„Unsere Dharmapraxis ist stark, ein Krieg kann sie nicht stoppen“
Meister He Thong lehrt in der ältesten offiziell anerkannten Zen-buddhistischen Gemeinschaft der Ukraine mit dem Namen „Pul Tho“ – Land des Buddha. Im Interview erzählt er, was der Krieg in der Ukraine angerichtet hat und wie er und die Menschen in seiner Sangha mit dem buddhistischen Friedensgebot und ihrem Wunsch nach Frieden und Freiheit umgehen.
BUDDHISMUS aktuell: Bitte erzählen Sie uns von Ihrer Zen-Gemeinschaft.
Meister He Thong: Uns gibt es schon sehr lange. 1996 und 2004 haben wir die staatliche Registrierung für zwei Gemeinschaften erhalten, „Land des Buddha“ und „Mahaprajnaparamita“. Zu uns als Vereinigung gehören aber auch mehrere kleine, nicht staatlich registrierte buddhistische Gruppen. Bis 2014 befand sich die Mehrheit der Praktizierenden in Kiew und im Osten der Ukraine, in der Region um Donezk im Donbass. Als 2022 die zweite Phase des Krieges begann, setzte von der Ukraine aus eine weltweite Migration ein. Einige Familien sind nach Deutschland, Polen, Norwegen, in die USA, nach Kanada und in andere europäische Länder umgezogen. Manche auch nach Australien.
Und was können Sie über Ihre Praxis sagen?
Die Praxis ist vielfältig. Sie umfasst traditionelle Retreats von einem Tag bis zu mehreren Monaten; teils unterrichten wir auch über das Internet. Wir führen Zeremonien durch wie Beerdigungen, Feiern nach Geburten, Weihen von guten Absichten und Gebete für den Weltfrieden. Dazu kommen Sport- und Gesundheitskurse, etwa in den Bereichen Qigong und Osteopathie. Wir führen aber auch persönliche Beratungsgespräche, geben psychologische und psychiatrische Hilfe, leisten Freiwilligenhilfe für Kriegsopfer, liefern Lebensmittel an Arme, senden Briefe und Vorschläge an die Behörden und mahnen sie zur Wahrung der Menschenrechte in der Gesetzgebung. Auf diese Weise schützen wir die Verfassungsnormen, die Freiheit des menschlichen Willens und die Möglichkeit der Dharma-Praxis.
Wie schlimm hat Sie der Krieg getroffen?
Wir haben als Gemeinschaft mehrere Retreat-Zentren verloren, als Einzelne auch Wohnungen, Autos, teils unsere Gesundheit und manche von uns sogar ihr Leben. Russland untergräbt die Wirtschaft der Ukraine; es ist schwierig zu arbeiten und die Preise sind sehr stark gestiegen. Darum sind wir als Buddhistinnen und Buddhisten, aber auch als Bürgerinnen und Bürger der Ukraine sehr dankbar für alle Spenden!
Der Krieg hat ja schon 2014 begonnen. Wir haben die Einnahme von Donezk durch prorussische Militärgruppen erleben müssen. Es begannen Repressionen gegen alle Konfessionen, einige Geistliche wurden inhaftiert und gefoltert, mit Ausnahme solcher der russischen orthodoxen Kirche, die zum Moskauer Patriarchat gehört. Die meisten Mitglieder unserer Gemeinschaft konnten ausreisen, aber nur einen Teil ihres Eigentums mitnehmen. Einige gingen schon damals ins Ausland, aber die meisten ließen sich in anderen Teilen der Ukraine nieder.
Als der totale Krieg begann, im Februar 2022, befand sich unser Hauptlehrer in Mariupol, wo er die Besetzung und Bombardierung überlebte. Einem Teil der Gemeindemitglieder gelang es nach einem Monat des Beschusses, über nicht weniger als 21 Militärposten der russischen Truppen in das von den ukrainischen Streitkräften kontrollierte Gebiet zu gelangen. Einige wurden dann in anderen Städten der Ukraine von russischen Truppen gefangen genommen. Mitglieder unserer Sangha gerieten unter Beschuss, wurden teilweise vom russischen Militär gefoltert, ließen ihre Häuser, Autos und ihr Eigentum zurück und konnten nur mitnehmen, was sie zu tragen vermochten.
Unser Hauptlehrer wurde verwundet, sein Gesundheitszustand verschlechterte sich, ebenso wie der einiger Mitglieder der Sangha. Ein Baby starb. Zwei Dharmalehrer und einige Gemeindemitglieder wurden getötet. Einige gerieten in Gefangenschaft, andere blieben in den besetzten Gebieten und überlebten dort, so gut sie konnten. Wir versuchen, sie durch komplizierte Finanzketten und vertrauenswürdige Personen, die über Russland dorthin reisen, finanziell zu unterstützen.
Was halten Sie von der Wehrpflicht und was sagen Sie Männern aus Ihrer Sangha, die als Soldaten in den Krieg ziehen müssen?
Einige Mitglieder kämpfen bereits an der Front, aber hauptsächlich in technischen und medizinischen Bereichen, zum Beispiel als Rettungssanitäter. Derzeit wird ein neues Mobilmachungsgesetz ausgearbeitet, das religiösen Menschen leider keine nennenswerten Vorteile bietet. Wir arbeiten daran, das zu ändern. Es ist uns wichtig, dass die Sangha weiter so arbeiten kann wie bisher, damit die Dharmalehrer-Ausbildung gewährleistet bleibt, die immerhin gut 15 Jahre dauert.
Unser allgemeiner Grundsatz lautet: Die Vorstände und Lehrer der Sangha beschäftigen sich mit humanitären Angelegenheiten für Psyche, Körper und Geist, ohne zu den Waffen zu greifen. Für alle anderen gilt: Schaue tief in das Herz-Bewusstsein und triff selbständig eine Entscheidung, wie du das Böse bekämpfen und für den Frieden eintreten kannst.
Haben Sie ein Beispiel für eine solche Entscheidung?
Mir fällt ein Mann ein, der seinen Job in der Handelsmarine verließ und in den Kampf ging. Er war zuvor unter der Besatzung gefoltert worden, hatte erleben müssen, dass Angehörige und seine Freundin starben. Ja, die Lehre besagt, dass es keine Rache geben soll, sondern die Menschen sollen den Geist so weit wie möglich im Gleichgewicht halten und Mitgefühl für den Aggressor zeigen. Ich bitte aber die Leserinnen und Leser dieser Zeitschrift, zu verstehen, dass die Russen, die in der Ukraine kämpfen, gekommen sind, um gegen Bezahlung Ukrainerinnen und Ukrainer zu töten und alles um sie herum zu zerstören. Sie sind Sadisten, bombardieren Schulen, Krankenhäuser, Evakuierungszentren mit Menschen, die vor Bombardierungen und Schüssen zu fliehen versuchen. Sie verhalten sich, wie kein Tier sich verhalten würde, zerstören Kraftwerke, Unternehmen und Lagerhäuser, in denen humanitäre Hilfsgüter wie Kleidung und Lebensmittel vom Roten Kreuz aufbewahrt werden. Sie zerstören die Umwelt, erpressen die Welt mit Atomwaffen, sprengen Atomkraftwerke in die Luft, bestechen Politiker in aller Welt, um hybride Kriege zu führen, und stecken den Frieden auf der Erde in Brand.
Wie können Sie das buddhistische Friedensgebot überhaupt noch befolgen in einer solchen Situation?
Meiner Meinung nach haben viele Menschen und selbst angesehene Dharmapraktizierende eine etwas falsche Vorstellung von Frieden. In den Lehren des Buddha geht es um die Edlen Wahrheiten, um den Mittleren Weg, um die Fähigkeit, das Gleichgewicht zu halten, um ein mitfühlendes und kreatives Leben in Liebe, um eine weise Einstellung.
Die Ukraine und Russland haben sich schon vor langer Zeit auf klare Abkommen zu Frieden, Freundschaft und Zusammenarbeit geeinigt. Auf dem Papier erschien Russland als Garant für die Sicherheit und Integrität der ukrainischen Grenzen. Doch die Geschichte lehrt leider, dass Russland niemals aufhört, Völker auszurauben und zu töten und wohl auch nicht aufhören wird. Hunderte von Völkern sind im Laufe der Jahrhunderte durch russische Besetzung und Moskauer Macht verschwunden.
Man kann sich nicht in dieser Weise der Gewalt hingeben, jeder ernsthaften Problemlösung entziehen und gleichzeitig hinter pazifistisch klingenden Worten verstecken. Eine solche Weltanschauung ist ein Extrem, das nicht dem Dharma des Buddha entspricht.
Die Ukrainerinnen und Ukrainer kämpfen für ihre Freiheit, für die Liebe, für die Möglichkeit, zu leben, ihren eigenen Entwicklungsweg zu wählen, für den Frieden in der ganzen Welt. Denn alle globalen Sicherheitssysteme haben im Fall der Ukraine versagt. Das hat dieser Krieg deutlich gezeigt. Die Ukraine wurde in eklatanter Weise getäuscht, wozu auch naive ukrainische Politiker ihren Teil beigetragen haben, indem sie einverstanden waren, Atomwaffen und Reaktoren für deren Produktion sowie Raketen und Flugzeuge an Russland zu liefern – Waffen, die sich nun gegen ukrainische Bürgerinnen und Bürger richten. Die USA, Großbritannien, Russland und China traten damals als Sicherheitsgaranten auf. Und nun? Ihre Garantien sind nichts wert! Darum steht die Menschheit insgesamt vor der Notwendigkeit, neue globale Sicherheitsmechanismen zu schaffen.
Wie hilft Ihnen die buddhistische Praxis in dieser Zeit?
Unsere Dharma-Praxis ist stark, ein Krieg kann sie nicht stoppen. Im Gegenteil, wir haben den Test bestanden und können bezeugen: Buddhistische Methoden der Bewusstseinsschulung ermöglichen es, in Extremsituationen die Nerven zu bewahren, Ängste bis zur Todesangst zu überwinden, Intelligenz und ein tiefes Mitgefühl für das gesamte Umfeld zu entwickeln, was sich in schnellen intuitiven Entscheidungen zeigt, die Leben retten.
Die Buddhisten, die direkt an der Front kämpfen, tragen in ihren Herzen keinen Hass. Sie empfinden tiefe Empathie mit den Russen, die sich von Menschen zu „Lebensfressern“ und Räubern entwickelt haben. Daher ist es die Aufgabe der gesamten Menschheit und auch des ukrainischen Militärs, dieses schreckliche Phänomen mit Liebe, aber auch mit technischen Mitteln zu stoppen. Die Ukraine hält sich an alle internationalen Konventionen zur Kriegsführung. Die russischen Gefangenen leben manchmal besser als die Ukrainer selbst, während die ukrainischen Gefangenen in Russland der Willkür unterworfen werden, gequält, gefoltert und getötet, auch Zivilisten.
Zusammenfassend kann ich zu Ihrer Frage sagen: Wir leben mit Frieden, Mitgefühl und Liebe im Herzen und wenden die Dharmatechniken gekonnt an. Alle Lehren des Buddha sind geschickte Mittel und befähigen dazu, die Vision und das Wissen des Buddha zur rechten Zeit zu entfalten.
Hat sich Ihr Verständnis des Buddhismus, vielleicht auch Ihre buddhistische Praxis, durch den Krieg verändert?
Dank der Schulung im Dharma und den direkten Linien der Bewusstseinsübertragung des Buddha hat sich die Praxis nicht wesentlich verändert, sondern einfach „den Test bestanden“. Wir halten das parampara, die Traditionslinie, rein.
Der Krieg hat den Wert einfacher Dinge deutlicher werden lassen: Wasser, saubere Luft, Leben, Gesundheit, Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit. Der Krieg kann das Beste im Menschen zum Vorschein bringen – die Menschlichkeit. Bei manchen Menschen macht er leider alles noch schlimmer.
Deshalb müssen meiner Meinung nach die edlen Menschen – diejenigen, die allen Wesen, allen Familien, Ländern, Welten Gutes tun wollen – ihre Weisheit und ihr Können, ihr Fachwissen vertiefen und sich an der Schaffung eines neuen Mechanismus der sozialen und politischen Ordnung beteiligen, in dem nichtstaatliche Kräfte die Regierungen kontrollieren und die sozioökonomischen und politischen Prozesse wirksam beeinflussen können.
Was wünschen Sie sich von Buddhistinnen und Buddhisten in Deutschland?
Wir würden uns freuen, wenn es gemeinsame Programme zur Förderung oder Wiederherstellung der geistigen und körperlichen Gesundheit und zum Austausch praktischer Erfahrungen gäbe.Gerne würden wir auch einmal an gemeinsamen Konferenzen oder Retreats teilnehmen.
Besonders wichtig ist für uns derzeit allerdings finanzielle Unterstützung. Die bereitgestellten Mittel verwenden wir für die Instandsetzung und Anmietung von Wohnraum, Energieversorgung, Medizin und Behandlung, Nahrung, Kleidung, Ausbildung der Kinder, Durchführung von Retreats und Ritualen.
Und dann möchten wir, dass Buddhisten und deutsche Bürgerinnen und Bürger aller Glaubensrichtungen ihre politischen Entscheidungsträger hinsichtlich der Lieferung von Langstrecken- und Präzisionswaffen beeinflussen. Diese Waffen werden benötigt, um die russischen Militärlager und ihre Logistik zu neutralisieren, die sonst unsere Zivilisten und Soldaten auf dem Schlachtfeld töten. Wenn die Russen nichts haben, von dem aus sie schießen oder ihre Panzer auftanken können, wird sich der Krieg abschwächen.
Haben Sie abschließend so etwas wie eine buddhistische Botschaft an die Welt oder an unsere Leserinnen und Leser in Deutschland?
Lasst uns ausnahmslos alle unsere Ängste ablegen und ruhig in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schauen. Meister Won Hyo hat gesagt: „Böse Worte haben keine eigene Kraft!“ Helft politischen Monstern in den totalitären Regimen der Welt nicht dabei, Ängste zu schüren. Habt keine Angst vor einem Atomkrieg, lasst euch nicht mit Gaspreisen und anderen Schrecken von Russland aus erpressen. Setzt eure Fähigkeiten mutig und kreativ ein. Eure natürliche Weisheit und Liebe wird euch sagen, wie ihr es besser machen könnt. Liebe Europäer, liebe Deutsche: Ihr seid keine Sklaven des bürokratischen Apparates, stellt ihn unter öffentliche Kontrolle. Dann wird sich euer Leben deutlich verbessern.
Wenn das Leben für dich nicht allzu schwierig ist, hilf bitte der Ukraine und uns als Buddhistinnen und Buddhisten. Lasst uns gemeinsam für die ganze Welt praktizieren. Lasst uns eins sein mit dem Planeten und dem Universum.
Om mani padme hum!
Die Fragen stellte Susanne Billig.
Weitere Informationen und Spendenmöglichkeit