Was wir vom Tod lernen können, um erfüllt zu leben

Ein Beitrag von Frank Ostaseski veröffentlicht in der Ausgabe 2017/4 Erleuchtung unter der Rubrik Inspirationen. (Leseprobe)

Frank Ostaseski ist ein international bekannter buddhistischer Lehrer, Mitbegründer des Zen-Hospizprojekts in den USA, Gründer des Metta Institute und ein Vorreiter der kontemplativen Betreuung am Ende des Lebens. Er lehrt weltweit. In seinem Beitrag untersucht er, wie die Gewissheit des Todes helfen kann, sich in Hingabe zu üben und auf diese Weise Nicht-Dualität zu erfahren.

Das Ende des Lebens | © photophilde, CC

Leben und Tod kommen immer im Paket – das eine erhält man nicht ohne das andere. So wird der japanische Zen-Begriff shoji für den Kreislauf von Geburt und Tod wörtlich als „Geburt-Tod“ übersetzt. Die einzige Trennung zwischen den beiden besteht in dem kleinen Bindestrich, einer schmalen Linie, die sie wiederum verbindet: Ohne Gewahrsein für den Tod können wir nicht wirklich lebendig sein. Der Tod wartet nicht am Ende eines langen Weges auf uns. Er ist immer da, im Innersten jedes einzelnen Augenblicks. Er ist der heimliche Lehrer, versteckt, aber dennoch für alle sichtbar. Er hilft uns zu entdecken, was am wichtigsten ist im Leben. Und das Gute daran ist: Wir brauchen nicht bis ans Ende unserer Tage zu warten, um die Weisheit zu finden, die der Tod uns zu bieten hat.

In den letzten dreißig Jahren habe ich mit einigen tausend Menschen an der Schwelle des Todes gesessen. Manche waren voller Enttäuschung, als sie starben. Andere wieder blühten auf und gingen voller Staunen durch jene Tür. Der Unterschied bestand in der Bereitschaft, sich langsam in die tieferen Dimensionen dessen hineinzuleben, was es bedeutet, Mensch zu sein. Die Vorstellung, dass wir im Sterben die physische Kraft, die emotionale Stabilität und die geistige Klarheit haben werden, um die Arbeit eines ganzen Lebens zu erledigen, ist eine naive Illusion. Deshalb ergeht an Sie mit diesem Buch die Einladung – nein, es sind fünf Einladungen* –, sich jetzt schon mit dem Tod zusammen hinzusetzen, Tee mit ihm zu trinken und sich von ihm zu einem sinnvolleren und liebevolleren Leben inspirieren zu lassen.

Ein intensiveres Nachdenken über den Tod wird sich nicht nur darauf tief und positiv auswirken, wie wir sterben, sondern auch darauf, wie wir leben. Im Angesicht des Sterbens ist es eher möglich, zwischen Tendenzen zu unterscheiden, die uns in die Einschließlichkeit der Ganzheit führen oder uns in die Trennung und in weiteres Leiden locken. Doch geht es hier nicht um ein vages, homogenes Einssein. Ein besserer Ausdruck wäre „Vernetzung“. Jede Zelle unseres Körpers ist Teil eines organischen, ineinandergreifenden Ganzen, das harmonisch zusammenwirken muss, um für eine gute Gesundheit zu sorgen. Entsprechend existiert alles in einem beständigen Wechselspiel von Beziehungen, die sich im gesamten System widerspiegeln und alle seine Teile beeinflussen. Wenn wir diese grundlegende Wahrheit nicht beachten, leiden wir und schaffen wir Leiden. Wenn wir dagegen im Gewahrsein dieser Wahrheit leben, fördern wir die Ganzheit des Daseins und sind von ihr getragen.

Unsere Lebensgewohnheiten haben eine gewaltige Kraft, die uns zum Augenblick unseres Todes hintreibt. Da stellt sich automatisch die Frage: Welche Gewohnheiten wollen wir uns erschaffen? Unsere Gedanken sind keinesfalls wirkungslos. Sie manifestieren sich in Aktivitäten, die sich wiederum in Gewohnheiten verwandeln, und unsere Gewohnheiten verhärten sich zum Charakter. Unser unreflektiertes Verhältnis zum Denken kann unsere Wahrnehmungen beschränken, stereotype Reaktionen auslösen und die Einstellung vorherbestimmen, die wir zu den Ereignissen unseres Lebens haben. Die Trägheit dieser Muster können wir überwinden, indem wir uns unserer Sichtweisen und Glaubenssätze bewusst werden. Wenn wir das tun, treffen wir die klare Entscheidung, diese gewohnheitsmäßigen Tendenzen zu hinterfragen. Vorgefasste Meinungen und Gewohnheiten schalten das Denken aus und fördern ein Leben auf Autopilot. Fragen fördern einen offenen Geist und sind Ausdruck eines lebendigen Menschseins. Eine gute Frage hat Herz und entsteht aus der tiefen Liebe heraus, erkennen zu wollen, was wahr ist. Wir werden nie wissen, wer wir sind und warum wir hier sind, wenn wir uns die unbequemen Fragen nicht stellen.

Die fünf Einladungen sind:

  1. Warte nicht.
  2. Heiße alles willkommen, wehre nichts ab.
  3. Gib dich ganz in die Erfahrung.
  4. Finde mitten im Chaos einen Ort der Ruhe.
  5. Kultiviere den Weiß-nicht-Geist.

Auszüge aus: Frank Ostaseski, Die fünf Einladungen, Was wir vom Tod lernen können, um erfüllt zu leben, erscheint im Oktober 2017 im Knaur Verlag. ISBN 978-3-426-65796-6. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

ENDE DER LESEPROBE

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Frank Ostaseski

Frank Ostaseski ist ein international bekannter buddhistischer Lehrer, Mitbegründer des Zen-Hospizprojekts in den USA, Gründer des Metta Institute und ein Vorreiter der kontemplativen Betreuung am Ende des Lebens. Er lehrt weltweit.

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