Weniger Angst – weniger Diskriminierung

Ein Beitrag von Gabriela Frey veröffentlicht in der Ausgabe 2020/4 Mitgefühl unter der Rubrik Aktuell.

Die meisten Länder Europas haben ein gutes Bildungs- und ein weitgehend gerechtes Justizsystem, eine freie Presse sowie Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Dennoch gehören Diskriminierung, Hass und Gewalt zur Tagesordnung. Warum und wie ließe sich das ändern? Diese Frage untersuchte eine Arbeitsgruppe im Europarat. Ein Bericht von Gabriela Frey, die dort die Europäische Buddhistische Union (EBU) vertritt.

Die Arbeitsgruppe Interkulturelle Städte ist Teil des Bildungsausschusses der Konferenz der Nichtregierungsorganisationen im Europarat. 2018 übernahm sie die auf zwei Jahre angelegte Aufgabe „zivilisatorische, gesellschaftliche, ökologische und kulturelle Aspekte zu beleuchten, um die Integration unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen zu fördern und allgemein das Zusammenleben friedlicher zu gestalten.“ Dafür sollten bewährte Praktiken gesammelt und Hindernisse identifiziert werden. 

Weil ich in diesem Projekt eine gute Möglichkeit sah, zentrale Erkenntnisse der Lehren Buddhas in einen breiteren gesellschaftlichen Kontext einzubringen, übernahm ich die Koordination. Zunächst luden wir Expertinnen und Experten ein, Teilaspekte des Themas zu bearbeiten und ihre Untersuchungsergebnisse in der Arbeitsgruppe vorzustellen. So referierte Kari Flornes von der Universität Oslo/Bergen über inklusive Pädagogik und empathische Kommunikation. Gaudiose Luhahe von der Universität Straßburg stellte ihre Doktorarbeit zur Dekonstruktion von Feinbildern vor. Der Beitrag von Dr. Axel Brinzinger über die CEB-Methode (Cultivating Emotional Balance, Kultivierung Emotionalen Gleichgewichts) stieß auf großes Interesse. Diese Methode von Alan Wallace wird in vielen Ländern bereits auch in offiziellen behördlichen Kontexten angewandt. Identitätsbildung in Europa durch gegenseitige Anerkennung im interreligiösen Dialog war das Thema von Professor Wolfram Weiße von der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg. Ebenfalls von der Akademie der Weltreligionen referierte die Professorin für Buddhismus Dr. Carola Roloff zum Thema Identifizierung geschlechtsspezifischer Ängste in Religionen. Weitere Beiträge etwa zu den Themen Landflucht, Isolation, Schiedsgerichte oder dem erweiterten Dialog zwischen Menschen unterschiedlicher Wertesysteme rundeten die erste Arbeitsphase ab.

Treffen der Repräsentant*innen der National Buddhist Unions der EBU im Europarat

Unsicherheit und Angst schüren Diskriminierung und Gewalt

Nach ausführlichen Recherchen und Gesprächen kam die Arbeitsgruppe zu dem Schluss, dass es vor allem unbewusste Ängste, ein Mangel an Kommunikationsfähigkeiten und als Folge davon unkontrollierte Emotionsausbrüche sind, die aggressives Fehlverhalten und Diskriminierung hervorrufen. Menschen in heutigen Ballungszentren stehen vor großen Herausforderungen. Die Bevölkerungsdichte nimmt stetig zu, Menschen aus verschiedensten Kulturen konfrontieren sich gegenseitig mit ungewohnten religiösen Praktiken und sozialen Verhaltensweisen. Gleichzeitig leben immer mehr Menschen in prekären Arbeits- und Lebenssituationen, ihre Mieten steigen, ihre Ressourcen nehmen ab, dazu kommen der Stress durch die rasante Digitalisierung und viele weitere Faktoren, was in der Summe zu einer wachsenden inneren Unsicherheit und starken Ängsten führt. Die Versuchung ist groß, die Schuld außen zu suchen, um den unangenehmen Gefühlen und der Hilflosigkeit zu entgehen. So entsteht ein Nährboden für zunehmende Diskriminierung, Populismus, Fundamentalismus, Hassreden, Gewalt und Terrorismus.

Innere Weisheit entfalten

Aus buddhistischer Sicht ist der unsichere Boden, vor dem viele Menschen sich so sehr fürchten, die grundlegende Realität dieser Welt – Wandel und Vergänglichkeit. Diese Realität gilt es zu erkennen und anzunehmen, und Menschen müssen lernen, sie nicht mehr als Bedrohung zu sehen. Die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen allein reichen dazu offensichtlich nicht aus. Damit alle Mitglieder unserer Gesellschaft harmonischer zusammenleben können, brauchen sie in schwierigen Lebenssituationen leichter zugängliche Hilfe, kompetente Gesprächspartnerinnen und -partner sowie Solidarität. 

Weisheit, Empathie und Offenheit gehören, wie buddhistische Lehren betonen, zu den natürlichen Qualitäten jedes Menschen. Damit alle Menschen ihre innere Güte entdecken und entwickeln können, brauchen sie einen Zugang zu wirksamen Methoden zu ihrer Entfaltung. Angstbasierte Diskriminierung und die daraus resultierende Gewalt werden sich nur verhindern lassen, wenn Menschen lernen, ihre eigenen inneren Prozesse klarer wahrzunehmen, Fehlinterpretationen wie etwa Sündenbock-Projektionen zu vermeiden und sich angemessen zu verhalten. Damit die Techniken und Methoden etwa der empathischen Kommunikation oder der CEB, wie sie in der Arbeitsgruppe vorgestellt wurden, greifen können, braucht es safe spaces – sichere Räume, in denen Ängste, Bedenken und Probleme vertrauensvoll und offen angesprochen werden können. Auch zu diesem Aspekt sammelte die Arbeitsgruppe Hintergrundwissen und Materialien. 

Dr. Carola Roloff, Trudy Frederiksson (Schwedische Buddhistische Union) und Gabriela Frey vertreten die EBU beim Austausch des Europarats über die religiöse Dimension des interkulturellen Dialogs

Nach zwei Jahren Arbeit hoffen wir, mit unserer Recherche einen sinnvollen Beitrag zu einer integrativen und friedlicheren Gesellschaft geleistet zu haben. Das Thema Angst und Wege, diese zu befrieden, ist gerade in der jetzigen von Corona geprägten Zeit wichtiger den je. Ganz im Sinne der bekannten Dharmalehrerin Pema Chödrön, die einmal schrieb:

„Fundamentalismus entsteht, wenn wir das Gefühl haben, wir brauchen etwas Bestimmtes und Solides, um uns vor denen zu schützen, die anders sind als wir. Dies entsteht aus der Angst, die Kontrolle zu verlieren, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Aber in welcher Form auch immer die Angst sich in einem verhärtet, sie eskaliert weiter und führt zu Handlungen, die großen Schaden anrichten können. Sie eskaliert zu Kriegen, Unruhen, Gewalt und Grausamkeit. Sie schafft eine hässliche Welt, die noch mehr Angst hervorruft.“

Weiterführende Informationen

Projekt-Abschlussbericht der Arbeitsgruppe Interkulturelle Städte: erscheint Corona-bedingt voraussichtlich im Herbst 2020 

Konferenz der Nichtregierungsorganisationen des Europarats: coe.int/en/web/ingo

Interkulturelle Städte (Initiative des Europarats): coe.int/en/web/interculturalcities

Europäische Buddhistische Union: europeanbuddhism.org

CEB (Cultivating Emotional Balance): cultivating-emotional-balance.org

Akademie der Weltreligionen in Hamburg : www.awr.uni-hamburg.de

Gabriela Frey

Gabriela Frey, Delegierte von Sakya Kalden Ling in der DBU, Delegierte und Gründerin von Sakyadhita France in der EBU, Repräsentantin der EBU im Europarat und bei der EU. Seit 1989 parlamentarische Assistentin deutscher Abgeordneter im Europäischen Parlament in Straßburg.

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