Nationalismus: Kollektives Ego und das Versprechen von Buddhaland

Ein Beitrag von Brian Daizen Victoria übersetzt von Kirsten Schulte veröffentlicht in der 2/2024 Krieg und Frieden unter der Rubrik Schwerpunkt Krieg und Frieden.

Einleitung

In einer kürzlich gehaltenen Vorlesung über den Krieg in der Ukraine stellte John Mearsheimer, ein Politikwissenschaftler an der Universität von Chicago, fest, dass der Nationalismus heute die vorherrschende Ideologie in der Welt ist. Ich war von dieser Bemerkung etwas überrascht, da ich die Zeit des Kalten Krieges miterlebt habe, in der alles, was mit Russland zu tun hatte, in den ideologischen Kontext des „Kampfes der freien Welt oder der Demokratien gegen die kommunistische Diktatur“ usw. eingeordnet wurde. Bei näherem Nachdenken wurde mir jedoch klar, dass Russland mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Dezember 1991 zu einem kapitalistischen Staat zurückgekehrt war, auch wenn er nun autoritär oder autokratisch geführt wird. Daher war Mearsheimers Identifizierung des Nationalismus als Schlüsselfaktor für Russlands Einmarsch in die Ukraine nicht so überraschend, wie es zunächst schien.

Mearsheimers Einsicht führte bei mir zu einer neuen Forschungsrichtung. Als Buddhist hatte ich mich lange gefragt, ohne eine befriedigende Antwort zu finden, in welchem Verhältnis der Buddhadharma zum Nationalismus steht, wenn überhaupt. 

Dieser Artikel ist eine Einladung an den Leser, mit mir gemeinsam dieses Thema zu erforschen. Dabei möchte ich von vornherein klarstellen, dass es sich hier nicht, wie der Titel vermuten lässt, um den Versuch handelt, „die“ (eine und einzige) buddhistische Sicht des Nationalismus zu begründen, sondern um „eine“ (unter vielen) buddhistische Sicht des Nationalismus. Genauer gesagt handelt es sich um eine Einladung, über das präsentierte Material nachzudenken. Ich hoffe, dass die Leser damit ihre eigene Meinung zu dieser Frage formulieren können und hoffentlich die Bereitschaft finden, sie weiter zu erforschen, da er erkennt, wie schwierig es ist, eine Lösung für die Beziehung zwischen Buddhismus und Nationalismus zu finden.

Eine Definition von Nationalismus 

Als ersten Schritt zur Untersuchung dieses Themas sollten wir uns vergewissern, dass wir alle eine gemeinsame Definition für den Begriff „Nationalismus“ haben. Laut Merriam-Webster ist Nationalismus: 

Loyalität und Hingabe an eine Nation, insbesondere ein nationales Bewusstsein, das die eigene Nation über alle anderen erhebt und den Schwerpunkt auf die Förderung ihrer Kultur und Interessen im Gegensatz zu denen anderer Nationen oder supranationaler Gruppen legt.

Merriam-Webster

Aufbauend auf dieser Definition fügt die Encyclopedia Britannica hinzu, dass „Nationalismus eine Ideologie ist, die auf der Prämisse beruht, dass die Loyalität und Ergebenheit des Einzelnen gegenüber dem Nationalstaat andere Einzel- oder Gruppeninteressen übersteigt“. Und weiter:

„Der Nationalismus ist eine moderne Bewegung. Im Laufe der Geschichte waren die Menschen ihrer Heimat, den Traditionen ihrer Eltern und den etablierten territorialen Autoritäten verbunden, aber erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde der Nationalismus zu einem allgemein anerkannten Gefühl, das das öffentliche und private Leben prägte und einer der großen, wenn nicht sogar der größte, einzelne bestimmende Faktor der modernen Geschichte war.“

Encyclopedia Britannica

Es wäre sicherlich möglich, dass Buddhisten behaupten, dass der Buddhismus keinerlei Auffassung von Nationalismus hat und auch nicht haben sollte. Nationen, wie wir sie heute kennen, gab es zur Zeit des historischen Buddha nicht. Es ist daher nicht überraschend, dass Shakyamuni Buddha nichts über Nationalismus lehrte. Wenn also der Nationalismus in der Lehre des Buddha keine Rolle spielte, warum sollte er dann Tausende von Jahren später ein Anliegen seiner Anhänger sein? Ist er nicht genauso irrelevant wie die buddhistische Sichtweise eines Flugzeugs oder Raumschiffs?

Die Encyclopedia Britannica weist jedoch darauf hin, dass der Nationalismus keine völlig neue Erfindung war, wie das besagte Flugzeug oder Raumschiff. Sondern:

„Früher waren Staaten oder Territorien, die unter einer Verwaltung standen, nicht durch die Nationalität abgegrenzt. Die Menschen hielten nicht dem Nationalstaat die Treue, sondern anderen politischen Organisationsformen: dem Stadtstaat, dem Lehnsgut und seinem Herrn, dem dynastischen Staat, der religiösen Gruppe oder der Sekte. Der Nationalstaat war während des größten Teils der Geschichte nicht existent.“

Encyclopedia Britannica

In diesen Worten erkennen wir eine Verbindung zu Shakyamuni Buddha, denn die buddhistische Tradition besagt, dass seine Heimat, Kapilavastu, ein Stadtstaat und damit ein Vorläufer des heutigen Nationalstaates war.

War Shakyamuni Buddha patriotisch?

Shakyamuni Buddha kann kein formaler Nationalist gewesen sein. Ist es dennoch möglich zu behaupten, dass Shakyamuni Buddha auch nach seinem Erwachen zumindest bis zu einem gewissen Grad „seinem Heimatboden“, dem Stadtstaat Kapilavastu, verbunden blieb? Wenn ja, ist es dann möglich, dass der historische Buddha ein Proto-Nationalist oder zumindest ein Patriot in einem allgemeinen Sinne war?  

Obwohl die moderne Forschung uns immer wieder neue Einblicke in das Leben und die Zeit des Buddha gewährt, deuten die folgenden vier Ereignisse im Leben des Buddha darauf hin, dass Kapilavastu, seine Bewohner und sogar das Wohlergehen der angrenzenden Länder für ihn wichtig blieben. Erstens soll der Buddha nach seinem Erwachen in seine Heimat zurückgekehrt sein, wo er seinen Vater König Suddhodana, seine Pflegemutter Mahapajapati Gotami, seine Frau Yasodhara und seinen Sohn Rahula traf. Obwohl der Buddha offenbar auf Einladung seines Vaters zurückkehrte, ignorierte er weder seinen Vater noch seine Pflegemutter, seine Frau oder seinen Sohn. Stattdessen nahm er sie alle mit der Zeit in die Gemeinschaft seiner Schüler auf. Das beweist zwar nicht, dass der Buddha an seiner Familie hing, aber er war auch nicht gleichgültig gegenüber ihrem Wohlergehen.

Der Buddha verhindert einen Krieg

Ein zweiter Vorfall zeigt, dass der Buddha bereit war, persönlich einzugreifen, um einen Krieg zu verhindern, der sein Heimatland verwüstet hätte. Dem Dhammapada zufolge ereignete sich der Vorfall, als der Buddha in der Kutagara-Halle des Großen Waldes in der Nähe von Vesali wohnte. Zwischen den Shakyas und den benachbarten Koliyas kam es zu einem Streit über die Aufteilung des Flusses Rohini, der die Grenze zwischen den beiden Gebieten bildete. Aufgrund einer großen Dürre gab es nicht genügend Wasser, um die Felder an beiden Ufern des Flusses zu bewässern. Shakyamuni Buddha seinerseits war nicht nur der Sohn eines Shakyan-Königs, sondern auch einer Koliyan-Prinzessin, und so sah es Buddha laut H. Saddhatissa als seine Pflicht an, einzugreifen.“ (Saddhatissa 1987, 80)

Als die Wahrscheinlichkeit eines Krieges näher rückte, ging der Buddha zum Fluss und setzte sich ans Ufer. Er fragte die Prinzen der Shakyas und Koliyas, warum sie sich versammelt hätten, und erhielt die Antwort, dass sie sich auf eine Schlacht vorbereiteten. Der Buddha erkundigte sich nach dem Grund des Streits, und die Prinzen sagten, sie wüssten es nicht genau. Sie fragten ihrerseits den Oberbefehlshaber, aber auch er war sich nicht sicher und bat den Regenten um Auskunft, der abermals keine eindeutige Antwort geben konnte.  

Die Nachforschungen gingen weiter, bis sie schließlich die Landwirte erreichten, die die ganze Angelegenheit erzählten. „Welchen Wert hat das Wasser?“, fragte der Buddha.

„Er ist gering“, sagten die Fürsten.

„Und was ist mit der Erde?“

„Auch das ist wenig“, sagten sie.

„Und was ist mit den Prinzen?“

„Sein Wert kann nicht gemessen werden“, antworteten sie.

„Wollt ihr also“, sagte der Buddha, „das, was von höchstem Wert ist, um des Geringwertigen willen zerstören?“ Die Fürsten dachten über die Worte des Buddha nach und erkannten die Wahrheit dessen, was er sagte. Ein Krieg wurde vermieden, und die Prinzen dankten dem Buddha für seinen weisen Rat.

Coomaraswamy 1976, 52-53

Buddha scheitert daran, einen Krieg zu verhindern

Dies war nicht das einzige Mal, dass der Buddha eine Rolle gespielt haben soll, die wir heute als friedenserhaltend bezeichnen würden. Seinem Eingreifen waren jedoch selbst auferlegte Grenzen gesetzt. Am deutlichsten zeigt dies ein zweiter Vorfall, der im Dhammapada-Kommentar über einen späteren Angriff auf seine Heimat durch König Vidudabha von Kosala, dem mächtigsten Königreich seiner Zeit, aufgezeichnet ist. Vidudabha war der Sohn von König Pasenadi von Kosala und einer Shakya-Prinzessin.

Als er noch Kronprinz war, hatte Vidudabha die Familie seiner Mutter besucht und dabei zufällig entdeckt, dass seine Mutter keine Shakya-Prinzessin war, sondern eine Shakya-Sklavin, die König Pasenadi als Prinzessin verkauft worden war. Erzürnt über diesen Betrug schwor Vidudabha, sich für diese Beleidigung zu rächen, und nach dem Tod seines Vaters marschierte Vidudabha nach Kapilavastu. Dreimal gelang es Buddha, die anrückende Armee abzufangen und auf indirektem Wege zur Umkehr zu bewegen. Beim vierten Versuch der Armee erkannte der Buddha jedoch, dass sein Eingreifen nicht mehr wirksam sein würde. Er erkannte, dass die Invasion die karmische Frucht der eigenen Handlungen der Shakyas in der Vergangenheit war, und so trat er angesichts der angreifenden Armee zur Seite. (Anālayo 2009, 736) Laut Joshua Mark: „Buddha soll geweint haben, als er die Nachricht erhielt, dass sein Clan fast ausgelöscht und seine Stadt zerstört worden war.“ (World History Encyclopedia) Mark schreibt die Tränen des Buddha jedoch der „buddhistischen Tradition“ zu, ohne weitere Hinweise zu geben.

Obwohl es in den frühen buddhistischen Schriften widersprüchliche Berichte über die Zerstörung der Shakyas gibt, wurde sie in den buddhistischen Gemeinschaften dennoch weithin geglaubt. Welche Botschaft vermittelt diese Geschichte angesichts dessen? Deutet sie darauf hin, dass der Buddha auch nach seinem Erwachen „an seinem Heimatboden hängen blieb“? Wenn, wie die Buddhisten behaupten, „Anhaftung“ die Ursache von Leiden und Tränen ist, war der erwachte Buddha dann zumindest bis zu einem gewissen Grad immer noch in diesem Bereich verstrickt? Hatte er das, was man als eine der grundlegendsten oder tiefsitzenden Anhaftungen an seinen Heimatboden und seine Bewohner bezeichnen könnte, noch nicht vollständig losgelassen? Kurzum, was hätte er tun sollen, wenn sich dieser Vorfall tatsächlich ereignet hätte?

Sollten wir angesichts der Tatsache, dass Shakyamuni Buddha erkannte, dass die Shakyas dieses Unglück durch ihre eigenen Handlungen selbst herbeigeführt hatten, erwarten, dass der Buddha dem Schicksal seiner Clan-Mitglieder gegenüber völlig gleichgültig gewesen wäre? 

Sollten wir als zeitgenössische Anhänger des Buddha von uns erwarten oder uns bemühen, unsere eigenen Anhaftungen oder Sorgen für das Wohlergehen unserer Landsleute loszulassen? Sollten wir im Falle einer Invasion zusehen, wie sie abgeschlachtet werden? 

Es erübrigt sich zu sagen, dass dies äußerst schwierige, wenn nicht gar kontroverse Fragen sind, die nur selten, wenn überhaupt, gestellt, geschweige denn beantwortet werden. Dennoch gibt es eine Lehre aus dieser Geschichte, die kristallklar ist: Obwohl er selbst zum Krieger ausgebildet wurde, weigerte sich der Buddha, Gewalt anzuwenden, selbst wenn die Existenz seines Heimatlandes auf dem Spiel stand.

Der Buddha berät über Krieg und Frieden

Das letzte Beispiel für das Eingreifen des Buddha auf politischem Gebiet soll sich in seinem 79. Jahr, kurz vor seinem Tod, ereignet haben. König Ajatasattu von Magadha erwog einen Krieg gegen die Stammeskonföderation der Vajji. Der König schickte einen Abgesandten, um den Buddha über seine Siegeschancen zu befragen. Der Buddha erklärte, er selbst habe die Vajjianer die Bedingungen für wahres Wohlergehen gelehrt, und als er erfuhr, dass die Vajjianer diese Bedingungen weiterhin befolgten, sagte er voraus, dass sie nicht besiegt werden würden. Als Ajatasattu dies hörte, gab er seinen Angriffsplan auf.

Bezeichnenderweise war die erste der sieben Bedingungen, die Shakyamuni die Vajjianer lehrte, dass sie „häufig öffentliche Versammlungen abhalten“ müssen. Zweitens müssen sie „sich in Übereinstimmung versammeln, sich in Übereinstimmung erheben und so handeln, wie sie es in Übereinstimmung tun sollen.“ (Victoria 2006, 194) Wie der bekannte buddhistische Gelehrte des frühen Buddhismus Mizuno Kōgen betonte, stellen diese Bedingungen „einen wirklich demokratischen Ansatz“ dar. Und wie Mizuno weiter erklärte: „Jede Gesellschaft, die diesen Regeln folgt, wird wahrscheinlich gedeihen und friedlich bleiben.“ (Victoria 2006, 194)

A. L. Basham schlägt seinerseits vor, dass Vorfälle wie die oben genannten die klare Unterstützung des Buddha für eine republikanische Regierungsform zeigen, mit dem Vorbehalt, dass wir von einer Regierungsform sprechen, in der es eine Exekutive gab – manchmal gewählt, manchmal erblich –, die von einer Versammlung von Familienoberhäuptern unterstützt wurde, die regelmäßig zusammenkamen, um Entscheidungen zu treffen, die das Gemeinwohl betrafen. (Basham 1959, 96)

In zeitgenössischerer Terminologie ausgedrückt, befürwortete Shakyamuni Buddha ein politisches Modell, das sich einer kleinen, direkten Demokratie annähert, obwohl auch überliefert ist, dass er Könige beraten hat und sich nicht gegen die Monarchie als Form der politischen Organisation aussprach.

Lektionen aus dem Leben des Buddha

Erstens ist es klar, dass der Buddha nach seinem Erwachen eine aktive Rolle in den Angelegenheiten der Welt um ihn herum übernahm. Obwohl er nicht immer erfolgreich war, hat er sich bemüht, den Ausbruch von Kriegen zu verhindern. Im ersten Fall, der oben vorgestellt wurde, tat er dies nicht, indem er sich auf das Gebot berief, anderen nicht zu schaden, sondern durch etwas, das man als Appell an den gesunden Menschenverstand „an die Krieg führenden Parteien bezeichnen könnte – ein frühes Beispiel für geschickte Mittel“ (Sanskrit: upaya). Obwohl Zweifel über die Historizität der oben genannten Vorfälle bestehen bleiben, zeigen sie zumindest, was eine große Anzahl von Buddhistinnen und Buddhisten im Laufe der Jahrhunderte über das soziale Engagement des Buddha, wenn nicht gar über sein soziales Bewusstsein, geglaubt haben. In dieser Hinsicht bieten sie eine starke Unterstützung für das, was moderne Buddhist:innen heute als „engagierten Buddhismus“ bezeichnen.

Es gibt jedoch zwei wichtige Vorbehalte gegen das soziale Engagement des Buddha. Erstens engagierte er sich erst nach seinem Erwachenserlebnis, nicht vor oder während seiner spirituellen Praxis. Zweitens waren seinem Handeln selbst auferlegte Grenzen gesetzt, wie zum Beispiel seine Weigerung, Gewalt anzuwenden, um die Zerstörung sogar seines eigenen Heimatlandes zu verhindern.

Wie viele Buddhist:innen wären trotz ihres Gelöbnisses, keinen Schaden anzurichten, bereit, die Zerstörung ihrer Heimat durch eine einmarschierende Armee zuzulassen, wenn sie in der Lage wären, dies zu verhindern? Wie die weitere buddhistische Geschichte zeigt, gab es viele Buddhist:innen, sowohl Mönche als auch Laien, die Gewalt angewendet haben, um ihre Heimat zu verteidigen, wobei sie sich oft auf die buddhistischen Lehren beriefen, um ihr Handeln zu rechtfertigen. Wenn jedoch die angeblichen Taten des Shakyamuni Buddha von den heutigen Buddhist:innen als Maßstab genommen werden, dann muss die Weigerung des Buddha, Gewalt zur Verteidigung seines Heimatlandes anzuwenden, als klarer Hinweis darauf gelten, was er von seinen Anhängerinnen und Anhängern erwartete. Ist dieser Maßstab zu hoch gegriffen?

Kaiser Ashoka, der „ideale“ buddhistische Herrscher?

Buddhisten haben König Ashoka (ca. 304-232 v. Chr.) lange Zeit als das archetypische Ideal eines buddhistischen Herrschers, eines so genannten „Universalmonarchen“, betrachtet, wenn nicht gar verehrt. Einerseits kann kein Zweifel daran bestehen, dass Ashoka viel zur Verbreitung des Buddhismus im alten Asien beigetragen hat, da er, zumindest nach seiner Konversion, dem Buddhadharma zutiefst verpflichtet war. Doch wie bei fast allen großen Persönlichkeiten der Geschichte gibt es auch bei Ashoka eine weniger attraktive Seite, die nur selten diskutiert wird. Diese weniger attraktive Seite wirft zudem die Frage auf, welchen „negativen Ballast“ er und ähnlich Gesinnte der buddhistischenTradition hinterlassen haben.

A. L. Basham ist einer der Gelehrten, die Ashokas weniger attraktive Seite hervorgehoben haben. So stellt Basham fest, dass Ashoka nachweislich weiterhin eine Armee unterhielt und Gewalt gegen Stammesgruppen anwendete, die sein Reich angriffen. (Victoria 2006, 197) Darüber hinaus wird in einer buddhistischen Beschreibung von Ashokas Leben im Sanskritbuch Ashokavandana erwähnt, dass er einmal 18 000 nichtbuddhistische Anhänger:innen, wahrscheinlich Jains, wegen einer kleinen Beleidigung des Buddhismus hinrichten ließ. Bei einer anderen Gelegenheit soll Ashoka einen Jain-Anhänger und dessen gesamte Familie in sein Haus gezwungen haben, das er anschließend niederbrennen ließ. Ashoka hielt auch die Todesstrafe für Kriminelle aufrecht, darunter auch für seine eigene Frau Tisyaraksita, die er hinrichten ließ. Angesichts dieser und ähnlicher Taten kann man auch sagen, dass Ashoka ein archetypischer „Verteidiger des Glaubens“ war, für den Gewalt unter bestimmten Umständen eine gangbare Option blieb.

Ebenso wichtig ist, dass Ashokas Reue darüber, dass er vor seiner Bekehrung zum Buddhismus mehr als 100 000 Einwohner von Kalinga getötet hatte, ihn nicht dazu veranlasste, den Bewohnern der von ihm eroberten Länder die Freiheit zurückzugeben. Stattdessen fuhr Ashoka fort, sie alle als integralen Bestandteil seines Reiches zu betrachten, denn „er gab seine kaiserlichen Ambitionen keineswegs auf“. (Basham 1959, 54) Da in vielen von Ashokas Edikten nur die Unterstützung des „Dharma“ (ein gesamtindischer politisch-religiöser Begriff) und nicht des Buddhadharma erwähnt wird, kann man argumentieren, dass er sich auf den „Dharma“ nicht so sehr aus Verbundenheit mit dem Buddhismus und seinen Idealen berief, sondern als transnationale und transethnische universelle Ideologie, die notwendig war, um die Macht zu zentralisieren, die Einheit unter den verschiedenen Völkern zu wahren und Recht und Ordnung in seinem Reich zu fördern.

Selbst wenn man nicht so weit geht, kann man zumindest sagen, dass Ashoka mit der Förderung des Buddhismus und der Etablierung von Shakyamuni Buddha im größten Teil des indischen Subkontinents eindeutig auch sein eigenes Königtum förderte und sich selbst etablierte. (Strong 1983, 131) Das heißt, eine Allianz aus Politik und Religion war geboren. Das ist wichtig zu wissen, denn Ashoka mag zwar der erste gewesen sein, der den Buddhismus für das nutzte, was wir als politische Zwecke bezeichnen würden, aber er war sicher nicht der letzte, der dies tat, wie wir sehen werden, wenn wir die Entwicklung des Buddhismus in anderen asiatischen Ländern untersuchen.

Der indische politische Philosoph Vishwanath Prasad Varma wies darauf hin, dass aufgrund von Ashokas königlicher Schirmherrschaft „der Sangha mit königlichen und aristokratischen Zugehörigkeiten kontaminiert wurde“. (Varma 1973, 432) In ähnlicher Weise stellte der erste buddhistische Gelehrte T. W. Rhys Davids fest, dass die enge Verbindung des Sangha mit Ashoka „der erste Schritt auf dem Weg des Abstiegs des Buddhismus war, der erste Schritt zu seiner Vertreibung aus Indien“. (Rhys Davids 1925, 222)

Manche mögen diese Aussagen als extrem empfinden, aber es ist klar, dass Ashoka sehr viel Macht über den Sangha hatte. In einem zweiten buddhistischen Bericht über Ashokas Leben, der in der Pali Mahavamsa (Große Chronik) enthalten ist, war Ashoka beispielsweise mit Hilfe des großen Ältesten Moggaliputta Tissa dafür verantwortlich, nicht weniger als 60 000 Sangha-Mitglieder zu verstoßen, die „falsche Ansichten“ vertraten. (Strong 1983, 23) Und nicht nur das: Ashoka hatte die Macht und Autorität, Passagen aus den Sutras vorzuschreiben, die die Sangha-Mitglieder zu studieren hatten. Diejenigen, die dies nicht taten, konnten von den von ihm ernannten Beamten des Amtes enthoben werden. (Basham 1959, 56) Außerdem war es während Ashokas Herrschaft notwendig, seine Erlaubnis zu erhalten, um überhaupt in die Priesterschaft eintreten zu können. (Strong 1983, 87)

Kurz gesagt, während Ashokas Herrschaft, wenn nicht schon vorher, wurde das Raja Dharma (Gesetz des Souveräns) tief in den Buddhadharma einbezogen, wenn auch noch nicht vollständig kontrolliert. Dies ist eine wahrhaft bedeutsame Veränderung, wenn man bedenkt, dass der Sangha, wie sie von Shakyamuni Buddha formuliert wurde, eine vollständig selbstverwaltete Einheit war, mit internen Mechanismen, um diejenigen auszuschließen, die sich nicht an die Gebote hielten. Doch welcher ehrgeizige Monarch würde nicht wünschen, so viel wie möglich von dem Gebilde zu kontrollieren, das die spirituelle Rechtfertigung für seine Herrschaft lieferte?

In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass sowohl Basham als auch Rhys Davids das Konzept eines so genannten universellen Monarchen oder chakravarti (Rad drehender König) erst nach der Herrschaft des indischen Königs Candragupta, der den Thron irgendwann am Ende des vierten Jahrhunderts v. Chr. bestieg und Ashokas Vater war, in buddhistischen Kreisen bekannt wurde. (Basham 1959, 83; Rhys Davids 1925, 18-19) 

Daher sollte die Idee eines universellen Monarchen, der einerseits als Beschützer des Buddhadharma und andererseits als Empfänger des Schutzes des Buddhadharma diente, nicht als eine Lehre des Shakyamuni Buddha selbst angesehen werden. Stattdessen ist sie am besten als eine spätere Hinzufügung aus nichtbuddhistischen Quellen zu verstehen, die „eine Inspiration für ehrgeizige Monarchen war … einige von ihnen beanspruchten, selbst Universalmonarchen zu sein“. (Basham 1959, 83) Es ist auch bezeichnend, dass Ashoka als universeller Monarch und Dharma-Beschützer den persönlichen Titel Dharma Raja (Dharma-König) erhielt, einen Titel, den er mit Shakyamuni Buddha selbst teilte. (Strong 1983, 61) Diese gemeinsame Nutzung von Titeln, die im Wesentlichen eine Einheit von Buddhismus und Staat darstellte, sollte in der späteren buddhistischen Geschichte eine wichtige Rolle spielen. Die Einheit von Buddhismus und Staat ermöglichte es den politischen Herrschern des Staates, den Buddhadharma zur Bestätigung ihrer Herrschaft und ihrer Erlasse zu nutzen.

In den Jataka-Geschichten (Wiedergeburtsgeschichten) finden wir eine Beschreibung der Zehn Pflichten eines Königs, die die Forderung enthalten, dass der Herrscher sich von allem fernhalten soll, was Gewalt und die Zerstörung von Leben beinhaltet. Der Herrscher wird außerdem ermahnt, frei von Egoismus, Hass und Falschheit zu sein und bereit, auf allen persönlichen Komfort, Ruf und Ruhm, wenn nötig sogar auf sein eigenes Leben, zu verzichten, um das Wohl des Volkes zu fördern. Darüber hinaus ist es die Aufgabe des Königs, den Bauern und Landwirten Getreide und andere landwirtschaftliche Erzeugnisse zur Verfügung zu stellen, den Händlern und Gewerbetreibenden Kapital zu geben und den Beschäftigten angemessene Löhne zu zahlen. Wenn die Menschen über ein ausreichendes Einkommen verfügten, so wurde festgestellt, seien sie zufrieden und hätten keine Angst oder Sorgen. Folglich würde das Land friedlich und frei von Kriminalität sein. (Walpola 1974, 81-89)

Doch es ist eine Sache, die königlichen Pflichten abstrakt darzustellen, und eine andere, einen König zu finden, der sie tatsächlich praktiziert. Und was sollten die Buddhist:innen tun, wenn der König oder Herrscher die zehn Pflichten eines Königs nicht erfüllte? Sollten sie ihn ermahnen und, wenn das nicht gelang, versuchen, ihn zu stürzen und dabei sogar Gewalt anwenden? Im Laufe der Jahrhunderte hat es sicherlich Buddhisten gegeben, die genau das versucht haben.

Buddhismus in Ostasien

Eines der deutlichsten und frühesten Beispiele für die politische Nutzung des Buddhadharma in China ist Kaiser Wen aus der Sui-Dynastie im späten sechsten Jahrhundert. Wen nahm zum ersten Mal die spirituelle Hilfe buddhistischer Mönche für seine militärischen Feldzüge in Anspruch und baute damit einen Präzedenzfall aus, der zumindest in Nordchina bereits seit mehr als 200 Jahren bestand. So ließ er an den Orten, an denen er und sein Vater wichtige Schlachten gewonnen hatten, Tempel errichten und befahl den Tempelpriestern, Gedenkgottesdienste für die Seelen seiner gefallenen Soldaten abzuhalten. Mitten in der Planung künftiger Feldzüge wollte Wen seinen Anhängern versichern, dass man sich auch um ihre Seelen kümmern würde, sollten sie selbst auf einem künftigen Schlachtfeld fallen. (Victoria 2006, 201)

Wens so genannte Innovation war seine Entschlossenheit, den Buddhismus als Methode zur Einigung ganz Chinas einzusetzen. Er bezeichnete sich selbst als universellen Monarchen und erklärte kurz nach der Gründung der Sui-Dynastie im Jahr 581 n. Chr:

Mit der bewaffneten Macht eines Cakravartin-Königs verbreiten wir die Ideale des letzten Wohlwollenden [d. h. des Buddha]. Mit hundert Siegen und hundert Schlachten fördern Wir die Praxis der Zehn Buddhistischen Tugenden. Deshalb betrachten Wir die Waffen des Krieges als wie Weihrauch und Blumen [die dem Buddha als Opfergaben dargebracht werden] und die Felder dieser sichtbaren Welt als für immer identisch mit dem Land des Buddha.

(Victoria 2006, 201)

Um seine Position weiter zu festigen, gab sich Wen den Titel „Bodhisattva-Sohn des Himmels“ und ließ in ganz China Hunderte von Stupas errichten, in denen buddhistische Reliquien aufbewahrt wurden. Dies geschah, um den Eindruck zu erwecken, dass er und sein gesamtes Reich in ihrem Glauben an den Buddhismus vereint waren. Damit eiferte Wen wieder einmal ähnlichen frommen Taten des anderen großen Erbauers des Reiches, Ashoka, nach. Ashoka ließ angeblich nicht weniger als 84 000 Stupas in seinem gesamten Reich errichten (die dank einer rechtzeitigen Sonnenfinsternis alle genau zum selben Zeitpunkt eingeweiht worden sein sollen). (Victoria 2006, 201)

Ein zweites Beispiel ist der Gründer der Ming-Dynastie, Zhu Yuanzhang, ein buddhistischer Mönch, der sich 1352 dem Aufstand der Roten Turbane gegen die mongolischen Herrscher in China anschloss. Nachdem er zum Anführer einer Rebellenarmee geworden war, gewann Zhu die Menschen auf seine Seite, indem er seinen Soldaten verbot zu plündern, um den religiösen Glauben des Weißen Lotus, der vom Reinen Land inspiriert war, zu wahren. Im Jahr 1356 eroberte Zhus Rebellenarmee die Stadt Nanjing, die er anschließend zur Hauptstadt der Ming-Dynastie machte. Bezeichnenderweise rechtfertigten die frühen Ming-Kaiser ihre Herrschaft damit, dass sie ebenfalls Universalmonarchen waren – ein Status, der sie dazu berechtigte, über die verschiedenen Völker in ihrem Reich zu herrschen, darunter nicht nur Han-Chinesen, sondern auch zentralasiatische Muslime, Tibeter und Mongolen, um nur einige zu nennen.

Während Zhu Yuanzhang bei der Gründung der Ming-Dynastie seinen klerikalen Status aufgegeben hatte, übten in Japan die sohei oder „Kriegermönche“ der späten Heian-Zeit (794-1185) ihre politische Macht noch in ihren Roben aus. Anders als Zhu versuchten sie nicht, eine neue Dynastie zu gründen, sondern versuchten stattdessen, kaiserliche Gunst für die Schulen zu erlangen, mit denen sie verbunden waren, insbesondere für die Tendai-Schule auf dem Berg Hiei außerhalb von Kyoto. Obwohl einige Gelehrte glauben, dass diese Mönche kaum mehr als angeheuerte Schläger waren, rechtfertigten sie ihre Gewalttaten, insbesondere gegen andere Schulen, im Namen des „Schutzes des Buddhadharma“ vor denen, die ihn verunreinigen wollten. Die „Reinigung der Sangha“ von außen, die Ashoka in Indien begonnen hatte, wurde zu einem universellen Phänomen in ganz Asien, das die Anwendung von Gewalt rechtfertigte, wenn sie für notwendig erachtet wurde.

Auch wenn man argumentieren könnte, dass der Sangha relativ gesehen nur selten direkt in politische Rebellion und Intrigen verwickelt war, so spielte sie doch eine viel wichtigere Rolle bei der Unterstützung der Herrscher in den buddhistischen Ländern Asiens. Besonders deutlich wird diese Rolle in China, Korea und Japan. Jedes dieser Länder betrachtete den Buddhismus als eine Religion, die in der Lage war, „den Staat zu schützen“ (Chinesisch: baoguo fojiao; Koreanisch: holguk bulgyo; Japanisch: gokoku bukkyo oder chingo kokka).

Es versteht sich von selbst, dass es nie wichtiger ist, den Staat zu schützen, als wenn er von außen angegriffen wird. Der japanische Buddhismus spielte durch Rituale und esoterische Zaubersprüche eine wichtige Rolle beim Schutz Japans vor den wiederholten Mongoleninvasionen im 13. Jahrhundert. Darüber hinaus wird berichtet, dass der damals in Japan neu eingeführte Zen dem japanischen Militärherrscher Hojo Tokimune einen furchtlosen Kampfgeist einflößte, dank der Ausbildung, die er von Mugaku Sogen (Chinesisch: Wuxue Zuyuan) erhielt, einem chinesischen Zen-Meister, der selbst ein Flüchtling vor der früheren mongolischen Unterwerfung seines Landes war.

In Korea rief König Seonjo zur Zeit der japanischen Invasion Ende des 16. Jahrhunderts alle Mönche auf, zu den Waffen zu greifen. Daraufhin schrieb ein buddhistischer Führer namens Hyujeong: „Ach, der Weg des Himmels ist nicht mehr. Das Schicksal des Landes ist im Niedergang begriffen. Unter Missachtung des Himmels und der Vernunft hat der grausame Feind die Kühnheit besessen, mit tausend Schiffen das Meer zu überqueren“

Hyujeong behauptete, die Brutalität der japanischen Samurai rechtfertige es, das buddhistische Gebot, das das Töten verbietet, aufzugeben, um die Schwachen und Unschuldigen zu schützen. Hyujeong schloss seinen Appell mit einem Aufruf an alle fähigen Mönche, „die Rüstung der Barmherzigkeit der Bodhisattvas anzulegen, das kostbare Schwert in der Hand zu halten, um den Teufel zu fällen, den Blitz der Acht Gottheiten zu schwingen und vorzutreten!“ (Turnbull 2008, 46) In der ersten Instanz sollen 8 000 Mönche zu den Waffen gegriffen haben, und der Patriotismus, den sie und die kriegerischen Mönche, die ihnen folgten, bis heute in Korea zelebrieren.

Was die Japaner betrifft, so wurden die einmarschierenden Samurai-Armeen von ihren eigenen buddhistischen Kaplänen begleitet. Darüber hinaus war einer der japanischen Befehlshaber, Kato Kiyomasa, ein gläubiger Anhänger der Nichiren-Schule, einer äußerst militanten und auf Japan konzentrierten Form des Buddhismus. Katos Kampfstandarte war ein weißer Wimpel mit einer Botschaft, die angeblich von Nichiren, dem Gründer der Schule, verfasst worden war. Sie lautete Namu Myōhō Renge Kyo: „Ich nehme Zuflucht zum Lotus-Sutra.“ (Turnbull 2008, 16) Die Streitkräfte auf beiden Seiten des Krieges verließen sich also auf ihren Glauben an den Buddhismus, um den Sieg zu erringen. Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass sich solche Vorfälle in angeblich buddhistischen Ländern ereigneten.

Der Sangha als Diener des Staates

Selbst diese kursorische Betrachtung der politischen Entwicklung des Buddhismus nach Ashoka sollte zuallererst deutlich machen, dass der Buddhismus eine lange und enge Beziehung zum Staat hatte, und zwar überwiegend in der Rolle seines Dieners und Beschützers. In diesem Sinne war der Buddhismus immer mit der Gesellschaft „verlobt“, wenn auch als Unterstützungsmechanismus für die Herrscher des Staates.

Das beste Beispiel für diese Unterstützung ist die Schaffung der Dalai-Lama-Linie und des Dalai-Lama-Systems in Tibet auf Anweisung des mongolischen Kriegsherrn Altan Khan, eines Nachfahren von Dschingis Khan.

Altan machte die Gelbmützenschule (tibetisch: Dge-lugs-pa oder Gelug-pa) des Buddhismus zur offiziellen Religion Tibets und verlieh dem Oberhaupt der Schule, Sonam Gyatso, 1580 den mongolischen Titel „Dalai“ Lama. Altan sorgte dafür, dass sein Urenkel Yonten Gyatso der neue Dalai Lama wurde, als das Gelug-Oberhaupt starb.

Statue von Altan Khan in Horhot, Innere Mongolei. Aus wikimedia.org

Mit mongolischer Militärhilfe zerschlugen spätere Dalai Lamas die rivalisierende und etabliertere Karma-pa-Schule (Rot- oder Schwarzhut) in Tibet und wurden schließlich die geistigen und weltlichen Herrscher des Landes. Welch eine Ironie, dass Jahrhunderte vor Maos Verfolgung der tibetischen Buddhisten in den 1950er Jahren die Anhänger einer Schule des tibetischen Buddhismus von ihren buddhistischen Mitbürgern verfolgt wurden. Außerdem fand diese Verfolgung in Verbindung mit der Schaffung einer Theokratie statt, in der Buddhismus und Staat eins wurden.

Trotz der Schaffung einer tibetisch-buddhistischen Theokratie gab es kleinere, wenn auch seltene Zwischenfälle, die zeigten, dass der Buddhismus eine alternative Vision zu der eines hierarchisch starren Feudalstaates mit Herrschern an der Spitze, die absolute Macht ausübten, hatte. Im Falle Japans zum Beispiel bestand ein solcher kleiner und letztlich erfolgloser Vorfall in einer Reihe von Bauernaufständen, die unter dem Namen ikko-ikki bekannt waren und der Schule des Wahren Reinen Landes (Jodo-shinshu) angehörten. Diese Aufstände wurden im 15. und 16. Jahrhundert in verschiedenen Regionen Japans von rebellischen oder autonomen Gruppen durchgeführt, die sich auf die Macht der Schule des Wahren Reinen Landes stützten. Sie bestanden hauptsächlich aus der Schule angehörenden Priestern, Bauern, Kaufleuten und Samurai niederen Ranges, die sich den Gouverneuren und Feudalherren der Zentralregierung widersetzten und ein Reines Land auf der Erde errichten wollten. Zu ihren häufigsten Schlachtrufen auf dem Schlachtfeld gehörte der nenbutsu-Gesang: „Ich nehme Zuflucht zu Amida Buddha!“ (japanisch: Namu Amida Butsu) und „Wer voranschreitet, dem ist das Heil sicher, wer sich aber zurückzieht, kommt in die Hölle!“ (Turnbull 2003, 32-41)

Die Seltenheit und Unwirksamkeit solcher Vorfälle unterstreicht jedoch nur die seit langem bestehende Unterwürfigkeit des Buddhismus gegenüber dem Staat. Diese Unterwürfigkeit hilft uns jedoch zu verstehen, warum der Buddhismus mit dem Aufkommen des modernen Nationalismus bis in die Gegenwart hinein noch unterwürfiger gegenüber dem Staat wurde. Er wurde noch unterwürfiger in dem Sinne, dass der Buddhismus gut geeignet war, als Methode zu dienen, alle Menschen eines Staates zu einem mächtigen Ganzen zu vereinen. Dies war nie wichtiger als mit dem Aufkommen des totalen Krieges im 20. Jahrhundert, als die Förderung absoluter und bedingungsloser Loyalität bis in den Tod zu einem der höchsten Ziele wurde, die der Staat seinen Bürgern auferlegen wollte.

Oberstleutnant Sugimoto Goro war ein im Zen ausgebildeter Offizier im Zweiten Weltkrieg und Schüler von Rinzai-Zen-Meister Yamazaki Ekiju. Yamazaki zufolge war Sugimotos „Praxis vollständig“. Mit anderen Worten, sein Schüler war vollständig erleuchtet. Was Sugimoto betrifft, so erklärte er:

Der japanische Buddhismus muss auf den Kaiser zentriert sein, denn sonst hätte er keinen Platz in Japan, es wäre kein lebendiger Buddhismus. Der Buddhismus, einschließlich der Lehre von Shakyamuni, muss mit der nationalen Politik Japans übereinstimmen. … Der gesamte japanische Buddhismus sollte Seine Majestät, den Kaiser, als zentrales Objekt der Verehrung haben. 

(Victoria 2006, 122)

Sugimoto zufolge war es die „Egolosigkeit“, die es den kaiserlichen Untertanen ermöglichte, mit dem Kaiser eins zu werden. Sugimoto schrieb:

Das Wesen der Einheit von Herrscher und Volk ist die Egolosigkeit. Egolosigkeit und Selbstauslöschung sind ganz sicher keine getrennten Zustände. Im Gegenteil, man kommt zu der Erkenntnis, dass sie identisch sind. 

Victoria 2006, 123

Da Sugimoto durch seine buddhistische Praxis einen Zustand der Egolosigkeit anstrebte, kann man schwerlich behaupten, dass er im Widerspruch zu Shakyamuni Buddhas grundlegender Lehre über die Bedeutung der Überwindung der Bindung an das individuelle Ego stand. In der Tat kann man sagen, dass Sugimotos unermüdlicher Einsatz für Japans Kriegsanstrengungen, der 1937 zu seinem Tod auf dem Schlachtfeld führte, genau dies bewies. Er war in der Tat „selbstlos“ und völlig eins mit etwas, das viel größer war als er selbst, nämlich mit dem Staat in der Person des Kaisers. Bedeutet dies, dass Sugimoto als Verkörperung der Selbstlosigkeit angesehen, ja sogar verehrt werden sollte?

Weitere Beispiele

Bevor wir versuchen, diese Frage zu beantworten, ist es wichtig zu wissen, dass jede buddhistische Tradition und Schule versucht hat, ihre eigene Interpretation oder Antwort zu finden. Zum Beispiel erklärte die Schule des Wahren Reinen Landes im Japan der Kriegszeit:

„In der Sekte des Wahren Reinen Landes kann es keine Lehre geben, die nicht die Unterwerfung unter das kaiserliche nationale Gemeinwesen befürwortet. Das heißt, es ist möglich, ein guter kaiserlicher Untertan zu sein, weil man in Amidas Erlösung verankert ist.“ 

Victoria 2006, 85

Mit anderen Worten: Dank der Erlösung durch das ursprüngliche Gelübde des Buddha Amida ist es möglich, die Anhaftung an das individuelle Ego zu überwinden und sich dem Staat und seinem Diktat zu unterwerfen.

Die Theravada-Tradition hat ihrerseits im Allgemeinen eine andere buddhistische Doktrin zur Förderung oder Rechtfertigung der Unterstützung des Staates verwendet. Das heißt, die Pflicht, den Buddhadharma zu schützen, wurde und bleibt die grundlegende Ethik für die Identifikation mit dem Staat, einschließlich, wenn nötig, der Anwendung von Gewalt zu dessen Verteidigung. Die Vereinigung zum Schutz von Rasse und Religion (PAB, birmanische Abkürzung MaBaTha) ist eine nationalistische buddhistische Organisation in Myanmar. Die PAB wurde am 15. Januar 2014 formell gegründet und hat die Aufgabe, den Theravada-Buddhismus in Myanmar zu verteidigen. Der Mönch Ashin Wirathu ist der bekannteste, wenn auch umstrittenste Anführer der PAB.

Wie andere führende Persönlichkeiten in der PAB bezeichnet sich Wirathu als Nationalist. Er hält Predigten, in denen er behauptet, dass die Muslim:as, die schätzungsweise 4-8 Prozent der Bevölkerung Myanmars ausmachen, die 90 Prozent der Buddhist:innen in Myanmar zahlenmäßig zu übertreffen drohen. Wirathu erklärte:

„Man kann voller Freundlichkeit und Liebe sein, aber man kann nicht neben einem verrückten Hund schlafen. Ich nenne sie [die Muslim:as] Unruhestifter, weil sie Unruhestifter sind. … Ich bin stolz darauf, ein radikaler Buddhist genannt zu werden.“ 

Fuller 2013

Konkret hat Wirathu zu gesetzlichen Beschränkungen für Ehen zwischen Buddhist:innen und Muslim:as sowie zum Boykott von Unternehmen in muslimischem Besitz aufgerufen. Im Januar 2015 bezeichnete Wirathu die Gesandte der Vereinten Nationen, Yanghee Lee, öffentlich als „Schlampe“ und „Hure“, nachdem sie die Lobbykampagne der PAB für die Gesetzgebung öffentlich kritisiert hatte. An Lee gewandt sagte Wirathu in einer Predigt vor seinen applaudierenden Anhänger:innen: „Du kannst deinen Arsch den Kalars [abwertende Bezeichnung für Muslim:as] anbieten, aber du wirst niemals unseren Rakhine-Staat verkaufen!“ (Dilip, 2015)

Es ist bekannt, dass die gegenwärtige Militärführung Myanmars einen wichtigen Beitrag zum PAB geleistet hat, da dessen Aufrufe zum Schutz des Buddhismus und der Identität der Nation die oft zitierte Rechtfertigung für die andauernde politische Diktatur des Militärs widerspiegeln. Der Titel des PAB ruft zwar nicht zum Schutz des „Staates“ auf, wohl aber zum Schutz der „Rasse“, also der 68 Prozent der Bevölkerung Myanmars, die der ethnischen Gruppe der Bamar angehören und mehrheitlich buddhistisch sind. Die Forderung nach dem Schutz der „Rasse“ bedeutet also den Schutz des Staates vor nicht-buddhistischen Gruppen in Myanmar, vor allem vor Muslimen, aber auch vor Christen.

In Sri Lanka wurde im Februar 2004 eine politische Partei gegründet, deren Vertreter ausschließlich aus Mönchen bestehen. Unter dem Namen Jathika Hela Urumaya (JHU) oder National Heritage Party (Partei des nationalen Erbes) behaupten ihre Mönchsführer, dass Sri Lanka das „Land des Buddha“ sei, und glauben, dass sie den Buddhismus und die singhalesische Kultur, die „eine Einheit“ bilden, schützen müssen. Während die Partei die sozioökonomische Lage der singhalesischen Mehrheitsbevölkerung verbessern will, lehnt sie die Selbstverwaltung der tamilischen, nichtbuddhistischen Minderheit ab und fordert, dass alle Moscheen, Kirchen und nichtbuddhistischen Einrichtungen in Kandy abgeschafft werden müssen, da diese Stadt den Buddhisten heilig ist.

Es sei darauf hingewiesen, dass die Bodu Bala Sena (BBS, übersetzt als Buddhist Power Force) eine abtrünnige Organisation ist, die noch extremer ist als die JHU. Am 17. Februar 2013 organisierte die BBS eine Versammlung in Colombo, an der rund 16 000 Menschen, darunter 1 300 Mönche, teilnahmen. Auf der Kundgebung erklärte der Generalsekretär der BBS, Galagoda Aththe Gnanasara:

 „Dies ist eine Regierung, die von singhalesischen Buddhist:innen geschaffen wurde, und sie muss singhalesisch-buddhistisch bleiben. Dies ist ein singhalesisches Land, eine singhalesische Regierung. Demokratische und pluralistische Werte bringen die singhalesische Rasse um.“Gnanasara fügte hinzu: „Von heute an muss jede:r von Ihnen zu einer inoffiziellen Zivilpolizei gegen muslimisches Gehabe werden. Diese sogenannten Demokraten zerstören die singhalesische Rasse.“ 

Al Maeena 2013

So verteidigen die Buddhist:innen in Sri Lanka, wie ihre Kolleg:innen in Myanmar, nicht nur den mit dem Staat identifizierten Buddhadharma, sondern auch ihre „Rasse“. Einmal mehr muss die Frage gestellt werden, ob dies die Lehre des Shakyamuni Buddha ist.

Auf dem Weg zu einem tieferen Verständnis der „Nicht-Anhaftung“ an das Selbst 

Ausgehend von den obigen Ausführungen behaupte ich, dass es in der gesamten buddhistischen Welt seit langem ein grundlegendes Missverständnis der „Selbstlosigkeit“ oder der Nichtanhaftung an das Selbst oder das Ego gibt und auch weiterhin geben wird, insbesondere in Bezug auf den Staat. Der einzelne Anhänger, die einzelne Anhängerin des Buddhismus, ob Mönch oder Laie, identifiziert die Selbstlosigkeit des Individuums nur allzu leicht mit dem Staat, wie er im modernen Nationalismus verstanden wird. Allzu viele, wenn nicht sogar die Mehrheit der Buddhisten glauben, dass sie die Anhaftung an das Selbst transzendiert (oder die Ichlosigkeit verwirklicht) haben, wenn sie ihren Glauben mit dem Staat identifizieren, ohne zu verstehen, dass der Staat in Wirklichkeit das kollektive Ego seiner Bürger darstellt. Mit anderen Worten: Ist die Identifikation mit dem Staat ohne wesentliche Einschränkung nicht repräsentativ für die kollektive Selbstbezogenheit oder den Egoismus seiner Bürger?

Mit anderen Worten, sie haben nicht verstanden, dass der Buddha mārga (Pfad) nicht nur die Überwindung der Anhaftung an das individuelle Ego erfordert, sondern darüber hinaus auch die Nichtanhaftung an das kollektive Ego des eigenen Staates/der eigenen ethnischen Gruppe oder überhaupt an eine begrenzte Gruppe.

Natürlich haben sich diejenigen, die die Gelübde eines Bodhisattvas abgelegt haben, mit Worten dem Wohlergehen aller fühlenden Wesen verpflichtet, so zahlreich sie auch sein mögen. Doch wie man im Japan der Kriegszeit und in anderen buddhistischen Ländern wie dem heutigen Myanmar und Sri Lanka sehr deutlich sehen konnte, hat die große Mehrheit des buddhistischen Sangha, sowohl der Laien als auch der Mönche, ihre Sorge auf ihre eigene ethnische Gruppe oder Nation beschränkt, sogar auf Kosten des Wohlergehens der anderen. Mit anderen Worten, sie richten den Buddhadharma nach dem Diktat des modernen Nationalismus und seiner Forderung nach „patriotischer Selbstaufopferung“ zum Wohle der eigenen Nation aus.

Im japanischen Buddhismus bedeutet das chinesische Schriftzeichen für „buddhistischer Geistlicher werden“ wörtlich „das Haus verlassen“ (japanisch: shukke). Man kann sagen, dass dies genau das war, was Shakyamuni Buddha tat, als er seine spirituelle Praxis begann. Wenn man jedoch über die buddhistische Geschichte im Laufe der Jahrhunderte nachdenkt, insbesondere in der Ära des modernen Nationalismus, wird deutlich, dass nur sehr wenige buddhistische Praktizierende erkannten, dass es erstens etwas gibt, das „kollektives Ego“ genannt wird, und dass sie zweitens auch „ihre Nationen/ethnischen Gruppen verlassen“ müssten, wenn sie wirklich die Anhaftung sowohl an das individuelle Ego als auch an das kollektive Ego transzendieren wollten, um allen fühlenden Wesen zu nützen, ohne Rücksicht auf Nationalität, Rasse, Geschlecht, Alter und so weiter.

Würde man diejenigen, die wirklich „ihre Heimat verlassen“ haben, fragen: „Welche Nationalität haben Sie?“, würden sie antworten: „Ich habe keine.“ Oder, im Gegenteil, sie könnten antworten: „Alle Nationalitäten“. Oder sie könnten sogar antworten: „Ich bin ein Bürger von Buddhaland“. Würde man sie dann fragen: „Wo ist dieses Buddhaland, ich habe noch nie davon gehört?“, könnten sie antworten: „Buddhaland erstreckt sich bis in die Weiten des Universums, das wir bewohnen. Und sollte sich herausstellen, dass wir in einem Multiversum oder einem zyklischen Universum leben, würde es auch in all diesen Universen zu finden sein.“

Sicherlich ist der Buddhismus bei weitem nicht die einzige Religion, der es nicht gelungen ist, die Bindung an das kollektive Ego der eigenen Nation oder Gruppe zu überwinden. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass alle Religionen trotz ihrer Worte der universellen Sorge um die Menschheit nicht in der Lage sind, in der Praxis ihre Bindung an das Wohlergehen der eigenen Nation oder Gruppe zu überwinden. Man braucht nur einen Blick auf den wachsenden politischen Einfluss des konservativen christlichen Nationalismus in den USA zu werfen, um zu erkennen, wie gefährlich die Einheit von Religion und Staat sein kann. Wenn also Buddhist:innen in großer Zahl in der Lage wären, die Bindung an das kollektive Ego ihrer Nation zu überwinden – nicht nur in Worten, sondern, was noch viel wichtiger ist, in Taten – dann wären sie die Ersten! Tatsächlich können wir dank Friedensaktivisten wie dem verstorbenen Thich Nhat Hanh und Sulak Sivaraksa sowie Organisationen wie dem International Network of Engaged Buddhists erste Versuche von Buddhist:innen beobachten, länderübergreifende „Gewaltlosigkeit“ losgelöst vom Nationalismus zu fördern.

Ich bin nicht der naiven Überzeugung, dass es einfach ist, das kollektive Ego des Staates oder der eigenen Gruppe zu überwinden. Dennoch glaube ich, dass der Buddhismus zumindest lehrmäßig dazu in der Lage ist, denn Nationalismus kann leicht als Anhänglichkeit an eine Ideologie betrachtet werden, die über die Zugehörigkeit, die sie in den Köpfen ihrer Anhänger fördert, hinaus keine eigene Substanz hat. In der Tageszeitung The Guardian zitiert Gaia Vince den Politikwissenschaftler Benedict Anderson: Nationalstaaten sind nichts anderes als „eingebildete Gemeinschaften“. (The Guardian)

So können Buddhisten leicht erkennen, dass sich hinter so attraktiven Begriffen wie „Patriotismus“ und „Dienst an der Nation“, insbesondere in Kriegszeiten, in Wirklichkeit eine tiefe Verbundenheit mit dem kollektiven Ego verbirgt. Darüber hinaus führt diese Anhaftung unweigerlich zu einer Bindung an die eigene Nation auf Kosten einer ähnlichen Sorge um das Wohlergehen derer, die nicht Teil des eigenen Staates oder der eigenen Gruppe sind.

Sobald der Staat als das erkannt wird, was er ist, nämlich ein Hort des kollektiven Egos, ergeben sich bald erstaunliche Einsichten. So wichtig es zum Beispiel ist, internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen zumindest vorläufig zu reorganisieren und zu stärken, so müssen wir uns doch darüber im Klaren sein, dass wir von ihnen keine endgültigen Lösungen für die vielen Probleme erwarten können, mit denen die Menschheit heute konfrontiert ist. Es liegt in der Natur der Sache, dass Nationen unweigerlich und unwiderruflich im Bereich des kollektiven Egoismus, im Bereich des „Mein Land zuerst“ gefangen sind.

Damit soll nicht bestritten werden, dass ein „aufgeklärter Egoismus“ möglich ist und dass das Streben nach Win-Win-Szenarien nicht viel besser ist als der reine Egoismus. Um jedoch den höchsten Idealen ihrer Praxis treu zu bleiben, müssen Buddhist:innen sich für die Schaffung von Organisationen wie „United Humanity“ oder, weiter gefasst, „United Sentient Beings“ einsetzen, die stets danach streben, das Wohlergehen aller ohne Einschränkung, Bevorzugung oder Unterscheidung zu fördern und zu schützen.

Auch wenn dies nur eine Utopie zu sein scheint, so wird doch von Tag zu Tag deutlicher, wie Martin Luther King Jr. so vorausschauend erkannte: „Wir müssen lernen, als Brüder zusammenzuleben oder als Narren unterzugehen.“ Erst kürzlich, am 18. Juli 2022, erklärte UN-Generalsekretär António Guterres den Ministern aus 40 Ländern, die sich zur Erörterung der Klimakrise trafen: „Wir haben eine Wahl. Kollektives Handeln oder kollektiver Selbstmord.“ Selbst auf der Ebene des individuellen Eigeninteresses ist also klar, dass die Zusammenarbeit aller zum Wohle aller die einzige Möglichkeit für die Menschheit ist, auf diesem sich rasch erwärmenden Planeten mit begrenzten Ressourcen zu überleben, der immer noch unter der allgegenwärtigen Gefahr eines Atomkriegs und des möglichen Aussterbens der menschlichen Spezies lebt.

Wenn man mich also fragen würde, ob ich es wirklich für möglich halte, dass Buddhist:innen die Führung bei der Ablehnung der Anhaftung an das kollektive Ego mit allem, was dies mit sich bringt, übernehmen können, müsste ich antworten: „Ich weiß es nicht.“ Jede und jeder, ob Buddhist:in oder nicht, die oder der versucht, sich für das Wohl aller fühlenden Wesen einzusetzen, wird unweigerlich als „unpatriotisch“ oder gar als „Verräter“ bezeichnet und behandelt, besonders in Kriegszeiten. Befürworter der Nicht-Anhaftung an den Staat können sehr wohl mit Inhaftierung oder sogar Tod durch die Hände derer rechnen, die sich an die Vorteile und Privilegien klammern, die sie vom Staat erhalten.

Bodhisattvas, zumindest in der Mahayana-Tradition, erkennen von vornherein, dass ihre Gelübde unmöglich zu erfüllen sind. Sie erkennen auch, oder sollten zumindest erkennen, dass, wenn Selbstaufopferung notwendig wird, diese so weit wie möglich zum Wohle aller fühlenden Wesen erfolgen muss und nicht zum kollektiven Ego der eigenen Nation oder Gruppe. Dennoch geloben Bodhisattvas, ihre Gelübde zu erfüllen. Mögen es noch viele, viele mehr sein, die das tun, nicht zuletzt, weil die Zukunft der Menschheit davon abhängen kann.

Brian Daizen Victoria

Dieser Text wurde zuerst veröffentlicht auf Buddhistdoor Global, 30. September 2022

https://www.buddhistdoor.net/features/nationalism-collective-selves-and-the-promise-of-buddhaland/

Referenzen

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Brian Daizen Victoria

Brian Andre Victoria ist ein amerikanischer Pädagoge, Doktor der Philosophie, Schriftsteller und buddhistischer Priester in der Sōtō-Zen-Tradition. Er ist Senior Research Fellow (nicht ortsansässig) am Oxford Centre for Buddhist Studies, Oxford, UK.

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