Was geschieht in Myanmar oder: das Ende der Illusionen?
Seit vielen Monaten erreichen uns immer neue Schreckensbilder und –nachrichten aus dem buddhistischen Myanmar über die Verfolgung und gewaltsame Vertreibung der muslimischen Rohingya. Die Religionswissenschaftlerin Dr. Ursula Baatz beleuchtet in ihrem Beitrag die Hintergründe des Konflikts.
Tausende Menschen drängen sich dicht an dicht auf einem schmalen Damm und versuchen, über den Fluss Naaf zu setzen. Rohingya, vielfach ganze Familien wollen der Repression in Myanmar entkommen und auf das andere Ufer nach Bangladesch flüchten. Seit Monaten finden sich solche Bilder und Berichte in westlichen Medien. Die muslimischen Rohingya, rund drei Millionen Menschen, leben im Rakhine-Staat im Nordosten Myanmars in den Grenzgebieten zu Bangladesch. Sie gelten als eine der am meisten verfolgten Minderheiten weltweit. Ihre Verfolger: Buddhisten aus Myanmar – Militärs, Mönche, Laien. Die dortige Regierung bestreitet die Verletzung von Menschenrechten ebenso wie den Genozid an den Rohingya, „ethnische Säuberungen“, wie UNO-General Antonio Gutteres sagte. Satellitenbilder dokumentieren die Zerstörung ihrer Dörfer. Aung San Suu Kyi, Friedensnobelpreisträgerin und seit 2015 de facto Regierungschefin in Myanmar, sprach von Fake News und bewusst falschen Informationen. Die Dörfer seien von den Rohingya-Rebellen selbst zerstört worden. In einer kontrovers aufgenommenen Rede Mitte September erklärte sie, 50 Prozent der von Muslimen bewohnten Dörfer seien intakt. Eine Woche davor hatte die Regierung bekannt gegeben, dass 40 Prozent der Dörfer in „clearance operations“ vom Militär vollständig geräumt worden seien. (1) Das Militär, Tatmadaw genannt, unterband immer wieder den Zugang internationaler Hilfsorganisationen zu den Rohingya- Camps im Norden.
All dies passt nicht zum Bild des Buddhismus als Religion des Mitgefühls und der Gewaltlosigkeit. Auch schien die buddhistische Mönchsgemeinde von Myanmar bisher an Demokratie und Menschenrechten orientiert, war sie doch ein wesentlicher Faktor für das Ende der Militärjunta, die von 1962 bis 2010 das Land beherrschte. Eine komplexe Gemengelage, die von außen nur schwer zu durchdringen ist.
Wer sind die Rohingya?
Militär, Regierung und soziale Medien in Myanmar sind sich einig, dass die Rohingya illegale Einwanderer und Terroristen sind, und auch manche westlichen Buddhisten sehen das so. Selbst die kritische, 1993 von burmesischen Exil-Journalisten gegründete Zeitschrift The Irrawady bildet da keine Ausnahme. Eine Karikatur aus dem Jahr 2016 zeigt einen dunkelhäutigen Mann, der mit einer Tafel „boat people“ um den Hals über eine Absperrung klettert, um den ersten Platz in der Schlange der hellhäutigen ethnischen Gruppen Myanmars zu ergattern.2 Die rassistische Karikatur erzählt einiges über die Situation im Staat Myanmar, der erst seit 1948 in den heutigen Grenzen existiert. Neben 68 Prozent Bamars (oder Birmanen/Burmesen) leben auf dem Territorium rund 130 ethnische Minderheiten. Viele von ihnen – wie zum Beispiel die Mon (ca. 2 Prozent) oder Shan (ca. 10 Prozent) – lebten in eigenständigen Staaten, die von den Birmanen zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert erobert und zerstört wurden. Auch sind nicht alle diese ethnischen Gruppen Buddhisten. Manche sind Christen (6,2 Prozent), andere folgen Stammesreligionen (0,8 Prozent), sind Hindu (0,5 Prozent) oder Muslime (4,3 Prozent). Seit der Unabhängigkeit 1948 gab es eine Vielzahl bewaffneter separatistischer Konflikte. Die meisten wurden in den letzten Jahrzehnten beigelegt, doch liefern sich etwa in den Regionen der Mon, der Shan und der Chin bis heute Separatistengruppen und Militär heftige Gefechte. Und dann ist da eben das Problem mit den Rohingya. Die Bezeichnung taucht das erste Mal 1795 im Bericht des britischen Reisenden Francis Hamilton auf. Muslime am Hof des birmanischen Königs, die aus Arakan – dem heutigen Rhakine-Staat – deportiert wurden, nannten sich selbst „Rooinga“, wie Arakan in ihrem eigenen bengalischen Dialekt hieß. (2)
Das buddhistische Königreich Arakan mit der Hauptstadt Mrauk U war von 1430 bis 1785 einer der mächtigsten Staaten am Golf von Bengalen. Handelsbeziehungen verbanden Arakan nicht nur mit dem weit entfernten Persien, sondern auch mit dem benachbarten Bengalen, das seit etwa dem 13. Jahrhundert unter muslimischem Einfluss stand und dann auch von Muslimen beherrscht wurde. Die Herrscher Arakans waren expansiv und verleibten sich zum Beispiel die reiche Hafen- und Handelsstadt Chittagong ein, in der neben muslimischen auch portugiesische Kaufleute lebten. Zur Stärkung der Wirtschaft deportierten die Könige von Arakan – wie andere Herrscher dieser Zeit auch – große Bevölkerungsgruppen unter anderem aus Bengalen. So siedelten sie einmal 30 000 Weber (ein traditionell von Muslimen ausgeübter Beruf ) aus Chittagong nach Arakan um. Münzen aus dieser Zeit bezeugen mit dreisprachigen Aufschriften (Sanskrit, Arabisch, Arakanesisch) die kulturelle Diversität, die diese Epoche des indischen Subkontinents allgemein charakterisiert. 1785 eroberten die Birmanen Arakan. Wegen der drakonischen birmanischen Herrschaft flüchtete ein Viertel bis ein Drittel der Bevölkerung nach Bengalen, mittlerweile eine britische Kolonie. Aus dem Flüchtlingslager entstand der Ort Cox’s Bazar, wo sich auch heute Flüchtlingslager befinden. Mitte des 19. Jahrhunderts gehörte das Gebiet des heutigen Myanmar zur Kronkolonie Britisch-Indien. Durch Rückkehrer und Arbeitsmigranten aus Bengalen – es gab ja keine inneren Grenzen – stellten die Muslime um 1900 etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung Arakans. 1942 okkupierten die Japaner Burma. Die buddhistischen Rakhine im Süden kooperierten mit den Besatzern, während die Muslime im Norden die Briten unterstützten. Nach der Unabhängigkeit Burmas 1948 kämpfte die Bewegung der „Mujahid“ bis zu ihrer Kapitulation 1961 für ein autonomes muslimisches Gebiet im Norden. Damals scheint der Name „Rohingya“ als Selbstbezeichnung für die Muslime im Norden Burmas wiederbelebt worden zu sein.
Und die Buddhisten?
Im Januar 2013 besuchte ich in der alten Klosterstadt Sagaing die Sitagu International Buddhist Academy, eine führende buddhistische Institution in Myanmar. Ein hochrangiger Mönch zeigte mir in seinem Kloster den fast lebensgroßen Nachbau des Stupa von Sanchi. Der Buddhismus sei in Indien durch die Muslime vernichtet worden, erklärte er, und nun sei in Myanmar die buddhistische Kultur durch die Muslime gefährdet, weil diese sich so schnell vermehrten. Machtübernahme durch muslimischen Geburtenüberhang ist ein weit verbreiteter Propagandamythos, den man früher ähnlich über Juden erzählt hat. (3) Tatsächlich fungiert in einem ethnisch so diversen Staat wie Myanmar der Buddhismus, seit 1961 Staatsreligion, als Marker und Klammer nationaler Identität. So können etwa Kinder ethnischer Minderheiten, die zumeist in sehr abgelegenen Gebieten ohne Schule leben, in Klöstern kostenlos die Schule besuchen. Sie werden für diese Zeit ordiniert, damit aber de facto ihrer Herkunftsidentität und -religion entfremdet. Auch sind nach dem Nationalitätengesetz von 1982 nur jene Personen Bürger Myanmars, die nachweisen können, dass ihre Vorfahren vor 1824 auf dem Territorium gelebt haben. Die Rolle der Muslime für die Geschichte Burmas wurde von der Militärjunta ausgeblendet. Für die Rohingya als Gruppe bedeutete das die Aberkennung der Staatsbürgerschaft, weswegen sie seither als illegale Einwanderer und seit Neuestem auch als Terroristen gelten.
Die Verfolgung ethnischer Minderheiten begann unter der Militärdiktatur bereits 1962. In Indien, Thailand und Bangladesch gibt es seit dieser Zeit an den Grenzen zu Myanmar Flüchtlingslager. So lebten bereits vor 2015 etwa 300 000 Rohingya in Lagern bei Cox’s Bazar. Seit Sommer 2017 sind nach Angaben der UNO mehr als eine halbe Million Rohingya aus Myanmar nach Bangladesch geflohen, bis Jahresende wird mit fast einer Million gerechnet. Die Zukunft der nach Bangladesch Geflüchteten ist mehr als ungewiss. Bangladesch ist eines der am dichtesten besiedelten und bevölkerungsreichsten Länder der Erde und zugleich eines der ärmsten. Die UNHCR, die Flüchtlingsorganisation der UNO, verfügt nicht über ausreichende Mittel, um die Neuankömmlinge mit dem Allernotwendigsten zu versorgen oder angemessene hygienische Zustände herzustellen, um so Seuchen zu verhindern. Nun verhandelt Myanmar mit Bangladesch über die Rücknahme der Flüchtlinge. Aung San Suu Kyi erklärte vor kurzem, jene geflüchteten Rohingya zurückzunehmen, die nachweisen können, dass sie aus Rakhine stammen. Doch die meisten haben keine Papiere, stellt Tin Soe, der in Bangladesch lebende Chefredakteur der Rohingya-Nachrichtenagentur Kaladan Press Network fest, da sie ihnen schon seit langem abgenommen wurden. Auf dem ASEAN-Gipfel Mitte November wurde die Krise in Myanmar nicht erwähnt. In der Zwischenzeit haben andere die Reisfelder der Rohingya geerntet, und der Hass gegen die Rohingya lodert weiter. Vor einigen Wochen brachte ein Taxifahrer Hilfslieferungen zu den Rohingya, weniger aus humanitären Motiven denn aus finanzieller Not. Seine Frau wurde von einem Mob in ein buddhistisches Kloster gezerrt. Dort schlug man sie, schor ihr die Haare und paradierte sie danach durch die Straßen mit einem Schild um den Hals, auf dem stand „Verräterin der Nation“. (4)
Und Europa?
Es ist die Saat aus Europa, die hier aufgeht. Rassismus ist ein Kind der Aufklärung, ebenso die Nationalstaatsideologie. Dass sich der Buddhismus damit verbindet, verwundert angesichts der Geschichte nicht. Die englischen Kolonialherren sahen in den Völkern, die sie unterworfen hatten, „Wilde“ oder, wie Kipling in seinem berühmten Gedicht „White Man’s Burden“ (1899) schreibt, „new-caught, sullen peoples / half-devil and half-child“. Die Bürde des weißen Mannes sei es, diese Völker, „halb Teufel und halb Kind“, zu erziehen. Dagegen entstanden, zunächst in Indien und Sri Lanka und dann auch anderswo, antikoloniale Widerstandsbewegungen, die ihrerseits Argumente kritischer Geister innerhalb der Kolonialmächte mit der eigenen Kultur und Tradition verbanden. So kam es, dass der Buddhismus in Sri Lanka und Japan, aber auch in Burma sehr nationalistisch und ethnisch aufgefasst wurde. Der buddhistische Nationalismus und Rassismus war in Sri Lanka der Nährboden für den dreißigjährigen Bürgerkrieg gegen die Tamilen. In Burma entstanden daraus die Unterdrückung und der Genozid an den Rohingya. Der Traum der Europäer vom Buddhismus als einer reinen, friedvoll-mitfühlenden und gewaltfreien Religion nährt sich aus einer unzureichenden Kenntnis der Geschichte Asiens. So führten etwa die buddhistischen Königreiche Pegu und Ava, beide auf dem Gebiet des heutigen Myanmar, von 1385 bis 1425 vierzig Jahre Krieg gegeneinander. Es ist Zeit, aus den Idealisierungen aufzuwachen. Es ist notwendig, gegen die Krankheiten von Rassismus und Nationalismus aufzustehen und zu helfen, wo Hilfe nötig ist. An allen Orten.
Anmerkungen:
- www.theguardian.com/world/2017/sep/20/fact-check-aung-sansuu- kyi-rohingya-crisis-speech-myanmar
- www.maungzarni.net/2016/05/offensive-boat-people-cartoonslammed. html
- J. P. Leider: „Identität und historisches Bewusstsein – Muslime in Arakan und die Entstehung der Rohingya“, in: Schäfer u. a. (Hg.): Myanmar – Von Pagoden, Longyis und Nat-Geistern, Berlin 2014
- faktenfinder.tagesschau.de/muslime-europa-bevoelkerung-101.html
- www.nytimes.com/2017/10/24/world/asia/myanmar-rohingyaethnic- cleansing.html?_r=0
Dr. Ursula Baatz
Ursula Baatz ist prom. Philosophin, Wissenschafts- und Religionsjournalistin sowie Mitherausgeberin der poly – log-Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren. Sie ist langjährige Zen-Praktizierende und Autorin u. a. von „Erleuchtung trifft Auferstehung. Zen-Buddhismus und Christentum. Eine Orientierung“.