelegt), führt zu Glück und Erfüllung unter Individuen und Gemeinschaften. Dharma zu vernachlässigen oder zu verletzen führt dagegen zu Leiden.
Auf diese Weise wäre eine buddhistische politische Philosophie einfach eine moralische Philosophie – eine Ausweitung der buddhistischen Ethik und Moral auf das öffentliche Leben. Wie Gard betont, betrifft Dharma alle Wesen, sowohl einzelne als auch kollektive, und eine buddhistische politische Philosophie würde das Dharma sozial interpretieren und erklären.
Die Bedeutung der Moral in der Politik wird in der buddhistischen philosophischen Literatur veranschaulicht. In der Anguttara Nikaya betont der Buddha die Wichtigkeit des Gebens, der freundlichen Rede, des hilfreichen Verhaltens und der Stimmigkeit (Sangahavatthu oder „vier Mittel der Verbundenheit“)3 als Grundlage für den Aufbau einer gesunden Gemeinschaft.
In den Jatakas, einer Fabelsammlung, in der der Buddha moralische Lektionen durch menschliche und tierische Inkarnationen lehrt, erklärt der Buddha die Prinzipien eines idealen Herrschers. In einem Jataka spricht der Buddha über die Pflichten eines Herrschers (dasa-raja-dhamma). Diese schließen ein: persönliche Integrität, moralischen Charakter, Sorge um das Wohl aller Wesen, Gewaltlosigkeit und Nicht-im-Gegensatz (avirodha) stehen zum Willen des Volkes. Im Cakkavatti-sihanada Sutta (Digha Nikaya 154)4 sagt der Buddha, dass der moralische Charakter eines Herrschers den moralischen Charakter der Gesellschaft und der Zivilisation bestimmt. Wenn die Moral eines Herrschers abnimmt führt das zum moralischen Niedergang der Gesellschaft.
Karma
Drittens würde eine buddhistische politische Philosophie die Entwicklung der Welt durch Karma erklären. Da jede Existenz durch voneinander abhängige Faktoren bedingt ist, würde eine buddhistische politische Philosophie die Beziehung zwischen verschiedenen Ursachen und Bedingungen untersuchen, um den Aufstieg, die Ausdehnung, die Kontraktion und den Zerfall sozialer und politischer Phänomene zu erklären
Die moderne westliche Politikwissenschaft analysiert ebenfalls die Ursachen von Phänomenen, aber diese werden normalerweise einzeln analysiert, isoliert von anderen möglichen Ursachen. Zum Beispiel können die Ursachen von Rassismus auf unterschiedliche Weise erklärt werden: aufgrund von Bildungsmangel, weil verschiedene ethnische Gruppen interagieren oder aufgrund der Regierungspolitik in Bezug auf Multikulturalismus. Eine buddhistische politische Philosophie, die die Theorie des Karmas anwendet, würde darauf hinweisen, dass all diese Ursachen und Bedingungen eine Rolle bei der Entstehung des Rassismus spielen.
Diese buddhistische Karma-Theorie würde auch dazu beitragen, zu erklären, wie sich Gesellschaften im Laufe der Zeit verändern. So würde die Wahl von Donald Trump historisch als Beispiel für das Zusammenwirken verschiedener Ursachen und Bedingungen erklärt werden: ein bestimmtes politisches System (das Zweiparteiensystem, das amerikanische Wahlkollegium), eine bestimmte Gesellschaft (die eine wirtschaftliche Rezession erlebt hat und der Niedergang der Mittelschicht seit 9/11) und eine bestimmte Kultur (die Social-Media-Influencer feiert). Auf diese Weise würde die Theorie des Karmas Geschichte auf Basis der buddhistischen Sicht der Existenz erklären.
Das menschliche Wohl
Viertens hätte eine buddhistische politische Philosophie eine ganz eigene Vorstellung vom menschlichen Wohl und den Mitteln, mit denen es erreicht werden kann. Der Buddhismus befasst sich mit der Fähigkeit von Individuen und Gesellschaften, ihre Fähigkeit zu Glück und zum Guten durch Weisheit, Moral und Fleiß zu verwirklichen. Seine politische Philosophie würde daher versuchen, eine Politik zu schaffen (ob demokratisch oder republikanisch, liberal oder konservativ), die die Not der Menschen mit moralisch geschickten Mitteln lindert, anstatt ihre Gier, ihren Hass und ihre Verblendung zu befriedigen.
In einer Welt, die von Gier, Hass und Täuschung nur so strotzt, sind wir im Westen an einen Punkt gelangt, an dem wir Gefahr laufen, unsere geistige Gesundheit und Stabilität als Zivilisation zu verlieren. Hier habe ich eine buddhistische politische Philosophie als eine Möglichkeit vorgestellt, um in dieser Situation anders über Politik und internationale Angelegenheiten nachzudenken. Eine buddhistische politische Philosophie würde erklären, wie und warum wir aufgrund unserer menschlichen Impulse hier angekommen sind, aber sie würde auch den gleichen Hoffnungsschimmer bieten, den der Dharma bietet: Wir werden individuell und kollektiv aufblühen, wenn wir zu unserer grundlegenden Fähigkeit erwachen, die Dinge so anzunehmen, wie sie wirklich sind, und in Übereinstimmung damit zu leben.
Anmerkungen der Redaktion:
- So heißt es in der US-amerikanischen Nationalhymne
- Nach Nützlichkeit beurteilt
- Siehe z.B.: https://f5567403-4fe5-4229-9528-1424ec91a2b9.filesusr.com/ugd/3c5e37_1739cc7b5917462ba53769d1fa5c44c9.pdf, Anguttara Nikaya 4.32, übersetzt von Thanissaro Bhikkhu, Revision 2018
- Siehe z.B.: https://www.palikanon.com/namen/c/cakkavattisihanaada_s.htm
Der Beitrag ist im englischen Original erschienen auf:
www.lionsroar.com/commentary-lets-envision-a-buddhist-political-philosophy, 6. November 2019
Randeep Purewall
Randeep Purewall ist Jurist und Schriftsteller. Mehr als zwanzig Jahre lang hat er Buddhismus studiert und an der School of Oriental and African Studies einen Master-Abschluss in Politik und internationalen Studien erworben. Er lebt in Vancouver, Kanada.