So wie du bist – Erfahrungen eines Shin-Buddhisten in Deutschland
Shaku Gendai Man’po Hoshin (Meik Nörling) ist in der Tradition des Soto-Zen ordiniert. 2017 ist er auch der Jodo-Shinshu-Gemeinschaft beigetreten. Wie schon am Schulgründer Shinran nagte auch an ihm der Zweifel, ob seine eigenen Fähigkeiten ausreichen würden, um zur Erlösung zu gelangen.
„Vertraue dich mir an. Ich werde dich befreien, so wie du bist.“ Das ist die rufende Stimme von Amida. Meine blinden Leidenschaften werden vom Erwachen des Buddha umarmt. Deshalb ruft mir der Buddha zu: „Ich werde dich befreien, so wie du bist.“ Dankbar auf den Ruf des Buddha antwortend, stelle ich fest, dass ich bereits auf dem Weg bin, der ins Reine Land führt. Und das Nenbutsu fließt frei aus meinem dankbaren Herzen.
Monshu Shaku Sennyo Kojun Ohtani, „Ryogemon“
Als ich 2006 begann, den Zen-Weg ernsthaft zu praktizieren, blickte ich voller Bewunderung auf die alten Meister der Vergangenheit, von denen ich schon so viel gelesen hatte: Sie alle waren aus eigener Kraft den Weg des Buddha gegangen. Ich wollte sie mir zum Vorbild machen und es unternehmen, am eigenen Leib und Geist zu erfahren, was sie erfahren hatten. Wie schwierig konnte das schon sein? Schließlich hatte ich bereits mehr als ein Jahrzehnt buddhistische Schriften gelesen, Übungen ausprobiert und verfügte über eine gute westliche Bildung. Darüber hinaus meinte ich zu wissen, dass die Geschichten der Zen-Meister teilweise nicht den Tatsachen entsprachen: Buddha Shakyamuni hatte keine sechs Jahre unter dem Bodhi-Baum gesessen, um sein Erwachen zu verwirklichen, und Bodhidharma nicht unbewegt neun Jahre vor der Höhlenwand in den Bergen oberhalb des Shaolin-Klosters.
Nicht nur meine körperlichen Beeinträchtigungen – aus gesundheitlichen Gründen sehe ich mich außerstande, einwöchige Zen-Retreats (sesshins) mit damals noch 12 bis 14 Runden Zazen von je 40 Minuten durchzusitzen – holten mich auf den Boden der Tatsachen zurück, sondern auch die aufdämmernde Erkenntnis, wie tief ich doch in die Welt der Begierden verstrickt bin. Bereits 2011 war ich erstmals mit der Jodo Shinshu Deutschland (BGJ-D) in Kontakt gekommen, mit der Tradition also, die häufig als „Shin-Buddhismus“ bezeichnet wird. Die Lebensgeschichte des Schulgründers Shinran Shonin (1173–1263) war mir da schon bekannt: Shinran hatte zwanzig Jahre lang als Mönch auf dem Klosterberg Hiei im Nordosten von Kyoto gelebt und war desillusioniert vom Berg hinuntergestiegen, um bei Meister Honen (auch Genku genannt, 1133–1212) und dessen Nenbutsu-Lehre Zuflucht zu nehmen.
Der Weg des Vertrauens
Als Shin-Buddhistin oder -Buddhist „spricht man einfach ‚Namo-Amida-Butsu‘, vertraut ohne Zweifel darauf, dass man in Amida Buddhas Reines Land hingeboren wird, und weiter ist nichts erforderlich.“ So hat es Meister Honen kurz und prägnant in seinem „Ein-Seiten-Testament“ zusammengefasst. Ich bin mir meiner eigenen sehr begrenzten Fähigkeiten, meiner Verblendungen und meines schlechten Karmas bewusst und muss folglich schonungslos anerkennen, dass es bei mir für die Erleuchtung aus eigener Kraft in diesem Leben wohl nicht reichen wird. Dazu bin ich zu sehr im weltlichen Leben verstrickt, wahrscheinlich auch zu bequem, und ganz allgemein ist das in der heutigen abgelenkten und zerstreuten Gesellschaft fast schon unmöglich. Was kann ich also tun? Welche Möglichkeit hat ein „dummes Wesen“, wie Shinran Shonin sich selbst bezeichnete, „voll von blinden Leidenschaften in dieser sich stetig wandelnden Welt, diesem Brennenden Haus“? (Das „Brennende Haus“ ist ein Gleichnis aus dem Lotos-Sutra, die Red.) Einfach „Namo-Amida-Butsu“ sagen – ist es wirklich so simpel? Und wie steht es um meine Verantwortung als Buddhist und als Mensch? Im Zen nehmen wir die Dreifache Zuflucht, die Drei Reinen Gebote und die Zehn Gewichtigen Verbote ( jukai); wir üben uns also darin, den weltlichen Verstrickungen zu entsagen, und halten uns an die Maxime: „Vermeide alles Böse, kultiviere all das Gute und läutere deinen Geist. Dies lehren alle Buddhas.“ Dieser „Vers der Ermahnung der Sieben Buddhas“ wird von Dogen Zenji im „Shobogenzo Shoaku makusa“ aus dem Dhammapada zitiert. Unsere Zen-Praxis besteht im Zazen, aber auch darin, „die zahllosen Wesen zu retten, die unerschöpflichen Verblendungen zu beenden, die grenzenlosen Dharma-Tore zu durchschreiten und den allüberschreitenden Buddha-Weg zu verkörpern“. So heißt es in den „Vier Großen Gelübden“, die in Zen-Klöstern mehrmals täglich rezitiert werden. Und nun einfach das Nenbutsu, „Namo-Amida-Butsu“, sprechen? Kann das denn echter Buddhismus sein?
Akt der Dankbarkeit
Auch der Shin-Buddhismus erkennt den dreifachen buddhistischen Erlösungsweg an, allerdings setzt er die Schwerpunkte anders als andere Traditionen. Obwohl er großen Wert auf schriftliche Quellen und akademische Studien legt, besteht seine Praxis darin, der „Anderen Kraft“ (japanisch tariki – als Gegenbegriff zur „Eigenen Kraft“, jiriki, die Red.) zu vertrauen, den Dharma zu hören, in Dankbarkeit den Namen des Buddha zu sprechen und dieses Nenbutsu als Akt der Dankbarkeit zu praktizieren. Im Shin-Buddhismus werden im Gegensatz zu anderen Traditionen des Reines-Land-Buddhismus nicht täglich Hunderte oder Tausende Nenbutsu gesprochen. Abgesehen von informellen Nenbutsu, die auch spontan geäußert werden, sprechen wir bei Andachten entweder formal sechs kurze Nenbutsu (Tan-Nenbutsu) oder das Nenbutsu wird als Teil eines Lobliedes (Wasan) gesungen.
Heutige Shin-Buddhistinnen und -Buddhisten nehmen weder bei der Laien-Ordination (kikyoshiki) noch bei der priesterlichen Ordination (tokudo) ethische Gelübde an. Shinran hatte erkannt, dass die traditionellen Gelübde, Übungen und Lehren ihn nicht zur Erlösung führen konnten. Er erkannte, dass unerleuchtete Wesen, selbst nach Jahren des Studiums und der asketischen Praxis, nicht sicher sein können, was wirklich „gut“ oder „böse“ ist. Verdienstvolle Taten betrachtete er nicht als heilbringend, da sie selten selbstlos ausgeführt werden und niemand die Auswirkungen des eigenen Handelns vollständig ermessen kann. Der Shin-Buddhismus ist folgerichtig ein reiner Laien-Buddhismus ohne ausdrückliche ethische Verpflichtungen und ohne monastische Tradition. Die Priesterinnen und Priester haben Familie und Kinder und sehen sich nicht als Mönche oder Nonnen. Auch Klöster gibt es im Shin-Buddhismus nicht.
Die Einsicht des Shin-Buddhismus ist vielleicht nicht die erwachte Weisheit des Zen, aber doch ein schonungsloses Erkennen der eigenen Person, gewonnen aus aufrichtiger Selbstreflexion im Licht des Buddha und seiner Lehren. Als Shin-Buddhist gestehe ich mir ein, dass ich meine Erlösung nicht aus eigenem Wirken erreichen kann. Die Ursache der Erlösung liegt nicht in eigenem Tun oder Nicht-Tun, sondern im Wirken des Buddha, in der Anderen Kraft.
Das Aufdämmern des Shinjin
In der Jodo Shinshu kommt dem Begriff shinjin eine große Bedeutung zu. Shinjin kann nur unzureichend mit „tief gefestigtes Vertrauen“ übersetzen werden, da es sowohl Aspekte des Gewahrseins, der Erkenntnis, des Glaubens, des Vertrauens, der Gewissheit und der Zuversicht beinhaltet. Einige Anhängerinnen und Anhänger vergleichen das Aufdämmern des Shinjin mit einem plötzlichen Erwachen wie im Zen, während andere rückblickend gar nicht mehr sagen können, wann es sich bei ihnen eingestellt hat, so schleichend ging da ein Prozess vonstatten. In der Erkenntnis, dass es „bei mir nicht reichen wird“, dass da aber jemand oder etwas ist, der oder das mich trotz oder gerade wegen dieser Mangelhaftigkeit akzeptiert, trägt und zur Erlösung hinführt, kann ich voller Zuversicht „Namo-Amida-Butsu“ sprechen, aus Dankbarkeit dafür, dass der Buddha meine Hingeburt in sein Reines Land und damit meine Erlösung gesichert hat. Im Geist dieses Vertrauens und dieser Dankbarkeit, im Geiste des Dharma, bemühen sich Shin-Buddhistinnen und -Buddhisten darum, ein freudvolles, wohlwollendes und verantwortungsbewusstes Leben zu führen, zu unserem eigenen Wohl und zum Wohl der Gesellschaft. Unser Alltag wird zum Ort des Übens, ob nun im Beruf, in der Beziehung, der Kindererziehung, der Pflege unserer alt gewordenen Eltern oder in den zahllosen anderen Erfahrungen und Verantwortlichkeiten, mit denen ein Mensch im Leben konfrontiert wird. Das menschliche Leben ist kostbar, aber unbeständig. Es kann jederzeit enden. Da es mir unmöglich ist, mich in diesem Leben aus eigener Kraft zu befreien, muss ich mich jetzt der Anderen Kraft zuwenden, mich ganz auf den Buddha verlassen und seinen Namen anrufen!
Wer schaut schon gern in den Spiegel?
Viele, die in Europa zur Jodo Shinshu kommen, haben bereits eine „Dharma-Karriere“ im Theravada, Zen oder tibetischen Buddhismus hinter sich. Sie mussten erfahren, dass das, was sie dort machten, „nicht reichen wird“. Das Vertrauen in die Andere Kraft wird da zur logischen Konsequenz. Natürlich ist dieser „Weg des Reinen Landes“ kein Unikat der japanischen Jodo Shinshu. Auch der Buddhismus in Tibet, Korea, Vietnam und China kennt Praktiken, um in Amidas Reines Land hingeboren zu werden. Und aus dem Soto-Zen stammt der von unserem verstorbenen Zen-Meister Harada Tangen oft zitierte Spruch: „Wirf dich in das Haus des Buddha, und alles wird getan von Buddha.“ Das Vertrauen in die Andere Kraft scheint hier im Westen allerdings nicht viele Menschen anzusprechen, da es oberflächlich eine gewisse Ähnlichkeit zum Christentum aufweist. Darum wird der Shin-Buddhismus auch in den nächsten Jahrzehnten wohl keinen großen Platz im deutschen Buddhismus einnehmen und die Jodo Shinshu Deutschland auf absehbare Zeit nicht über eine beschauliche Sangha hinauswachsen. Dafür ist diese Lehre einerseits zu einfach und andererseits vielleicht auch zu radikal. Wer schaut schon gern in den Spiegel und erkennt das Ausmaß des eigenen Unvermögens und der eigenen Ego-Zentriertheit an?
Weitere Informationen
BGJ-D: bgjd.de
Jodo Shinshu Hongwanji-ha International: international.hongwanji.or.jp
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