Rituale – neu betrachtet

Ein Beitrag von Prof. Anne Carolyn Klein (Rigzin Drolma) veröffentlicht in der Ausgabe 2018/1 Liebe unter der Rubrik Buddhismus Heute. (Leseprobe)

Buddhistische Praktizierende von heute haben oft Widerstände gegen ritualisierte Übungsformen, doch wenn wir uns mit unseren Widerständen auseinandersetzen, können wir uns für das befreiende Potential von Ritualen öffnen.

Paul Klee: Bewegung der Gewölbe, 1915 Aquarellfarbe auf Papier © Everett – Art, Shutterstock

In den letzten fünfzig Jahren haben sich westliche Menschen zunehmend für die buddhistische Praxis interessiert, doch für viele hören das Interesse und die Übung auf, sobald es um das Ausführen von Ritualen geht. Rituale scheinen für sie mit modernen Formen des individuellen Selbstausdrucks unvereinbar. Ich bin ziemlich tief in die buddhistische Tradition eingetaucht und frage mich, wie wir trotz unserer Verankerung in der Moderne auch die Praxis von Ritualen schätzen können.

Sicherlich sind Rituale nichts besonders Altertümliches. Sie regulieren auch heutiges weltliches Verhalten von den Halbzeit-Events beim Endspiel im American Football über Pride-Paraden bis zum gemeinsamen Essen im Freundeskreis und in der Familie. Wenn sich ein ritualisierter Ausdruck für uns stimmig anfühlt, dann wird durch die choreografierte gemeinsame Aktivität unser Gefühl der Zugehörigkeit und des Wohlbefindens gestärkt. In buddhistischen und anderen spirituellen Gemeinschaften unterstützt der rituelle Ausdruck die individuelle innere Arbeit.

Schränken Rituale unsere individuelle Freiheit ein?

Dennoch empfinden viele zeitgenössische Menschen traditionelle Rituale als nicht besonders nährend. Wir erleben, wohl mehr als traditionelle Völker, inszenierte Verhaltensweisen als Einschränkung unseres individuellen Rechts, so zu handeln und zu glauben, wie es uns richtig erscheint. Wir neigen sogar zu der Überzeugung, dass unsere eigene einzigartige Perspektive dem Vererbten übergeordnet sein sollte. Durch diese Brille können Rituale verdächtig erscheinen und sich an unserer kulturell bedingten Verehrung der logischen Vernunft reiben. Rituale scheinen uns dazu aufzufordern, Dinge zu glauben, die wir gerade nicht glauben, und Dinge zu tun, die wir für gewöhnlich nicht tun. Warum sich verbeugen, wenn Sie nicht an das glauben, wovor Sie sich verbeugen? Oder weil es Ihnen einfach nicht danach ist, sich zu verbeugen?

Selbst bei modernen Buddhistinnen und Buddhisten, die sich durchaus mit rituellen Übungen befassen, werden solche Einwände auf die eine oder andere Weise auftauchen. Auch in mir, die ich seit mehr als vierzig Jahren den tibetischen Buddhismus praktiziere, rumoren immer noch gelegentlich Fragen zur Glaubwürdigkeit seiner rituellen Formen – besonders wenn ich im Retreat bin. Ein Teil von mir ist mit dem Programm nicht einverstanden. Ein Teil von mir protestiert und stellt ironisch fest, dass ich immerhin eine gebildete Person mit einem Bewusstsein dafür bin, wie albern die Vorstellung ist, man könne sich einfach fremde kulturelle Verhaltensformen aneignen. Mir ist deutlich bewusst, wie absurd diese Beschäftigung vielen Leuten, die ich kenne, gernhabe und achte, erscheinen würde. Aber ich erkenne auch, dass solche Proteste nicht einkalkulieren, welche neuen Perspektiven mir diese Praxis tatsächlich bietet. Denn obwohl der Protest weiter in mir aufwallt, erfahre ich doch auch mehr und mehr Bereicherung durch die Ritualpraxis.

Paul Klee: Einer, der versteht, 1934, Ölfarbe und Gips auf Leinwand | © Everett – Art, Shutterstock

Mir wird klar, dass meine Proteste und die Bereicherung, die ich erfahre, tatsächlich auf eine zutiefst zeitgenössische Weise in einem fruchtbaren Dialog miteinander stehen. Das Ergebnis? Bisher habe ich immer tiefe Dankbarkeit empfunden, wenn ich trotz meiner inneren Kämpfe und Zweifel rituelle Übungen einbeziehe; denn sie öffnen Türen, die meiner Erfahrung nach nichts sonst geöffnet hat. Das bedeutet nicht, dass ich solchen Übungen auf die gleiche Weise begegne, wie es eine traditionelle Tibeterin tun würde. Allein die Tatsache meines Widerstands – der in kulturellen Anschauungen begründet liegt, denen traditionelle Tibeterinnen und Tibeter nie ausgesetzt waren – setzt mich genau wie andere Praktizierende mit ähnlichem Erfahrungshintergrund auf ein völlig anderes Spielfeld. Wir können nicht nicht modern sein.

Ein moderner Mittlerer Weg

Seit Buddhas Zeit gehört der Dialog zur Praxis und zur Lehre. Der äußere Dialog zwischen Studierenden und Lehrenden spiegelt und provoziert den inneren Dialog der Praktizierenden. Für heutige Praktizierende wie mich ist ein solcher Dialog vor allem dann förderlich, wenn zwar Widerstand ausgelöst, aber auch das Wertvolle erkannt wird. In keinem von beiden stecken zu bleiben ist ein moderner Mittlerer Weg. Er ist so tiefgreifend und subtil wie die rituelle Praxis selbst. Darum möchte ich über die Quellen und Formen dieses für unsere Zeit so typischen Widerstands nachdenken.

Es erscheint zwar widersinnig, doch gerade ein solches Nachforschen könnte Verwirklichungen ermöglichen, die gleichzeitig aus der Tradition geboren und für unsere aktuelle Situation einzigartig sind. In der rituellen Praxis ist die ganze Person beteiligt. Es gibt Spannungen zwischen dieser Idee der Ganzheit und der Geist-Körper-Spaltung, die ein Kennzeichen unseres modernen kulturellen Erbes ist. Der umfassende Reichtum des Rituals bezieht alle unsere Sinne ein. Seine flussähnliche Strömung verformt und gestaltet sanft die Felsen, die unsere kulturelle Landschaft heute kennzeichnen. In umgekehrter Richtung wird der Fluss der Praxis selbst durch solche Felsen umgeformt, auch wenn er seiner Wassernatur treu bleibt. Diesem Widerstand zu begegnen scheint in sich selbst belohnend zu sein, denn dadurch wird unser Kontakt mit dem Wasser unseres Seins klarer und spürbarer. Unsere Individualität und aktuelle Empfindsamkeiten bleiben, doch die erlebte Trennung zwischen Modernität und Tradition wird merklich schwächer.

Aus heutigem Blickwinkel geben Rituale uns die Gelegenheit, unsere Fähigkeit des staunenden Nachforschens zu verfeinern. In lebendigem Staunen versuchen wir urteilsfrei herauszufinden, was genau in unserem Körper und Geist geschieht, während wir uns verbeugen, rezitieren oder uns vorstellen, wie wir Klang und Licht aussenden.

ENDE DER LESEPROBE

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Prof. Anne Carolyn Klein (Rigzin Drolma)

Anne Carolyn Klein (Rigzin Drolma) ist Professorin für Religionswissenschaften an der Rice University in Houston, Texas, Lama in der Nyingma-Tradition sowie Mitbegründerin und Lehrerin des Dawn-Mountain-Zentrums für tibetischen Buddhismus. Sie ist Autorin vieler Bücher und lehrt international.

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