Rechte Rede, linke Rede

Ein Interview mit Emma Varvaloucas, John Wood Jr., Mónica Guzmán geführt von Emma Varvaloucas veröffentlicht in der 1-2025 feiern unter der Rubrik Politik.

Einüben eines sinnvollen Dialogs in einer Zeit der Polarisierung

„Ich bin ein Christ, ein Konservativer und ein Republikaner – in dieser Reihenfolge“, sagte Mike Pence, als er 2016 die Nominierung zum Vizepräsidenten annahm.

Buddhistinnen und Buddhisten waren schon immer in der Politik tätig. Der Buddha stand unter der Schirmherrschaft von Königen; in den asiatischen Ländern der Vergangenheit und Gegenwart gibt es buddhistische Politikerinnen und Politiker und Systeme; und im Westen betrachtet die Bewegung des Engagierten Buddhismus das Eintreten für bestimmte politische Anliegen als eine Erweiterung buddhistischer Prinzipien.

Aus religiöser Sicht hatte Mike Pence jedoch Recht. Unsere politischen Ansichten sollten unseren spirituellen Überzeugungen folgen, nicht umgekehrt. Und es gibt keine feste Regel, dass buddhistische Überzeugungen zu der liberalen Politik führen müssen, die viele der heutigen konvertierten1 Buddhist:innen bevorzugen.

Manchmal wird das vergessen. Im Laufe der Jahre hat Tricycle immer wieder von Praktizierenden gehört, die beunruhigt sind, wenn Lehrerinnen und Lehrer in Dharma-Vorträgen die Lehren des Buddha mit modernen politischen Positionen vermischen, von denen sie annehmen, dass ihre Gemeinschaft sie unterstützt. Nach 2016, als die Polarisierung in den Vereinigten Staaten zunahm, waren einige Zentren Schauplatz für die Verunglimpfung republikanischer Wähler.

Trotz der Gemeinsamkeiten in vielen politischen Fragen zeigt eine Umfrage des Pew Research Center (ein nichtstaatliches Meinungsforschungsinstitut in Washington, red)  aus dem Jahr 2022, dass immer mehr Demokrat:innen und Republikaner:innen Menschen der jeweils anderen Partei als engstirnig, unehrlich, unmoralisch und unintelligent ansehen. Es scheint, dass buddhistische Amerikanerinnen und Amerikaner gegen diesen Trend nicht immun sind.

Ich sage das ohne zu urteilen, denn ich habe sehr wohl daran teilgehabt.

Ich habe im Vorfeld der Wahl 2016 damit begonnen, meine eigenen Vorurteile zu untersuchen, als ich auf der Suche nach einer Antwort auf das Phänomen Trump feststellte, dass ich von einer politischen Monokultur umgeben war. Ich dachte, ich hätte gute Fortschritte gemacht, bis ich mich letztes Jahr in einen ehemaligen Obama-Wähler verliebte, der ins Trump-Lager gewechselt war. Da merkte ich, dass ich das ganze Gewicht der Polarisierung auf ihn abwälzte, indem ich ihn für Ansichten – und eine Wahl – beschimpfte, die ich nicht wirklich zu verstehen versucht hatte. Durch unsere Beziehung begann ich zu sehen, wie sehr mein Geist und mein Herz durch die Auswirkungen der Polarisierung verdorben waren. Wo waren die Geduld, das Mitgefühl, der gute Wille und das Verständnis geblieben, zu denen ich als Buddhistin Lippenbekenntnisse abgelegt hatte?

Als Ergebnis des Depolarisierungsprozesses haben sich einige meiner politischen Ansichten gefestigt, andere haben sich erweitert, und einige haben sich ganz verändert. Ich erlaube viel weniger Wut, Hass und Angst, sich in meinem Geist niederzulassen. Ich behandle andere mit mehr Freundlichkeit und Respekt und versuche, nicht das Schlimmste von ihnen anzunehmen. Ich war überrascht, obwohl ich es nicht hätte sein sollen, als diese größere geistige Klarheit und flexiblere Herangehensweise einen echten Dialog zwischen meinem Partner und mir eröffnete.

Im Folgenden spreche ich mit John Wood Jr. und Mónica Guzmán, beide Mitglieder der Depolarisierungsorganisation Braver Angels, darüber, wie es zu dieser Polarisierung in Amerika kam und wie man sie wieder rückgängig machen kann. John Wood ist ein liberaler Aktivist, der als republikanischer Kandidat für den Kongress kandidiert hat und nun über rassische und politische Versöhnung schreibt und den Podcast Uniting America moderiert. Mónica Guzmán ist von Beruf Journalistin, Autorin des Buches I Never Thought of It That Way und Gastgeberin des Podcasts A Braver Way.

Angesichts der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen 2024 ist ihre Weisheit von entscheidender Bedeutung.

Was treibt Sie dazu, Ihre Zeit mit der Depolarisierung zu verbringen? 

Mónica Guzmán (MG): Dieses Thema beschäftigt mich schon seit mehreren Jahren. Meine Eltern haben zweimal für Trump gestimmt, und zwar sehr enthusiastisch, und mein Bruder und ich haben für die demokratischen Präsidentschaftskandidat:innen gestimmt. Unser Haushalt hat also viel von der Spaltung mitbekommen, die alle im ganzen Land herausfordert. Aber in meiner Familie habe ich auch die Art von Gesprächen erlebt, die uns dazu gebracht haben, einander besser zu verstehen. Das gab mir Hoffnung und zeigte mir, dass es einen Weg gibt, [die Polarisierung] zu überwinden. Wir müssen darüber reden und uns gegenseitig dabei helfen.

Zweitens: Ich bin Journalistin. Es liegt mir sehr am Herzen, dass die Menschen einander verstehen, denn das ist ein wesentlicher Faktor für das Gedeihen unserer Gesellschaft. Die ganze Institution des Journalismus ist dazu da, den Bürgerinnen und Bürgern zu helfen, gute Bürger:innen zu sein, indem sie dafür sorgt, dass sie informiert sind. In einer Zeit der Polarisierung sind die Menschen auf tragische Weise falsch über die Sichtweisen anderer informiert.

John Wood Jr. (JW): Ich stamme aus einem familiären Umfeld, das in vielerlei Hinsicht den kulturellen Spaltungen entsprach, die es damals in Amerika gab. Meine Mutter ist eine liberale schwarze Demokratin aus dem Stadtzentrum von Los Angeles. Mein Vater ist ein konservativer weißer Republikaner aus Tennessee. Er hat sich erst später als politisch konservativ zu erkennen gegeben, aber er gehörte einer anderen Generation und einer anderen Wirtschaftsklasse an als meine Mutter. Es gab schreckliche Spannungen zwischen ihnen. Das hat mich frustriert. Gute Menschen, mit denen ich viel gemeinsam hatte, konnten nicht erkennen, was sie mit anderen guten Menschen gemeinsam hatten, nur weil sie aus unterschiedlichen Verhältnissen kamen.

Da ich das typische Mischlingskind war, befand ich mich in vielerlei Hinsicht in der Mitte des Identitätsspektrums. Ich war immer ein kultureller Dolmetscher oder Übersetzer für die einen und die anderen. Später im Leben bin ich dann in die Politik gegangen, immer mit dem Ziel, den Menschen das Verständnis und die Empathie füreinander zu erleichtern, um so die Grundlage für eine empathischere und verständnisvollere Politik zu schaffen.

Ein gängiges Narrativ auf der Linken ist, dass Trump eine so beispiellose Bedrohung für die Demokratie darstellt, dass zu viel auf dem Spiel steht, um auf die andere Seite zuzugehen. Ich bin nicht so vertraut mit der parallelen Darstellungsweise auf der Rechten, aber ich bin mir sicher, dass es eine gibt. Wie würden Sie darauf reagieren?

MG: Ich würde sagen, es steht zu viel auf dem Spiel, um nicht auf die andere Seite zuzugehen. Was in unserer politischen Kultur passiert, ist, dass die Linke und die Rechte die andere Seite angreifen, sie beschämen und sich dadurch definieren, wer sie nicht sind. Aber solange wir uns selbst spalten, untergraben wir unsere eigene Fähigkeit, gemeinsam eine bessere Gesellschaft aufzubauen, weil wir uns selbst immer wieder an den Punkt bringen, an dem wir unfähig sind, gute Ideen von der anderen Seite zu hören. Und die gibt es!

Ich spreche viel über die Stärke der Neugier. Einer ihrer Erzfeinde ist die Angst. Man kann sich nicht für jemanden interessieren, von dem man glaubt, er wolle einem schaden. Je mehr Angst wir haben, desto schwieriger wird es sein, offen und neugierig zu bleiben. Die Gewissheit ist der andere Feind der Neugierde. Wenn man glaubt, alles zu wissen, und nicht mehr auf die Idee kommt, nachzufragen, setzt man sich umso weniger mit der anderen Seite auseinander und lässt sich nur noch von Gleichgesinnten bestätigen.

Das führt uns in die falsche Richtung. Viele von uns denken, dass es so richtig ist – das ist die Art und Weise auf die wir für das einsetzen, woran wir glauben. Aber man kämpft für das, woran man glaubt, indem man versteht, wogegen man kämpft: wer die Gegner sind und was sie motiviert. Wenn Sie für Ihre Überzeugungen kämpfen wollen, bedeutet das, dass Sie andere überzeugen wollen. Man verliert die Fähigkeit zu überzeugen, wenn es kein Vertrauen und keine Verbindung gibt.

„Gewissheit ist der Feind der Neugier“ erinnert mich an das, was die Buddhist:innen den Anfängergeist nennen, eine Haltung, die offen dafür ist, etwas Neues zu lernen. John, dieselbe Frage.

JW: Um auf Mónicas Punkt einzugehen: Man kann nicht sagen, dass man irgendeines der Probleme, mit denen die amerikanische Gesellschaft konfrontiert ist, ernst nimmt, wenn man nicht die Frage ernst nimmt, wie wir genug Einigkeit aufbringen können, um als Gesellschaft gemeinsam zu handeln. Ganz gleich, ob es um die Wahlrechtsreform, den Klimawandel oder die Einwanderung geht: Die Fähigkeit der Amerikaner:innen zur Zusammenarbeit und zur Gemeinschaft steht in direktem Zusammenhang mit der Art von Politiker:innen, die wir nach Washington schicken, und der Art und Weise, wie unsere Institutionen funktionieren. Wenn diese Dinge nicht funktionieren, besteht keine Hoffnung, dass Fortschritte oder Veränderungen auf Dauer Bestand haben. Man kann vielleicht ein Gesetz über die Ziellinie bringen, aber wenn man dies auf eine Art und Weise tut, die die andere Seite nicht mit einbezieht, dann ist man zum Scheitern verurteilt. In diesem Sinne ist die Polarisierung das zentrale strukturelle Problem der amerikanischen Gesellschaft, denn sie verhindert, dass alle anderen Probleme gelöst werden können.

Darauf kann man sich berufen, um die praktische Dringlichkeit der Depolarisierung zu verstehen. Aber es gibt auch eine moralische Dringlichkeit. Wir leben in einem Land, in dem wir uns über bestimmte Unterschiede hinweg nicht sehr gut verstehen, und das kann die Tatsache verschleiern, dass die Menschen gut sind. Und auch wenn wir Fehler machen und Dinge missverstehen – mit schwerwiegenden Folgen –, so können wir uns doch davon befreien. Aber wir müssen Wege finden, um gemeinsam auf diese Befreiung hinzuarbeiten.

Es besteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem Wunsch, einerseits die Mauern einzureißen, die die Menschen trennen, und andererseits dem unerbittlichen Streben nach Gerechtigkeit und Wahrheit. Diese Projekte sind nicht völlig voneinander zu trennen. Die Frage ist jedoch, wie wir es allen ermöglichen können, an Gesprächen über Gerechtigkeit, Fairness, Gleichheit und Wahrheit teilzunehmen und gehört zu werden, und zwar auf eine Art und Weise, die es uns ermöglicht, unsere Meinung zu ändern und zu korrigieren. Irgendwann muss das geschehen. Wir können nicht weiterhin so starr an unsere Positionen zu jeder einzelnen Sache gebunden sein, dass wir denken, die bloße Existenz meiner Meinung bedeute, dass Ihre nicht existieren kann.

Kommen wir zu den Lösungen. John, Sie erwähnten, Sie seien wie ein Übersetzer oder Dolmetscher. Mir gefällt diese Formulierung, denn wenn ich mir die Linke und die Rechte ansehe, habe ich das Gefühl, dass sie unterschiedliche Sprachen sprechen. Wenn ich zum Beispiel höre, dass jemand auf der Linken „eine Kultur der weißen Vorherrschaft“ sagt, verstehe ich, was er damit meint, aber ich kann auch verstehen, wie jemand, der nicht zu dieser Kultur gehört, diesen Begriff verstehen würde. Wie können wir „zweisprachig“ werden?

JW: Es gibt zwei Dinge. Einige von uns müssen tatsächlich zweisprachiger werden, da wir miteinander leben und arbeiten. In diesen Fällen geht es darum, die Menschen mit den Instrumenten für die Kommunikation auszustatten, einschließlich der Bedeutung und Wichtigkeit des Vokabulars, das andere Menschen verwenden, um über Themen zu sprechen und sie zu verstehen. Sie haben ein perfektes Beispiel dafür gegeben, wie unterschiedlich die Menschen den Begriff „weiße Vorherrschaft“ verstehen. In der modernen Gesellschaft ist Rassismus ein Begriff, den die Menschen auf sehr unterschiedliche Weise verwenden, um sich vorzumachen, dass sie sich im selben Gespräch befinden, obwohl das in Wirklichkeit nicht der Fall ist.

Auf einer anderen Ebene ist es für die Medien und die Erzählkultur im weiteren Sinne sehr wichtig, dass sie in der Lage sind, die beiden großen Hälften unserer gesellschaftlichen Erfahrung in guter Absicht darzustellen, und zwar auf eine Weise, die sie zusammenbringt und menschlich macht. Das muss der Maßstab sein, wie wir den größeren Diskurs und die Konflikte in unserem Land darstellen.

MG: Ein Teil dessen, warum wir feststecken, ist das Gefühl, dass wir uns gegenseitig gründlich studieren müssen, bevor wir überhaupt miteinander reden können. Ich würde diese Konstruktion von „zweisprachig“ in Frage stellen, als ob ich eine weitere Sprache lernen müsste. Ich glaube nicht, dass wir das müssen. Der erste Schritt aus der Situation, in der wir uns in unserer eigenen Sprache, Dynamik und Ideologie befinden, ist der Schritt hin zu einem Raum der Erforschung. Wenn man sich die Sprache vorstellt und wie man weiße Vorherrschaft und Privilegien, oder welches Wort auch immer es sein mag, benutzt, und wie sie miteinander verbunden sind, kann man eine Art Mind Map sehen, in der alles miteinander verbunden ist.

Sich in einen Raum der Erforschung zu begeben bedeutet, dass man diese starren Vorstellungen lockern kann. Welche Verbindungen man auch immer zusammengeschnürt hat, man lässt etwas Spielraum und ist in der Lage zu fragen, was ich mit weißer Vorherrschaft meine. Wenn man das tut, kann jemand anderes sagen: „Ich meine etwas anderes“ oder „dieses Wort bedeutet nicht wirklich das, was ich denke, also lass mich eine andere Sprache oder ein anderes Konzept einführen“. Dann geht es nicht mehr darum, wie geschickt oder fließend ich mit Worten umgehen kann. Es geht dann darum, einen Ort zu betreten, an dem alles entbündelt und damit beweglich, flexibel und verständlich ist.

Als ich meinen Partner zum ersten Mal traf, sammelte ich ein paar Informationen über ihn, und mein Verstand füllte eine Menge anderer Dinge aus. Erst Monate später wurde mir klar, dass er „a“ gesagt hatte und ich davon ausgegangen war, dass „b, c, d und e“ auch zutreffen würden. Zum Glück haben wir diesen manchmal unangenehmen Prozess gemeinsam durchgestanden. Aber was wäre die Abkürzung gewesen, die verhindert hätte, dass diese Annahmen überhaupt erst entstehen? Wie hätte ich eine mentale Karte der begrifflichen Verknüpfungen erstellen können, von denen ich nicht einmal wusste, dass ich sie hatte?

MG: Leute, die sich mit der Neurowissenschaft der Neugier beschäftigt haben, haben eine Analogie gefunden: Sie ist wie ein Muskel, und je mehr man ihn benutzt, desto stärker wird er. Zunächst mag es unnatürlich erscheinen, innezuhalten und zu fragen: Was nehme ich an? Aber genau da fängt es an. Es ist ein Innehalten. Was übersehe ich, wenn ich dieses Wort sage? Ich weiß, dass es ein parteiischer Begriff ist, und ich habe meine Annahmen darüber, was die andere Seite glaubt. Oder wenn ich höre, dass meine Freundin etwas über Abtreibung sagt, und dann lade ich in meinem Kopf all diese anderen Annahmen herunter, dann muss das bedeuten, dass sie das auch glaubt.

Ich finde es toll, dass es sich um eine buddhistische Publikation handelt, denn ich denke, dass der Buddhismus und viele spirituelle Praktiken den ersten Schritt zu einem präsenteren Beobachter der eigenen Gedanken genau richtig machen. Wir denken oft, dass wir unsere Gedanken sind. Das sind wir aber nicht. Man kann den Geist beobachten, und manchmal wird man den Geist dabei beobachten, wie er ziemlich dummes Zeug macht. Das ist der Punkt, an dem man sagen muss: Moment, wie bin ich überhaupt auf diese Idee gekommen? Das macht doch keinen Sinn. Hören Sie auf das, was Sie denken, und überprüfen Sie die Verbindungen in diesen Gedankenketten, ob sie tatsächlich tragfähig sind. Sie könnten es nicht sein.

JW: Sie haben immer einen Hinweis darauf, dass Sie die Menschen vielleicht zu eingeschränkt betrachten, wenn Ihre eigenen Gefühle der Verachtung oder des Urteils ihnen gegenüber aufsteigen. Das ist wie ein Thermometer für Sie; wenn es zu heiß wird, sollten Sie die Dinge wahrscheinlich mit aus offeneren, tiefergehenden Perspektive betrachten. Die Intensität der Verachtung und des Urteils, die wir gegenüber Menschen empfinden, deren Ansichten uns unangenehm sind, steht gewöhnlich in direktem Verhältnis zu dem Grad, in dem wir sie auf etwas Einfacheres und Grundlegenderes reduzieren, als sie als menschliche Wesen wirklich sind.

Das Gegenmittel dafür ist, etwas über die Geschichten der anderen zu erfahren und etwas von der Erfahrungskette zu verstehen, die uns dorthin gebracht hat, wo wir jetzt sind. Wenn sich Ihnen der Magen umdreht, wenn Sie einen bestimmten Hut oder Autoaufkleber sehen, oder wenn Sie jemanden etwas sagen hören, das für Sie irgendeine politische Konnotation hat, dann ist das ein Zeichen Ihres Körpers, dass Sie auf irgendeiner Ebene neugierig werden sollen.

Welchen Rat haben Sie für Menschen im Alltag, die das Gefühl haben, dass es riskant ist, „die andere Seite“ zu verteidigen? Man hat Angst davor, wie die eigene Seite reagieren wird.

JW: Das ist eine wichtige Bedeutung des Namens unserer Depolarisierungsorganisation:  Braver Angels. Es geht um die Idee, dass man bei der Arbeit, sein politisches Gegenüber zu vermenschlichen, nicht nur das Urteil oder Missverständnis derjenigen riskiert, die anders denken als man selbst, sondern auch den Unmut oder die Entfremdung von Menschen, die politisch mit einem übereinstimmen. Sich in die andere Seite einzufühlen, kann manchmal als Verrat an der eigenen Seite angesehen werden. Eine Möglichkeit, darauf zu reagieren, besteht darin, nicht nur für die Menschlichkeit der anderen Seite zu plädieren, sondern auch für den dringenden moralisch-praktischen Wert, diese Menschlichkeit anzuerkennen.

Wenn man sich dafür einsetzt, dass wir zusammenkommen müssen – zumindest in der gegenseitigen Anerkennung der Menschenwürde, auch wenn wir in der Politik keine gemeinsame Basis finden –, kann man sich der Tatsache nicht entziehen, dass viele Menschen noch nicht so weit sind. Aber bei jeder Position oder jedem Standpunkt im Leben muss man bereit und in der Lage sein, einen Grund dafür zu nennen und ihn zu verteidigen, wenn er von anderen in Frage gestellt wird. In solchen Fällen ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass Empathie und Wohlwollen 360 Grad umfassen müssen. Es ist eine Art und Weise, sich durch das Leben zu bewegen, bei der das Verständnis im Mittelpunkt steht, nicht nur für die politischen Gegner, sondern für die Menschen im Allgemeinen. Diese Art und Weise, das Beste in sich selbst hervorzuholen, ruft in der Regel auch das Beste in anderen hervor, ganz gleich, wer sie sind oder wohin man geht.

MG: Seien wir ehrlich. Wo wir wirklich Tapferkeit und Mut brauchen, ist auf unserer eigenen Seite. Ich glaube sogar, dass es dringender ist, die eigene Seite anzusprechen als die andere Seite. Die andere Seite zu beschämen, funktioniert nicht. Das ist einfach ein Teil des Mechanismus, Teil des Drehbuchs. Das hat nichts mit Mut zu tun.

Was mich zu dieser Arbeit geführt hat, war, dass ich nach der Wahl 2016 hörte, wie Menschen Dinge über Trump-Wähler sagten und begann, mich persönlich betroffen zu fühlen. Sie sprechen jetzt über meine Eltern. Dann fängt mein Herz an zu klopfen, weil ich etwas tun oder sagen muss, aber was werden die Leute von mir denken, wenn ich meine Trump-unterstützenden Eltern verteidige? Es begann als ein kleiner Partytrick. Ich wartete auf den richtigen Moment, nahm einen Schluck von meinem Getränk, um mir Mut zu machen, und sagte dann in den Raum der Leute, die Trump-Wähler entmenschlichten: „Meine Eltern sind mexikanische Einwanderer, die für Trump gestimmt haben“, und ließ die Bombe einfach platzen, um zu sehen, was passiert. In Seattle im Jahr 2017 war das eine große Bombe.

Dann fügte ich hinzu: „Ich sehe meine Eltern jedes Wochenende. Ich liebe sie. Sie sind großartige Menschen.“ Ich bin mir sicher, dass mich einige Leute seltsam ansahen, aber ich war ermutigt durch die Tatsache, dass sie mich meistens baten, ihnen mehr zu erzählen. Eines der Privilegien, die man hat, wenn man Beziehungen zu Menschen auf der anderen Seite hat, ist, dass man sie anderen gegenüber vertreten kann, wenn sie nicht da sind. Und das habe ich mit meinen Eltern immer wieder getan, mit ihrer Erlaubnis. „Ich möchte Ihnen erzählen, wie mein Vater zu seinen sehr konservativen Ansichten über die Einwanderung gekommen ist, obwohl er selbst ein Einwanderer ist.“

Das führt uns zu dem zurück, was John gesagt hat, nämlich dass wir nicht neugierig auf die Meinung des anderen sind, sondern auf den Weg, der sie zu dieser Meinung geführt hat. Das ist es, was es uns ermöglicht, eine Beziehung aufzubauen. Wenn man eine Beziehung hat, kann man mit einem gewissen Maß an gutem Willen debattieren. Wenn man debattiert, bevor man eine Beziehung aufbauen kann, dann konkurriert man nur.

Monica, in Ihrem Buch I Never Thought of It That Way gehen Sie auf eine Idee des Philosophen David Smith ein, wonach die Meinungen der Menschen, ob politisch oder nicht, von ihren Erfahrungen und ihrem Kontext abhängen und daher viel weniger eine bewusste Entscheidung sind, als wir oft denken. Können Sie darüber sprechen? Das zu lesen war ein großer Aha-Moment für mich.

MG: Das war auch für mich ein entscheidender Wendepunkt. Shanto Iyengar, ein Wissenschaftler der Stanford University, und andere haben 2016 herausgefunden, dass bei der Bewertung von Lebensläufen mehr Diskriminierung aufgrund der politischen Einstellung als aufgrund der Ethnie stattfindet. Die Vorstellung, dass unsere politische Einstellung immer noch ein Grund für Hass ist, beruht auf dem Gedanken, dass wir uns unsere Ethnie nicht aussuchen können, aber unsere Politik. Dass ich meine Meinung vertrete, weil ich es will, und dass ich sie gewählt habe und sie mir gehört und ich sie nicht loslassen werde, bis ich eine andere haben will.

So funktioniert das ganz und gar nicht. In dem Buch gebe ich das Beispiel, dass ich Star Trek liebe. Mein Mann liebt Star Wars. Keine noch so gute Argumentation wird ihn dazu bringen, der Wahrheit zuzustimmen, dass Star Trek das bessere erzählerische Universum ist! Wir wissen, dass es daran liegt, dass seine Eltern ihn eine Milliarde Mal in die Vorgängerfilme mitgenommen haben. Er hat einen lebensgroßen Yoda von seiner Großmutter, der immer noch in unserem Haus steht. Unsere Meinungen sind also tief verwurzelt. So miteinander zu sprechen, als ob ich meine Meinung einfach so ändern könnte, wie ich meine Kleidung ändere, und meine Weigerung darauf zurückzuführen ist, dass mir dein Argument nicht gefällt, [macht keinen Sinn].

Überzeugung ist viel komplexer und interessanter als das. In dem Buch How Minds Change schreibt David McRaney, dass alle Überzeugungsarbeit Selbstüberzeugung ist. Ich ändere nicht Ihre Meinung. Sie ändern Ihre Meinung. Aber Sie ändern Ihre Meinung nicht, weil Sie Ihre Meinung ändern. Sie ändern Ihre Meinung, weil sich im Laufe der Zeit eine Reihe von Beweisen mit Ihren Werten und Erfahrungen vermischt und Sie auf einen Weg bringt, der besser zu Ihnen passt.

JW: Überzeugungsarbeit ist dann effektiv, wenn man erkennt, dass man nicht wirklich ändert, was die Leute glauben. Man spricht an, was sie bereits glauben. Man zeigt ihnen, dass ein umfassenderes Verständnis der Realität besser mit den Dingen übereinstimmt, an die sie wirklich glauben, als mit der Art und Weise, wie sie die Welt in diesem Moment sehen. Sie beginnen, die tieferen „Gründe“ hinter den Überzeugungen der Menschen zu ergründen, und plötzlich können sie durch ihre eigenen Überzeugungen zu einer neuen Sichtweise gelangen.

Das Komische an der menschlichen Natur ist, dass einerseits unsere Ideen und Perspektiven durch Erfahrung geprägt sind. Andererseits haben wir diese unglaubliche Fähigkeit, zu wachsen und uns mit der Zeit zu verändern. Es gibt eine Seite der menschlichen Natur, die nach mehr Zusammenarbeit, Harmonie und Verbindung mit anderen Menschen strebt – es ist nicht nur die egoistische, egozentrische Seite, die zählt. Der Mensch ist also ein gemischtes Wesen, aber je mehr wir uns auf Liebe, Mitgefühl, Neugier und Mut einlassen, desto eher sind wir zu tieferen Verbindungen und stärkeren Beziehungen fähig. Dadurch entstehen ein erfüllteres Leben und bessere Wege zu mehr Sinnhaftigkeit.

Vieles von dem, was uns in polarisierenden Standpunkten verankert hält, ist der Wunsch, an den Dingen festzuhalten, von denen wir glauben, dass sie Bedeutung haben. Wir können uns gegenseitig zeigen, dass in der Verbindung, in der Beziehung durch Verständnis, durch Mitgefühl und Neugier ein größerer Sinn zu finden ist. Dann haben wir plötzlich einen Anreiz für Menschen, über das hinauszuwachsen, was sie sind, und sich dem zuzuwenden, was sie sein könnten.

Emma Varvaloucas

1 Konvertiert sind jene Buddhist:innen, die nicht von Geburt an dieser Religion angehören – also fast alle im Westen. (Anmerkung der Redaktion)


Der Artikel ist zuerst erschienen auf der Seite des US-amerikanischen Onlinemagazins Tricycle:
https://tricycle.org/magazine/depolarization-politics-emma-varvaloucas/

Klicken Sie auf den unteren Button, um den Inhalt von tricycle.org zu laden.

Inhalt laden

Emma Varvaloucas

Emma Varvaloucas ist eine in New York ansässige Schriftstellerin und die Geschäftsführerin des Progress Network. Sie ist die Herausgeberin von zwei Büchern aus dem Wisdom Publications Verlag: Touching Ground und Wholehearted.

Alle Beiträge Emma Varvaloucas