Zum 90. Geburtstag des 14. Dalai Lama
„Wir haben ihm mehr zu verdanken, als wir ahnen“
Am 6. Juli 1935 wurde der Dalai Lama in dem Dorf Taktser in Osttibet geboren. Er feiert in diesem Jahr also seinen 90. Geburtstag. Trotz seines hohen Alters setzt er sich unermüdlich weiter für eine friedliche und gerechte Welt ein. Der renommierte Journalist Franz Alt begleitet ihn seit Jahrzehnten und teilt in BUDDHISMUS aktuell einen ganz persönlichen Blick auf das langjährige Engagement seines Freundes.

Noch vor wenigen Jahren hielt der Dalai Lama Reden vor Zehntausenden, Staatschefs weltweit haben ihn empfangen und er galt im Westen über viele Jahre in Umfragen als „der sympathischste Mensch der Welt“. Hollywood hat zwei Filme über ihn gedreht, seine Bücher sind Weltbestseller. Noch immer kleben weltweit auf unzähligen Autos Solidaritätsaufkleber mit der Schrift „Free Tibet“.
Heute, im Alter von fast 90 Jahren und nach Corona, lebt der Dalai Lama eher zurückgezogen in seinem nordindischen Exil in Dharamsala am Rande des Himalajas. Dort empfängt er jede Woche zwar Besucherinnen und Besucher aus der ganzen Welt, aber China übt zunehmend wirtschaftlichen und diplomatischen Druck auf Länder aus, die ihn empfangen. Deswegen zögern immer mehr westliche Politiker, dies noch zu tun. US-Präsident Donald Trump hat nach seinem Amtsantritt im Januar 2025 tibetischen Hilfsorganisationen die finanzielle Unterstützung gestrichen. Unlängst zitierte die Wochenzeitung Die Zeit einen seiner Berater: Der Dalai Lama habe zwar die geistige Welt für sich gewonnen, aber seine Heimat Tibet schon lange verloren. Vermehrt sind Stimmen zu hören, die erklären, die Geschichte des Dalai Lama sei tragisch und traurig.
Ist das wirklich so? Ich möchte widersprechen.

Seit 66 Jahren lebt der Dalai Lama im indischen Exil und ist damit einer der ältesten Flüchtlinge der Welt. Seine geliebte Heimat, das Dach der Welt, ist durch die chinesische Gewaltherrschaft mehr als je zuvor von der Welt isoliert. Seit einigen Jahren trennt man dort tibetische Kinder ab vier Jahren von ihren Eltern, steckt sie in Zwangsinternate, geleitet von Chinesen oder ihnen hörigen Tibeterinnen und Tibetern. Es handelt sich um einen weiteren gezielten Versuch, die kulturellen, religiösen und auch sprachlichen Wurzeln Tibets zu zerstören; denn in diesen Internaten dürfen die Schülerinnen und Schüler nur Chinesisch sprechen. Am Beispiel Tibets kann die Welt lernen, wie eine imperiale Großmacht versucht, ein kleines Volk mit einer großen, reichen und langen Kultur auszulöschen – oder, wie die chinesischen Kommunisten sagen, „die rückständigen Tibeter zu modernisieren“.
BUDDHISMUS TRADITIONSÜBERGREIFEND WERTSCHÄTZEN UND FÖRDERN
Als traditionsübergreifende Zeitschrift weiß sich „BUDDHISMUS aktuell“ sowohl den buddhistischen Schulen mit ihrer teils viele Jahrhunderte zurückreichenden Geschichte verpflichtet – wie auch jüngeren, westlich-buddhistischen Strömungen.
Die Deutsche Buddhistische Union (DBU) und ihre Zeitschrift „BUDDHISMUS aktuell“ sind einzigartige Projekte im deutschsprachigen Raum: traditionsübergreifend, nicht-kommerziell, allein vom Geist der gegenseitigen Wertschätzung und Großzügigkeit getragen.
Bitte unterstützen Sie uns mit Ihrer SPENDE. Bitte mach unsere Arbeit auch zukünftig möglich mit deinem ABBONNEMENT oder Eintritt in die DBU.
Vielen Dank!
Im Dialog mit der Wissenschaft
Doch diese Rechnung muss nicht aufgehen. Der Titel „Dalai Lama“ stammt aus zwei Sprachen: dem Mongolischen und dem Tibetischen. „Dalai“ ist ein mongolisches Wort und bedeutet „Ozean“. „Lama“ ist ein tibetischer Begriff und bedeutet „spiritueller Lehrer“ oder „Meister“. Zusammengesetzt lässt sich „Dalai Lama“ also sinngemäß mit „Ozeangleicher Lehrer“ oder „Lehrer mit einem Ozean an Weisheit“ übersetzen. Der Titel verweist also auf die immense spirituelle Tiefe und Weisheit, die dem Träger zugeschrieben wird – genau das bezeugt der 14. Dalai Lama mit seinem Leben und das hat nachhaltige Wirkungen.
So ist es wesentlich dem Dalai Lama zu verdanken, dass heute überall – auch in China – über Achtsamkeit und eine „Revolution des Mitgefühls“ nachgedacht wird. In China orientieren sich nicht weniger als rund 400 Millionen Menschen am Buddhismus. Dass die Suche nach Stille und Meditation in den letzten Jahrzehnten über die Volkshochschulen dieser Welt eine Art Massenkultur geworden ist, ist wesentlich das Verdienst des Dalai Lama.
Wir verdanken dem bald 90-Jährigen wahrscheinlich mehr, als wir bisher ahnen, davon bin ich überzeugt. Denn es geht ihm nicht nur um den spirituellen Fortschritt Einzelner, sondern auch um den Fortschritt der Wissenschaft und eine neue Weltethik. Seit Jahrzehnten steht er in Kontakt mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern im Bereich der Hirnforschung an Forschungseinrichtungen wie dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) oder der Gesellschaft für Neurowissenschaften in Washington, Stanford, Zürich und Straßburg. In Dutzenden von Begegnungen mit dem Dalai Lama durfte ich aus der Nähe miterleben, wie in der Forschung eine neue Idee Kraft gewann: Unser Gehirn ist plastisch und wandelbar. Wir können es trainieren wie einen Muskel – durch Meditationen, wie buddhistische Nonnen und Mönche sie ausüben, aber auch durch geistig-spirituelle Trainingsübungen, wie alle Religionen und Weisheitslehren sie kennen. Daraus hat der Dalai Lama seine konsequent gewaltlose Philosophie einer Weltrevolution des Mitgefühls geformt – das kann die Welt langfristig stärker verändern als alle klassischen Revolutionstheorien, die auf gewaltsamen Umsturz setzen.
Ethik des Mitgefühls
Beachtenswert ist auch, wie sich der Dalai Lama zur Religion zu Wort meldet. So sagt er in unserem gemeinsamen Buch „Der Appell des Dalai Lama an die Welt – Ethik ist wichtiger als Religion“:
Ich denke an manchen Tagen, dass es besser wäre, wenn wir gar keine Religionen mehr hätten. Alle Religionen und alle heiligen Schriften bergen ein Gewaltpotenzial in sich. Deshalb brauchen wir eine säkulare Ethik jenseits aller Religionen.
Unser Buch – das gemeinsame Buch eines Buddhisten und eines Christen – hat diese religionskritische und zugleich zutiefst wertebasierte Botschaft als Bestseller in die ganze Welt getragen und ist in 25 Sprachen übersetzt worden. An anderer Stelle in demselben Buch führt der Dalai Lama das Thema noch genauer aus und lässt keinen Zweifel daran, welche Kraft er dem Menschen zutraut:
Ich sehe immer deutlicher, dass unser spirituelles Wohl nicht von der Religion abhängig ist, sondern es der uns angeborenen menschlichen Natur, unserer natürlichen Veranlagung zu Güte, Mitgefühl und Fürsorge für andere entspringt. Unabhängig davon, ob wir einer Religion angehören oder nicht, haben wir alle eine elementare und menschliche ethische Urquelle in uns. Dieses gemeinsame ethische Fundament müssen wir hegen und pflegen. Ethik, nicht Religion, ist in der menschlichen Natur verankert. Und so können wir auch daran arbeiten, die Schöpfung zu bewahren. Das ist praktizierte Religion und praktizierte Ethik. Das Mitfühlen ist die Basis menschlichen Zusammenlebens. Es ist meine Überzeugung, dass die menschliche Entwicklung auf Kooperation und nicht auf Wettbewerb beruht. Das ist wissenschaftlich belegt.
Wenn ich solche klaren und geradlinigen Erklärungen des Dalai Lama auf Vorträgen zitiere, erlebe ich Dankbarkeit und Zustimmung; viele Menschen sprechen danach sogar von einer „Befreiung“.

Ein Grüner
Die säkulare Ethik des Dalai Lama sprengt alle künstlichen nationalen, religiösen und kulturellen Grenzen. Dass er auch zum weltweiten Team der Klimaschützer gehört, macht er unmissverständlich klar, wenn er sagt:
Buddha war ein Grüner und ich bin ein Grüner.
Am 31. Mai 2019 schrieb der Dalai Lama an die damals 16-jährige Klima-Aktivistin Greta Thunberg Worte, die von dem zeugen, was der Theologe und Arzt Albert Schweitzer als „Ehrfurcht vor allem Leben“ bezeichnet hat:
Ich bin auch ein glühender Verfechter des Umweltschutzes. … Es ist ermutigend, zu sehen, wie du die Augen der Welt geöffnet hast für die Dringlichkeit, unseren Planeten zu schützen, unser einziges Zuhause. Gleichzeitig hast du so viele junge Brüder und Schwestern angeregt, sich dieser Bewegung anzuschließen.
Wie die Bewegung Fridays for Future solle sich auch die Klimapolitik an der Wissenschaft orientieren, fordert der Dalai Lama – und wendet sich gegen Untätigkeit und Hoffnungslosigkeit, wenn er sagt:
Unsere Zukunft ist kein blindes Schicksal. Die Zukunft ist das, was wir heute aus ihr machen.
Eine kraftvolle Ermutigung. Mich beeindruckt, wie der Dalai Lama seinen Anliegen über die Lebensjahre hinweg treu bleibt, schrieb er doch schon in unserem gemeinsamen Buch „Schützt unsere Umwelt – Der Klima-Appell des Dalai Lama an die Welt“ im Jahr 2020:
Wir Menschen sind die einzige Spezies, welche die Kraft hat, unseren Planeten und sein Klima zu zerstören – oder noch zu retten.

„Wonderful!“
Auch ich befasse mich seit Jahrzehnten mit der ökologischen Frage und weiß, dass es noch immer möglich ist, diesen Planeten vor dem ökologischen Kollaps zu bewahren. Wenige Stellschrauben machen das möglich: rascher Ausstieg aus der Kohle, CO2-Bepreisung, rascher Einstieg in die Elektromobilität, Verdoppelung des öffentlichen Personennahverkehrs, Umstieg auf Ökolandwirtschaft, weltweite Aufforstung und Begrünung der Wüsten – vor allem aber die erneuerbaren Energien.
Bis 2035 oder spätestens 2040 kann die Energie, die wir verbrauchen, zu 100 Prozent erneuerbar sein. Das ist keine unmögliche Herausforderung, denn die Sonne spendet uns 15.000-mal mehr Energie, als die acht Milliarden Menschen zurzeit verbrauchen. Der große ökonomische Vorteil dieser künftigen ökologischen Energieversorgung: Die Sonne schickt uns keine Rechnung – deshalb ist Solarenergie so preiswert, preiswerter als alle fossilen und nuklearen Energiequellen. Im arabischen Wüstensand wird schon heute Solarstrom für einen Eurocent pro Kilowattstunde gewonnen. Welch eine Chance für die Armen in unserer Welt, der Armut und Unterentwicklung zu entkommen – wir müssen uns nur endlich öffnen für die Energie von ganz oben. Hinzu kommen ja noch die umwelt- und klimafreundliche Windenergie, Wasserkraft, Bioenergie und Erdwärme.
Als ich dem Dalai Lama bei einer unserer Begegnungen Fotos von Solarenergieanlagen in der arabischen Wüste zeigte, waren seine Worte: „Wonderful, wonderful!“ Und wenn der Dalai Lama zuversichtlich und hoffnungsvoll zustimmt – worauf warten wir noch?

Keine Feinde
Die Menschheit ist heute an einem Punkt angekommen, an dem sie aufhören muss, andere Länder und die Natur auszubeuten und zu unterdrücken. Stattdessen muss sie mit ihnen als Partner zusammenleben und das in unserem Universum erwachende Bewusstsein für eine Lebensweise der Verbundenheit fördern. Die überzeugendsten Vorbilder der letzten zweieinhalb Jahrtausende für eine nachhaltigere und bessere Welt sind Buddha und Jesus. Bisher aber haben wir zu wenig von ihnen gelernt, sonst würden wir weder atomar aufrüsten noch Kriege führen oder die Umwelt zerstören. Der Dalai Lama fragt immer wieder, warum wir nicht endlich in die Schule dieser großen Vorbilder gehen. Mahatma Gandhi war und ist sein großes Vorbild für eine gewaltfreie Politik. Wahrheit war für Gandhi das zentrale Grundsatzprogramm, so wie die Bergpredigt für Jesus oder das Mitgefühl für Buddha. Doch der heute weltweit vorherrschende ungehemmte Neoliberalismus hat sich praktisch zu einer Diktatur des internationalen Finanzkapitals entwickelt. Auch das hat der Dalai Lama kommentiert:
Geld ist ein wichtiges Tauschmittel, aber es ist falsch, das Geld als einen Gott oder eine Substanz mit einer eigenen Macht zu betrachten.
Am 10. März 1959 begann der Volksaufstand in Tibet gegen die brutale chinesische Unterdrückung. Der Dalai Lama musste nach Indien ins Exil fliehen. Damit die Welt das Schicksal der Tibeterinnen und Tibeter nicht vergisst, hatten auch am 10. März 2025 wieder mehr als 400 deutsche Kommunen unter dem Motto „Flagge zeigen für Tibet“ die tibetische Flagge gehisst. Das ist mehr als bloße Symbolpolitik, betont Kelsang Gyaltsen, der langjährige Sekretär des Dalai Lama und sein Unterhändler in China. Er, der mit seinen Eltern als Neunjähriger aus Tibet geflohen ist, hält das Flaggezeigen für Tibet für überlebenswichtig, denn die Menschen dort brauchen die Botschaft, dass sie nicht vergessen sind. Es wäre wünschenswert, wenn sich in Deutschland mehr Kommunen dem Solidaritätszeichen anschließen würden.

Denn die Verzweiflung ist groß: In den letzten 15 Jahren haben sich 169 Tibeterinnen und Tibeter, meist Mönche, aus Protest gegen Chinas Repressionen in Tibet selbst verbrannt. Deutlicher und eindringlicher kann man seine Ablehnung gegenüber Chinas Tibet-Politik nicht ausdrücken. Die starke und überzeugende Strategie des Dalai Lama aber bleibt:
Ich kenne keine Feinde. Es gibt nur Menschen, die ich noch nicht getroffen habe.
Das sagte er mir schon vor 25 Jahren und fügte lachend hinzu:
Von seinen Feinden kann man am meisten lernen. In einem gewissen Sinne sind sie unsere besten Lehrer.
Der Dalai Lama hegt keinen Hass gegen die chinesischen Herrscher in Peking und er ist überzeugt, dass diese Strategie langfristig erfolgreich sein wird. 1989 traf ich ihn in Berlin, als die Mauer fiel. Die Mauerspechte hatten schon Löcher in das Schandmal geschlagen, reichten dem Dalai Lama eine brennende Kerze und hoben ihn auf die Mauer. Dort sagte er den für mich unvergesslichen Satz:
So wie diese Mauer jetzt fällt, wird auch Tibet eines Tages frei sein.
Einmal hat mir der Dalai Lama erzählt, er habe geträumt, dass er 113 Jahre alt werde. „Wollen Sie das wirklich?“, fragte ich ihn. Seine Antwort: „Ja, dann kann ich die Chinesen noch lange ärgern.“
Das ist praktizierte Feindesliebe.
Happy Birthday, dear friend! And a long life for Your Holiness!

Franz Alt
hat in Politikwissenschaft promoviert und wurde als Journalist, Autor und Umweltaktivist bekannt. Als Christ prägt er theologische Diskurse. Auch setzt er sich für die globale Energiewende ein. Für sein Engagement erhielt er den Deutschen Solarpreis und den Umweltpreis der deutschen Wirtschaft.