Sexualität, Buddhismus, Psychologie

Ein Interview mit Dorothea Nett, Francoise Guillot, Ralf Adam geführt von Susanne Billig veröffentlicht in der Ausgabe 2021/3 Was trägt? unter der Rubrik Buddhismus Heute. (Leseprobe)

Im Kamalashila Institut gibt es seit August 2020 eine Seminarreihe „Buddhismus und Psychologie“. In einem Modul Anfang September 2021 wird es auch um Sexualität gehen. Dorothea Nett, Francoise Guillot und Ralf Adam, drei der Seminarleiter:innen, im Interview mit BUDDHISMUS aktuell.

BUDDHISMUS aktuell: Warum ist es euch wichtig, das Thema Sexualität ausdrücklich in eine buddhistische Seminarreihe aufzunehmen?

Dorothea Nett: Die Idee für diese Seminarreihe ging aus den fruchtbaren Begegnungen zwischen östlichen buddhistischen Lehrerinnen und Lehrern und westlichen Fachleuten aus Psychologie und Psychotherapie hervor. Diese Begegnungen haben spannende neue Perspektiven und Antworten auf zentrale Themen unserer Gesellschaft eröffnet. Ein solches wichtiges Thema ist für viele Menschen die Sexualität – und durch die Missbrauchsfälle, die in letzter Zeit auch in buddhistischen Gemeinschaften bekannt geworden sind, ist es sehr aktuell. 

Sexualität gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Wie wir damit umgehen, kann zu großem Glück, aber auch zu viel Leid für uns und andere führen. Buddhistische Lehren zeigen heilsame Möglichkeiten auf, unsere Sexualität zu leben – als Ausdruck von Liebe im Rahmen einer verbindlichen Beziehung. Es gibt klare Regeln zum Vermeiden von sexuellem Fehlverhalten, das uns und anderen schaden würde. Darüber hinaus werden im Mahayana-Buddhismus Methoden vermittelt, durch die wir die Leerheit unserer Begierden erkennen und uns von Anhaftung befreien können. 

Im Vajrayana-Buddhismus wird gelehrt, wie Begierde in die Wärme des Mitgefühls für alle Lebewesen und in eine differenzierende, unterscheidende Weisheit transformiert werden kann. Die sexuelle Energie kann so zum Weg gemacht werden. Sehr problematisch ist es allerdings, wenn buddhistische Lehrerinnen oder Lehrer mit ihren Schülerinnen oder Schülern sexuelle Beziehungen eingehen. Dabei kommt es oft zu schweren Traumatisierungen. Darum hat die Ethik-Arbeitsgruppe der DBU vor kurzem Ethikrichtlinien für buddhistische Gemeinschaften entwickelt. Sie orientieren sich an den Regeln, die sich im Westen in der Lehrer:innen-Schüler:innen- und der Therapeut:innen-Klient:innen-Beziehung bewährt haben. Für Betroffene können Erkenntnisse der westlichen Psychologie zur Missbrauchsdynamik und traumatherapeutische Methoden sehr hilfreich sein, ihre belastenden Erfahrungen zu verarbeiten. Denn ihr Vertrauen in spirituelle Übungen ist oft grundlegend erschüttert.

Der Zölibat aus religiösen Gründen wird derzeit sehr kritisch diskutiert. Schwingt in Enthaltsamkeitsgelübden zwangsläufig eine Geringschätzung der Sexualität mit? 

Dorothea Nett: Zölibatsgelübde beinhalten nicht zwangsläufig eine Abwertung der Sexualität. Sie gehen auf die Erfahrung zurück, dass das Ausleben von starkem sexuellen Begehren und die inneren und äußeren Verstrickungen, die daraus hervorgehen können, eine große Ablenkung für den spirituellen Weg darstellen. Die Einhaltung sexueller Enthaltsamkeit kann dagegen die Freiheit schenken, das ganze Leben für die spirituelle Praxis, die Verwirklichung der Qualitäten des Geistes und für Aktivitäten zum Wohle anderer zu nutzen. Seine Heiligkeit der Dalai Lama und andere Meisterinnen und Meister sind bewundernswerte Beispiele dafür. Auch für gewöhnliche Praktizierende können lebenslange Zölibatsgelübde als Inspiration und Schutz vor emotionalen Verwicklungen wirken. 

Sie können aber auch zur Überforderung werden. Daher gibt es die Möglichkeit, solche Gelübde nur für eine bestimmte Dauer zu nehmen, zum Beispiel für die Zeit eines Meditationsrückzuges oder auch nur für einen Tag, und sie danach wieder zurückzugeben. In manchen asiatischen Kulturen ist es üblich, dass Männer, bevor sie eine Familie gründen, einige Jahre im Kloster verbringen. In anderen Ländern ziehen sie sich nach ihrer Familienphase aus dem weltlichen Leben zurück, um sich ganz dem spirituellen Weg zu widmen. Viele tibetische Familien gaben und geben ihre Kinder in Klöster, damit sie dort eine gute Ausbildung erhalten. Für diese Zeit werden Novizinnen- oder Novizengelübde abgelegt. Nach dem Abschluss der Ausbildung können sie zurückgegeben werden, wenn der junge Mönch oder die junge Nonne den Wunsch hat, ein weltliches Leben zu führen. 

Wenn die Gelübde allerdings nur aufgrund von sozialem Druck beibehalten werden, um den Meister, die Gemeinschaft, die Eltern oder andere nicht zu enttäuschen oder aus Angst, den vertrauten Rückhalt und die Absicherung durch das Kloster zu verlieren, kann es natürlich zu massiven inneren Konflikten kommen. Im Extremfall kann die Unterdrückung der sexuellen Energie zu psychischen Störungen, sexuellen Fehlentwicklungen und dem Ausnutzen von Machtsituationen für sexuellen Missbrauch führen. Die westliche Psychologie kann hier gute diagnostische Kriterien liefern, die eine psychische Fehlentwicklung frühzeitig erkennen lassen und psychotherapeutische Begleitung kann dabei helfen, das Beenden des Zölibat in einer Weise zu vollziehen, die das Selbstwertgefühl wahrt und dabei unterstützt, den Weg so weiterzugehen, wie es den eigenen Bedürfnissen und Fähigkeiten entspricht. 

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Homosexuelle Menschen haben auch im Buddhismus Diskriminierung erlebt. Viele haben sich noch bis vor Kurzem in ihren Gemeinschaften versteckt. Auch dieses Thema wird Teil eures Seminarangebots sein – worum geht es euch dabei?

Francoise Guillot: Uns geht es darum aufzuzeigen, dass der diskriminierende Umgang mit Menschen, die eine andere als die heterosexuelle Orientierung leben, ein gesellschaftliches und kulturelles Phänomen ist, das von Religionen, auch vom Buddhismus, widergespiegelt wird. Als Praktizierende sollten wir vor allem darauf achten, ob das jeweilige sexuelle Verhalten anderen Lebewesen schadet oder nicht. Alle anderen Beurteilungen haben mit Konzepten und Glaubenssätzen zu tun, Konstrukten in unserem Geist, die wir uns generell im Rahmen unseres buddhistischen Geistestrainings sehr genau anschauen müssen. Daher sollten Menschen nicht im Hinblick auf ein bestimmtes Merkmal ausgegrenzt werden. Stattdessen sollte es selbstverständlich sein, sie in unsere Gemeinschaften aufzunehmen, sie zu achten und ihr Anderssein als Bereicherung zu erleben. 

Geschichtlich betrachtet war die Haltung religiöser und kultureller Gemeinschaften im Westen wie im Osten gegenüber homosexuellen Praktiken – die natürlich auch missbräuchliche Züge tragen konnten – noch nie in Stein gemeißelt. In der Katholischen Kirche wurde die Homosexualität erst ab dem 13. Jahrhundert ausdrücklich verurteilt. Als Missionare im 16. Jahrhundert nach China und Japan reisten, waren sie entsetzt, wie in buddhistischen Klöstern ältere Priester systematisch mit jüngeren Mönchen sexuell verkehrten, ohne diese Tatsache in irgendeiner Weise zu verbergen. Sex unter Mönchen wurde damals trotz der Ordensregeln (vinaya) als weniger problematisch angesehen als Sex mit Frauen.2In Indien war die Situation ähnlich. Im China der Qing-Dynastie ging man dagegen Anfang des 19. Jahrhunderts rigoros gegen sexuellen Missbrauch vor. In diesem Zusammenhang wurden homosexuelle Übergriffe ebenso wie Vergewaltigungen von Frauen streng verurteilt. Grundsätzlich verbieten die Vinaya-Regeln jede Art sexueller Aktivität in buddhistischen Klöstern. Es scheint aber noch heute in manchen Klöstern Ausnahmen zu geben, allerdings in versteckter Form. Das Thema ist derzeit ein großes Tabu.

Uns geht es in diesem Diskurs in erster Linie um den respektvollen Umgang miteinander, frei von Dogmen.Buddhistinnen und Buddhisten im Westen praktizieren vorwiegend in Laiengemeinschaften. Menschen, die homosexuell oder transsexuell sind, sollten wie heterosexuelle Sangha-Mitglieder behandelt werden. Wir haben das Glück, in europäischen Ländern zu leben, in denen sich eine relativ tolerante Gesellschaftsform entwickelt hat. Dass das nicht überall der Fall ist, sehen wir beispielweise in Russland.

ENDE DER LESEPROBE

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Dorothea Nett

ist Psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis. Sie praktiziert und lehrt tibetischen Buddhismus und ist Ansprechpartnerin der DBU für Menschen, die im buddhistischen Kontext Missbrauch erlebt haben

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Francoise Guillot

ist Pädagogin, Heilpraktikerin mit Schwerpunkt Naturheilkunde und psychologischer Beratung, Buchautorin und Shiatsu-Expertin. Langjährige buddhistische Praxis in verschiedenen Schulen des tibetischen Buddhismus.

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Ralf Adam

ist Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, langjähriger Schüler von Kyabje Tenga Rinpoche und Meditationsleiter.

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