„Vielleicht war ich der Zeit voraus“
Renate Noack hat als erste Lehrerin in Deutschland Buddhismus an öffentlichen Schulen unterrichtet. Im Gespräch blickt sie zurück. Und nach vorn: Denn Nachfolgerinnen und Nachfolger für den buddhistischen Religionsunterricht werden dringend gesucht.
Susanne Billig: Du lehrst Buddhismus an öffentlichen Schulen und gibst ihn so an die nächste Generation weiter. Wie bist du selbst zum Buddhismus gekommen?
Renate Noack: Mein erster buddhistischer Lehrer war Ende der 1970er-Jahre der japanische Zen-MeisterProfessor Tetsuo Kiichi Nagaya, der von 1895 bis 1993 gelebt hat. Ich hatte Germanistik und Philosophie mit dem Schwerpunkt Existenzphilosophie studiert und als ich ohne jedes theoretische Vorwissen zum ersten Mal meditierte, kam ich in eine tiefe Stille und dachte sofort: Hier gibt es etwas, das ich noch nicht weiß und mit Reden und Denken und Analysieren auch nicht würde begreifen können. Es war für mich eine Offenbarung und fühlte sich überhaupt nicht fremd, sondern wie ein Zuhause an. Ich wusste: Diesen Weg möchte ich erforschen.
Was war für dich das Besondere an diesem Lehrer?
Professor Nagaya sprach nicht viel und gab keine großen Belehrungen. Er sagte nie: „Ihr müsst jeden Tag eine Stunde sitzen“, oder: „Mit genau diesem Koan müsst ihr arbeiten.“ Nein, er sagte: „Das Leben selbst ist das Koan.“ Am Ende jedes Sesshin malte er immer seine Tuschspuren und betonte: „Nicht ich male hier. Wirmalen. Wir alle sind jetzt in dieser Tuschspur enthalten.“ Das hat mich beeindruckt.
Wie intensiv hast du dich der Erforschung der buddhistischen Praxis damals gewidmet?
Ganz. Ich habe die Schule aufgegeben, bin 1982 nach Berlin gegangen, habe die Theravada-Mönche im Buddhistischen Haus in Berlin-Frohnau kennengelernt und Anfang der 1980er-Jahre Seine Eminenz Dagyab Kyabgön Rinpoche, der seitdem mein tibetischer Lehrer ist. Vorher hatte ich schon meinen Mann Rainer kennengelernt – unsere Hochzeitsreise begann mit einem Sesshin in Bad Nauheim bei Professor Nagaya, der uns beim Abschied noch seinen „Segen“ gab. Wir wussten nicht, dass es das letzte Sesshin mit ihm sein würde, denn er kam aus Altersgründen nicht wieder nach Deutschland.
Zusammen mit deinem Mann hast du dich seit Mitte der 1980er-Jahre in der Buddhistischen Gesellschaft Berlin engagiert und tust es noch. Was hat dich motiviert?
Damals hatten buddhistische Gemeinschaften häufig noch keine eigenen Zentren und wir hatten einen ungeheuren Zulauf. Viele große Lehrerinnen und Lehrer hielten wunderbare Veranstaltungen in unseren Räumen ab. Die Leute mussten teilweise von draußen durch die offenen Fenster teilnehmen. Hier bei uns in der Buddhistischen Gesellschaft hat damals ganz viel von der buddhistischen Entwicklung in Deutschland begonnen. Es flatterten uns so viele wunderbare Angebote ins Haus. Da denkst du nicht viel nach – du gehst darauf ein und organisierst das.
Wie bist du dann zum buddhistischen Religionsunterricht gekommen?
Ich bin sehr, sehr gerne Lehrerin, habe ich gemerkt. Anfang der 2000er-Jahre kam Gerd Eggers auf uns zu. Er war SPD-Mitglied und vielfältig humanistisch engagiert, auch für die Gleichberechtigung aller Religionen in den Schulen. Er machte uns auf die Möglichkeit aufmerksam, buddhistischen Religionsunterricht an Berliner Schulen einzuführen, und begleitete dann all unsere Schritte, um dieses Projekt zu realisieren.
In Zusammenarbeit mit der Deutschen Buddhistischen Union, also der DBU, haben wir einen Rahmenlehrplan für alle Stufen von der 1. bis zur 13. Klasse entwickelt und 2002 als Buddhistische Gesellschaft Berlin beim Berliner Schulsenat eingereicht. Wir konnten viel von Österreich lernen, wo es einen solchen Unterricht schon gab. Inhaltlich fußte unser Lehrplan auf meiner Idee, alle Inhalte um die drei Juwelen Buddha, Dharma, Sangha zu gruppieren. Der Schulsenator hat uns intern auf unsere Eignung geprüft und uns 2003 die Berechtigung erteilt, Trägerin des buddhistischen Religionsunterrichts zu sein.
Was genau bedeutete diese Trägerschaft?
In Berlin ist „Ethik“ von der 7. bis zur 10. Klasse Pflichtfach, Religionsunterricht gibt es ab der 1. Klasse als freiwilliges Zusatzangebot und ist Sache der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Wir können bescheinigen, dass wir eine Lehrkraft für geeignet halten, buddhistische Religion auf der Grundlage des genehmigten Lehrplans an den öffentlichen Schulen Berlins zu unterrichten. Wir prüfen also die buddhistische Qualifikation. Dazu hatte die DBU ein umfangreiches Studienprogramm mit Abschlussprüfung auf den Weg gebracht. Die fachlich-pädagogische Qualifizierung prüft der Senat. Das lief leider bei den wenigen Menschen, die sich auf diesen Weg begeben haben, sehr pingelig ab und zog sich unerwartet in die Länge.
Dann hast du tatsächlich als erste Lehrerin angefangen zu unterrichten. Wie hast du die Schulen gefunden, an denen das möglich war?
Das Team, das sich um dieses Projekt gebildet hatte, hat sich einfach überlegt: Wir gehen in alle vier Himmelsrichtung der Stadt – Westen, Osten, Süden, Norden – und sprechen dort einfach mal Schulen an. Zu unserem Erstaunen waren fast alle unglaublich aufgeschlossen und interessiert und erlaubten mir, für den Unterricht zu werben, denn ich musste ja, um den staatlichen Zuschuss zu erhalten, pro Gruppe zwischen 12 und 15 Schülerinnen und Schüler zusammenbekommen.
Die viele Energie, die wir in dieses Projekt hineingesteckt hatten, kam als positive Resonanz zurück. Das erste halbe Jahr saß fast jedes Mal eine Journalistin oder ein Journalist im Klassenraum, und es erschienen begeisterte Artikel. Die Herzen waren weit offen. Bis 2006 unterrichtete ich an fünf Schulen, teilweise in zwei Gruppen.
Allerdings ist der buddhistische Religionsunterricht kein Pflichtfach und taucht in den Stundenplänen oft gar nicht auf. Es gibt also keine festen Klassenräume für uns. Oder man muss den Unterricht in die achte, neunte Stunde legen, weil das am einfachsten ist. Das erfordert auf meiner Seite oft viel Geduld.
Was genau machst du mit den Kindern im Unterricht?
Zurzeit unterrichte ich nur noch an einer Grundschule, meist kommen Kinder aus den 2. und 3. Klassen. Das sind sehr lebhafte Acht- und Neunjährige mit ihren eigenen Problemen, zu Hause, in der Schule oder auch untereinander. Ich führe sie an das Meditieren heran, sie zählen den Atem, lernen von mir die Bedeutung der Achtsamkeit kennen und haben daran viel Freude. Sie laden gerne Mitschülerinnen und -schüler ein und zeigen es begeistert: „So musst du sitzen. So musst du die Beine verschränken, so die Hände halten.“
Wir singen auch zusammen, schauen uns Bücher an, lesen Geschichten über das Leben des Buddha mit verteilten Rollen oder spielen sie nach. Und wir haben schöne Gespräche über die Ereignisse und Wendungen in diesen Geschichten. Wichtig ist mir: Es geht nicht um Mission. Der Buddha selbst hat gesagt: „Komm und sieh und prüfe alles, was ich gesagt habe.“ In diesem Geist biete ich den Religionsunterricht an.Mich freut aber schon, dass ich mit dem Unterricht auch helfen kann, dem Buddhismus öffentlich eine gewisse Selbstverständlichkeit zu geben. An meinen Schulen sind die Worte „Buddha“ und „Buddhismus“ niemandem mehr fremd.
Wie sollen sich die Kinder später einmal an deinen Unterricht erinnern?
Wir hatten zusammen eine gute Zeit – ich würde mich freuen, wenn sie sich daran erinnern! Und vielleicht das Meditieren beibehalten. Heute wird viel über die Stärkung der kindlichen Resilienz gesprochen. Es wäre schön, wenn die Kinder noch lange wissen: Man kann sich, anstatt aufgeregt oder verzweifelt zu reagieren, nach innen auf den Atem ausrichten und meditieren. Man kann loslassen und zur Ruhe kommen.
Viele Kinder haben ja schwere Schicksale. Einer meiner Schüler hat heute erzählt, dass seine Mutter vor einiger Zeit gestorben sei. Wir sprachen im Unterricht darüber, dass der Buddha als kleines Kind seine Mutter Maya verloren hat. Der Junge hat mich gefragt: „Warum gibt es nicht nichts?“
Was hast du ihm geantwortet?
Ich habe gesagt: „Das kann es gar nicht geben. Schon wenn du das Wort nichts sagst, ist etwas da.“ Da hat er mich mit großen Augen angeguckt. Der Tod beschäftigt die Kinder. Die Vorstellung einer Wiedergeburt, die im säkularen Buddhismus heute häufig zurückgewiesen wird, hat für sie etwas Tragendes und Tröstendes. Wenn jemand geht, ob er stirbt oder die Familie verlässt, ist er nicht im Nichts, sondern taucht irgendwo wieder auf. Seine Energie geht nicht verloren. Das spricht die Kinder sehr an.
Du bist jetzt über siebzig Jahre alt und ich weiß aus unserem Vorgespräch, wie sehr du dir Nachfolgerinnen und Nachfolger wünschst. Wo liegt das Problem?
Leider gab es das von Anfang an. Von denen, die den Lehrplan mit auf den Weg gebracht hatten, wollte niemand unterrichten, worauf ich eigentlich gehofft hatte. Auch aus dem DBU-Studienprogramm ist in zwanzig Jahren leider kein einziger Lehrer, keine Lehrerin hervorgegangen. Wir hätten längst gemeinsam überlegen müssen, wie man das ändern kann. Unter Lehrerinnen und Lehrern gibt es viele, die buddhistisch orientiert sind, sich aber in der Schule bislang nicht outen. Hier wäre ein Ansatzpunkt.
Wie viel Unterstützung hast du von buddhistischen Zentren und Gemeinschaften erhalten?
Die sind auf ihr Gemeinschaftsleben konzentriert. Es ist so: Ich stehe als Lehrerin seit all den Jahren allein da und finde das sehr schade, weil mir auch der Austausch fehlt. Wenn man an einer öffentlichen Schule lehrt, ist man eine andere Art von Dharmalehrerin oder -lehrer, als die Zentren sie ausbilden. Die vielen guten Bildungsangebote der Zentren laufen nebeneinander her, führen aber nicht zu einer gemeinsamen Mitte zurück. In dieser Mitte könnten, als Teil der Gesamtgesellschaft, die öffentlichen Schulen stehen. Doch der westliche Buddhismus privatisiert den Dharma-Unterricht eher oder schließt sich lieber interreligiösen oder säkularen Konzepten für einen Schulunterricht an. Berlin ist bisher das einzige Bundesland, in dem an öffentlichen Schulen bekenntnisorientierter Buddhismusunterricht gegeben werden kann, auch weil hier die gesetzlichen Bestimmungen einfacher sind als in den anderen Bundesländern. Wenn wir das nicht nutzen, verpassen wir eine riesige Chance.
Es gibt den Trend, vor allem an privaten Schulen, die Meditation als Technik aus dem Buddhismus herauszulösen und davon unabhängig zu unterrichten.
Ja, zum Beispiel das „SEE Learning“ (Soziales, Emotionales und Ethisches Lernen) oder die Achtsamkeitsprogramme jetzt auch für Eltern und Kinder, wie „Happy Panda“. Das sind Bildungsprogramme für Lehrerinnen und Lehrer, die weltweit privat, aber auch an Schulen angeboten werden. Offen gestanden sehe ich das etwas skeptisch: Die Methoden stehen dabei als säkular da. Was auf der Strecke bleibt, ist die Weitergabe von Wissen über den Buddhadharma. Der ist ein Weg, den Menschen individuell wählen und selbst gehen müssen und woran sie sich binden, unterstützt von einer Sangha, mit Lehrerinnen oder Lehrern, die in einer authentischen Linie stehen und die sie in ihrer Entwicklung oft lange begleiten.
Das Training von Mitgefühl und Freundlichkeit mag gut gemeint sein, doch sie landen beim Einzelnen vielleicht zunächst nur im „Über-Ich“, als „Du sollst“-Forderung. Die Frage bleibt: Wie lassen sich solche Qualitäten in einer samsarischen Welt – die ich ja als solche auch erst einmal erkennen muss! – auf Dauer umsetzen und in Konfliktfällen beibehalten? Wie bin ich der Mensch geworden, der ich heute bin? Wohin strebe ich? Ist dieses Streben sinnvoll? Welche Hindernisse liegen noch auf meinem Weg? Wie kann ich mich schrittweise davon befreien? Dafür braucht es tiefergehende Prozesse, individuell, aber auch gesellschaftlich, wenn wir uns von Machtmissbrauch, Gewalt und Unterdrückung befreien möchten.
Im Buddhismus geht es meines Erachtens nicht darum, oberflächlich Sorgen und Unfreundlichkeit loszuwerden. Es geht um Einsicht, und das sollten wir auch Kindern im Buddhismusunterricht weitergeben: in Vergänglichkeit, in abhängiges Entstehen, in karmische Bedingtheiten, in die Ursachen des Leidens, in die Daseinszusammenhänge. Wenn die buddhistischen Methoden aus diesem Zusammenhang herausgelöst werden, ist die Gefahr groß, dass es nur noch darum geht, Menschen zu optimieren. Sie sollen Samsara wieder erträglicher finden und sich wieder besser einpassen – und schon ist die Ursache für das nächste Dilemma, das nächste Problem gelegt.
Wann hörst du mit dem Unterrichten auf?
Manchmal denke ich: Jetzt reicht es, nach diesem Schuljahr ist Schluss. Aber dann mache ich doch wieder weiter. Allerdings bin ich eben über siebzig und würde schon gerne aufhören, auch mit der Vorstandsarbeit im Verein. Was die Schule angeht, würde ich aber vorher gerne noch meine Erfahrungen an Interessierte weitergeben und ihnen zeigen, wie es geht. Noch hoffe ich. Vielleicht passiert ja ein Wunder und jüngere Menschen tauchen auf, die an den öffentlichen Schulen Berlins Buddhismus unterrichten möchten. Wenn nicht, dann war ich mit dem Projekt vielleicht der Zeit voraus. Dann war es zu früh.
Vielen Dank für das Gespräch!
Weiterführende Informationen
buddhistische-gesellschaft-berlin.de
bhavana-Studienangebot der DBU (weiterhin auch als Fortbildungsprogramm für angehende Buddhismuslehrerinnen und -lehrer in Berlin):
buddhismus-deutschland.de/bhavana
Lehrmaterialien der DBU zum Buddhismus für unterschiedliche Klassenstufen:
buddhismus-deutschland.de/unterrichtsmaterialien
Literatur
Carola Roloff, Thorsten Knauth (Hg.): „Buddhistischer Religionsunterricht –Bestandsaufnahme und Perspektiven“, Waxmann Verlag 2023, Religionen im Dialog Band 21, mit einem Beitrag von Renate Noack
Renate Noack
hat als erste Lehrerin in Deutschland Buddhismus an öffentlichen Schulen unterrichtet.