Nichts ist verborgen, kein Atom widersetzt sich uns

Ein Beitrag von Joan Halifax übersetzt von Susanne Billig veröffentlicht in der Ausgabe 2021/1 Gemeinwohl unter der Rubrik Gemeinwohl.

Roshi Joan Halifax ist Gründerin, Äbtissin und Schulungsleiterin des Upaya Zen Center in Santa Fe im US-Bundesstaat New Mexico. Zeit ihres Lebens hat sie sich politisch und sozial engagiert. In ihrem Beitrag erläutert sie, warum für sie Gemeinwohl und Buddhismus untrennbar zusammengehören.

Upaya Zen Center in Santa Fe, US-Bundesstaat New Mexico

Im September überschritten die USA die Schwelle von 200 000 Coronatoten. Wir leben in einer zutiefst beunruhigenden Zeit radikaler Unsicherheit, aber auch in einer Zeit dessen, was der afroamerikanische Bürgerrechtler und langjährige Kongressabgeordnete John Lewis „good trouble“ genannt hat, „gute Probleme“. 

Vor Kurzem bin ich 78 Jahre alt geworden. Geboren wurde ich während des furchtbaren Zweiten Weltkriegs, eines Krieges gegen den Faschismus. Als 1945 die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden, war ich ein dreijähriges Kind. Eine Viertelmillion Menschen – Männer, Frauen und Kinder – starben durch diese Bomben. Hiroshima und Nagasaki haben eine neue Epoche eingeläutet. Der Einsatz von Massenvernichtungswaffen kann die Erde für alle außer den widerstandsfähigsten Arten unbewohnbar machen und die gesamte Menschheit auslöschen.

Seit diesem schrecklichen Ereignis sind 75 Jahre vergangen. Die Schrecken des Zweiten Weltkriegs haben sich tief in die Psyche vieler Menschen meiner Generation eingeschrieben. Wir wollten der Gewalt auf dieser Welt ein Ende bereiten. Diese Hingabe hat unser Leben geprägt.

Nachtwache

Oft muss ich an Abraham Johannes Muste denken. Er war ein evangelisch-reformierter Geistlicher und politischer Aktivist. Zur Zeit des Vietnamkriegs stand dieser Mann Nacht für Nacht mit einer brennenden Kerze vor dem Weißen Haus – und viele Nächte war er ganz allein. Eines Abends interviewte ihn ein Reporter, als er wieder einmal im Regen dort stand. „Mr. Muste“, fragte der Reporter, „glauben Sie wirklich, dass Sie die Politik dieses Landes ändern werden, indem Sie nachts allein mit einer Kerze hier draußen stehen?“ Abraham Muste antwortete: „O, ich mache das nicht, um das Land zu verändern. Ich mache das, damit das Land mich nicht verändert.“

In meinem Buch „Gratwanderung – Achtsame Ethik für ein nachhaltig bewusstes Leben“ habe ich die Frage aufgeworfen, wie es kommt, dass manche Menschen von der Welt nicht in die Knie gezwungen werden, sondern von dem tiefen Wunsch beseelt sind anderen zu dienen. Abraham Muste war so ein Mensch. Mein Lehrer Roshi Bernie Glassman war so ein Mensch. Die Umweltaktivistin, Buddhistin und Tiefenökologin Joanna Macy ist so ein Mensch. Die pakistanische Kinderrechtsaktivistin Malala Yousafzai ist so ein Mensch. Greta Thunberg ist so ein Mensch. Der Buddha war so ein Mensch. 

Der Buddha sagte: „Ich lehre eine Sache und nur eine Sache: die Wahrheit des Leidens und das Ende des Leidens.“ Er hat den ersten Punkt, die Wahrheit des Leidens, nicht übersprungen. Er sagte auch: „Mein Dharma schwimmt flussaufwärts.“ 

Wir schwimmen gerade gegen eine heftige Strömung: die Pandemie, die Klimakatastrophe, rassistische Gewalt, politische Korruption und so vieles mehr. Es braucht viel virya, eine Entschlossenheit von ganzem Herzen, um gegen die Fluten der Gewalt zu schwimmen, die wir heute erleben.

Flussaufwärts schwimmen

Die Zen-Praxis ist genau das: flussaufwärts schwimmen, von ganzem Herzen, und belastbar sein. Die Wahrheit und die Gegenwart des Leidens und der Vergänglichkeit nicht leugnen. Sehen, dass Befreiung möglich ist, indem wir fundamentale Selbstlosigkeit verwirklichen.

Zen basiert auch auf der Erfahrung, dass Bodhisattvas keine einfachen Situationen aufsuchen. Bodhisattvas praktizieren und dienen dort, wo gelitten und gestorben wird, sei es als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Gesundheitssystems, die täglich mit Krankheit und Verlust umgehen müssen; sei es bei Protesten gegen rassistische Polizeigewalt oder wenn es darum geht, korrupte Politikerinnen und Politiker beim Namen zu nennen. 

Diesen Beitrag habe ich übertitelt mit „Nichts ist verborgen“. Denn die Wahrheit liegt direkt vor uns: die Wahrheit des Leidens und der Freiheit vom Leiden. Der Weg liegt direkt unter unseren Füßen. Es geht darum, alles zu erfassen: die feinen Einzelphänomene und Besonderheiten ebenso wie die großen Wahrheiten, dass alles vergänglich ist und alles miteinander in inniger Verbindung steht. Das ist der Dharma. 

Können wir das sehen, in unserer eigenen Erfahrung? Können wir es im Kontext unseres Lebens sehen? Können wir sehen, wie diese Wahrheiten in unseren sozialen Interaktionen und Institutionen wirken?

Roshi Joan Halifax demonstriert für eine andere Klimaschutzpolitik

„Wir müssen die Wahrheit sehen“

Der Mitgründer des Internationalen Netzwerks engagierter Buddhistinnen und Buddhisten, Sulak Sivaraksa, der auch mehrere soziale, humanitäre, ökologische und spirituelle Bewegungen und Organisationen in Thailand ins Leben gerufen hat, sah im sozial engagierten Buddhismus den wesentlichen Buddhismus. Er sagte einmal: Das Herz des buddhistischen Engagements reagiert auf Gewalt – insbesondere auf strukturelle Gewalt. Immer wieder betonte er, dass sich Gier, Hass und Täuschung, also die Wurzeln unseres Leidens, nicht nur in persönlichen Ansichten und Verhaltensweisen zeigen, sondern auch in den Strukturen und Funktionsweisen unserer Institutionen. Strukturelle Gewalt lässt sich nur beenden, sagte Sulak Sivaraksa, wenn wir unsere Institutionen auf die starke Grundlage einer Ethik der Fürsorge, des Mutes und des Mitgefühls stellen.

Auch Johan Galtung, Pionier der Friedensforschung, hat erklärt, dass wir Gewalt nicht ausschließlich als das absichtliche Zufügen eines direkten körperlichen Schadens verstehen können, also in direkter Gewalt gegenüber Menschen oder auch, wie ich heute hinzufügen würde, gegenüber unserer Erde, beispielsweise durch Goldabbau, Petrochemie, Gerbereien, Industriedeponien, Jagd, Massentierhaltung und Modebranche. Galtung schlug ein umfassenderes und tieferes Verständnis von Gewalt vor. Danach ist alles Gewalt, was die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse und Rechte verletzt. Zur strukturellen Gewalt zählt es, wenn Machtungleichgewichte in den Strukturen oder Institutionen des Zusammenlebens Menschen Schaden zufügen (ebenso anderen Lebewesen sowie dem gesamten Planeten). Strukturelle Gewalt hindert Menschen daran, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Sie hängt eng mit sozialer Ungerechtigkeit zusammen (und mit Umweltungerechtigkeit, möchte ich heute ergänzen). Galtung arbeitete auch heraus, dass direkte und strukturelle Gewalt in einem Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit stehen. Das wird offensichtlich, wenn wir familiäre, geschlechtsspezifische und rassistische Gewalt betrachten, Hassverbrechen, staatliche und polizeiliche Gewalt, Terrorismus und Krieg. Hier würde ich heute die Vergewaltigung der Erde hinzufügen. Strukturelle Gewalt äußert sich auch als kulturelle Gewalt, denken wir auch hier an Rassismus, Sexismus, Homophobie und die Abwertung bestimmter Gruppen und Kulturen.

Der Buddha erkannte die verschiedenen Formen der Gewalt. Gewalt war für ihn das Leiden, das wir uns selbst und anderen antun, wenn wir nicht aufwachen und erkennen, was Gier, Hass und Täuschung anrichten.Der Buddha sah aber auch die strukturelle Gewalt. Das zeigt seine Reaktion auf die Gewalt gegen Menschen aus sogenannten unteren Kasten und gegen Frauen.

Tiefe Stabilität kultivieren

Die thailändische Religionswissenschaftlerin und erste voll ordinierte buddhistische Nonne ihres Landes, Bhikkhuni Dhammananda, macht sich für die volle Frauenordination stark. Damit stellt sie sich gegen den Mainstream mit seinen massiven geschlechtsspezifischen Unterschieden bei der Ordination. Bhikkhuni Dhammananda ist ein Mensch, der zeigt, wie sich eine Ethik der Fürsorge, des Mutes und des Mitgefühls ausdrücken kann. 

Um eine solche Ethik verwirklichen zu können, brauchen wir eine Praxis, die eine tiefe Stabilität in uns kultiviert. Nur dann können wir die Wahrheit des Leidens und den Weg, der das Leiden transformiert, klar erkennen.

Ethik und Stabilität sind wichtig in dieser Zeit, in der wir uns auf dem Knochenfeld struktureller und direkter Gewalt befinden, auf dem Boden politischer Korruption, auf dem Boden unserer Klimakatastrophe, auf dem Boden des Rassismus und dieser Pandemie, die sich immer weiter ausbreitet. Wir müssen nicht nur tief erkennen, was derzeit passiert. Wir müssen die Wurzeln der Gewalt auch in uns selbst und in unseren sozialen Institutionen erkennen.

Unsere Zen-Praxis muss darauf ausgerichtet sein, aufzuwachen und die Gewalt in unseren Köpfen und in der Welt zu erkennen. Wir müssen die Wahrheit des Leidens sehen und anerkennen; wir müssen anerkennen, was in der Welt, in unserem Land, in unserem Verstand, in unserem Herzen vor sich geht. Wir dürfen das Leiden nicht unsichtbar machen, indem wir es mit dem Sirup der Leere überträufeln oder in die Trance moralischer Apathie geraten. Wir müssen uns dafür öffnen, darüber Zeugnis ablegen, dürfen es nicht ablehnen. Und wir müssen eine angemessene Beziehung zu dieser Gewalt einnehmen. 

Der berühmte japanische Zen-Lehrer Dogen Zenji sagte: „So wie Eltern für ihre Kinder sorgen, sollten Sie das gesamte Universum im Auge behalten.“ Das ist unsere Praxis.

Roshi Joan Halifax und ihr Lehrer Roshi Bernie Glassman

Mit den Dingen des Lebens

Dogen prägte den Satz: „Die ganze Welt ist nicht verborgen.“ Es ist wichtig zu verstehen, dass Zen voll und ganz mit den Dingen ist, wie sie sind, und sich von nichts abwendet. Dogen sagte auch: „Schützen Sie die Bestandteile des Lebens, als wären sie Ihre eigenen Augäpfel.“ Die Wahrheit, der Dharma ist genau hier: Die ganze Katastrophe, das ganze Erwachen ist in diesem Moment. Daher werden wir in unserer Praxis gebeten, jeder Situation mit Selbstdisziplin, Mut und Vertrauen durch das Medium des offenen, unvoreingenommenen, ungefilterten Bewusstseins zu begegnen.

Zen ist sein, was wir tun – präzise, einfach, in einer Bewusstheit, die alles umfasst, was sich von Moment zu Moment entfaltet, ganz gleich, wie viel es ist. Zen bedeutet, tief zu schauen, sein Geschmack ist echte Offenheit – daher ist „nichts verborgen“. Es gibt nichts abzulehnen, nichts, vor dem wir uns verstecken müssten; nicht ein einziges Atom stellt sich uns entgegen. Auf diese Weise können wir eine mitfühlende Zivilgesellschaft kultivieren und erblühen lassen. 

Der Beginn der Zivilisation 

Zum Abschluss möchte ich eine Geschichte von der 1978 verstorbenen Anthropologin Margaret Mead erzählen. Sie ist eine meiner Mentorinnen gewesen. Vor vielen Jahren wurde sie von einem Studenten gefragt, was sie als das historisch früheste Zeichen einer zivilisierten Kultur ansehe. Der Student erwartete, dass Mead über Angelhaken, Tontöpfe oder Schleifsteine ​​sprechen würde. Aber nein, sie sagte: Das früheste Zivilisationszeichen sei ein Oberschenkelknochen, der gebrochen und dann geheilt worden war. Tiere sterben, wenn sie sich ein Bein brechen. Sie können nicht vor Gefahr davonlaufen, nicht zum Fluss gehen, um etwas zu trinken, kein Essen jagen. Kein Tier überlebt ein gebrochenes Bein lange genug, um zu heilen. Ein gebrochener, aber dann geheilter Oberschenkelknochen ist ein Beweis dafür, dass jemand sich die Zeit genommen hat, bei dem verletzten Menschen zu bleiben, die Wunde zu verbinden, die verletzte Person in Sicherheit zu bringen und sie bis zur Genesung zu pflegen. „Wenn ein Mensch einem anderen in Schwierigkeiten hilft, dann beginnt die Zivilisation“, sagte Mead. 

Wir sind in Bestform, wenn wir anderen dienen – also seid zivilisiert. Zivilisation entfaltet sich in so vielen Bereichen, das sehe ich deutlich, und ebenso deutlich sehe ich, dass der Oberschenkelknochen schlimm gebrochen ist. 

Mögen wir mutig sein und uns weder von der Wahrheit des Leidens noch von der Befreiung vom Leiden abwenden. Mögen wir erkennen, dass soziales Engagement und das Engagement für ein Ende struktureller und direkter Gewalt der einzige Weg der Vernunft und der Liebe ist. Möge es uns gelingen zu sehen: Wenn wir unsere Augen und Herzen öffnen, ist nichts verborgen. 

Mit einem Zitat des großen indischen Yogi Shantideva möchte ich enden: 

Solange es Raum gibt
Und solange es Wesen gibt
Möge es auch mich geben
Um das Leiden in dieser Welt zu beenden.

Weitere Informationen

Upaya Zen Center: upaya.org

Englische Audiofassung des Vortrags, auf dem dieser Text beruht:
tinyurl.com/halifax-nothing-hidden-podcast

Joan Halifax

Joan Jiko Halifax ist eine US-amerikanische Zen- Buddhistin, Anthropologin, Ökologin, Bürgerrechtlerin, Hospizbetreuerin und Autorin mehrerer Bücher über Buddhismus und Spiritualität. Derzeit ist sie Äbtissin und leitende Dharmalehrerin des Upaya Zen Center in Santa Fe, New Mexico, einer Zen-Peacemaker- Gemeinschaft.

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