„Nicht immer kann Gewaltlosigkeit alle Konflikte lösen“

Ein Beitrag von Thomas Hamann veröffentlicht in der 2/2024 Krieg und Frieden unter der Rubrik Schwerpunkt Krieg und Frieden.

Wie könnte eine säkulare buddhistische Position zu der Frage aussehen, ob es gerechtfertigt sein kann, sich bei einem Angriff mit Gewalt zur Wehr zu setzen oder anderen bei ihrer Verteidigung zu helfen? Überlegungen von Thomas Hamann vom Zentrum Freier Buddhismus in Essen.

Folgt man den ethischen Regeln des Buddhismus, scheint die Antwort klar: Gewalt gegen Menschen und der Handel mit Waffen gelten als unheilsam und verstoßen gegen das Gebot, anderen Menschen nicht zu schaden. Aber ist das Ganze so einfach? 

Wenn Räuber in das Haus meines Nachbarn eindringen und ihn töten wollen, sollte ich ihm dann nicht helfen? Und wenn ich eine Waffe zur Verfügung hätte, sollte ich ihm diese nicht geben? Wäre es ethisch angemessen, ihn seinem Schicksal zu überlassen? 

Meinem ethischen Empfinden entspricht das nicht. Unterlassene Hilfeleistung ist in Deutschland aus gutem Grund ein Straftatbestand (Strafgesetzbuch § 323c). Hierzulande würden wir die Polizei rufen, wenn unser Nachbar überfallen wird – und sind so fein raus, weil wir die Gewaltanwendung zwar anbahnen, aber dann nicht persönlich ausführen müssen. International gibt es keine Polizei, die man rufen kann. Man kann nur helfen und damit eine Partei im Kampf werden – oder man überlässt den Nachbarn seinem Schicksal. 

Nur an das eigene Wohlergehen denken?

Für gläubige Buddhistinnen und Buddhisten gilt das Gesetz von Karma und Wiederwerden. Wenn ich unheilsame Taten begehe, hat das Auswirkungen auf zukünftige Leben. Trage ich durch die Lieferung von Waffen zum Töten von Menschen bei, dann lande ich vielleicht in einer buddhistischen Hölle. 

Aber wäre es nicht egoistisch, wenn ich nur an mein eigenes künftiges Wohlergehen denke? Was ist zum Beispiel mit den unschuldigen Menschen, die durch die russische Invasion sterben? Wie viele Morde und Vergewaltigungen werden passieren, sollte Russland die Ukraine zu großen Teilen besetzen? In der Zeit des deutschen Nationalsozialismus haben die ukrainischen Menschen bereits die Erfahrung gemacht, dass eine Besatzung mehr Leben fordern kann als ein Krieg. Sie wissen, dass es ein milderes Mittel sein kann, sich mit militärischen Mitteln zu wehren, als sich besetzen zu lassen. Und wenn die derzeitige russische Regierung die Erfahrung macht, dass sie durch Kriege andere Länder erobern kann – warum sollte sie diese Erfahrung nicht wiederholen wollen und demnächst zum Beispiel Georgien mit Krieg überziehen? Einen Aggressor zu stoppen kann, so meine ich, viel zukünftiges Elend verhindern. 

Oft höre ich, dass es doch möglich sei, gewaltfreien Widerstand zu leisten. Doch sind nicht gerade in der letzten Zeit Bewegungen des passiven Widerstandes – weltweit – so massiv unterdrückt worden, dass sie keine Chance hatten? In Syrien, in Myanmar, im Iran sind Menschen zu Tausenden im Gefängnis gelandet, auf offener Straße erschossen und zum Tode verteilt worden, und die Repression hört nicht auf. Ihre friedlichen Aufstände haben bislang nicht zu einer Verbesserung ihres Lebens geführt; das Gegenteil ist für sie eingetreten. 

Friedlicher Buddhismus?

Vor allem im Westen gilt der Buddhismus als friedlich, doch vor allem der Mahayana-Buddhismus pflegte ein sehr widersprüchliches Verhältnis zur Gewalt. Das beschreibt Michael Zimmermann, Professor für Buddhismuskunde am Asien-Afrika-Institut der Hamburger Universität, in seinem 2002 erschienenen Aufsatz „Buddhismus und Gewalt“. Während man im frühen Buddhismus nicht einmal zur Rettung seines eigenen Lebens oder zur Rettung eines Freundes einen Angreifer habe töten dürfen, so schreibt er, gelte im Mahayana tendenziell das Motto:

Friedfertigkeit ja, aber nicht auf Kosten anderer Lebewesen … Der Anhänger des Großen Fahrzeugs ist nun gehalten, aus Mitleid mit dem Angreifenden, der im Begriff ist, eine höchst unheilsame Tat zu vollziehen, ihn davor zu bewahren und, wenn keine andere Möglichkeit, ihn notfalls auch zu töten.

In diesem Sinne haben buddhistische Länder Armeen aufgebaut, um sich zu verteidigen. In Korea verehrt man den buddhistischen Mönch Sosan, weil er noch im Alter von 72 Jahren eine Milizeinheit aus buddhistischen Mönchen gebildet hat, um die ins Land eingefallenen Japaner zu bekämpfen. Bis heute sind buddhistische Mönche dort zum Militärdienst verpflichtet. Zur Geschichte des Buddhismus gehört auch, dass sich in Japan die Mehrheit der Buddhistinnen und Buddhisten vor dem Zweiten Weltkrieg und währenddessen auf die Seite der imperialistischen japanischen Regierung gestellt und junge Männer mit buddhistisch klingenden Parolen in den Krieg geschickt hat. Einzelne Lehrer haben sich später davon distanziert. Sehr aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang das 1999 auch auf Deutsch erschienene Buch „Zen Nationalismus und Krieg – Eine unheimliche Allianz“ von Brian Victoria.

Eine säkulare Position zur Gewaltanwendung

Für mich als Vertreter eines säkularen Buddhismus besteht das Anliegen einer ausgewogenen säkularen buddhistischen Position darin, so wenig Gewalt wie möglich aufzuwenden, und alles dafür zu tun, das Ausmaß der Gewalt zu begrenzen. 

Natürlich wäre es gut, wenn Kriege durch Verhandlungen beendet werden könnten. Doch wie wir in der Ukraine derzeit sehen, gibt es Zeiten, in denen das nicht gelingt. Dann kann eine Abwägung nötig sein: Welche Handlungen – gesellschaftlich, persönlich – können das Ausmaß von Gewalt minimieren? Könnten Waffenlieferungen unter dem Strich weniger Gewalt und Leid erzeugen als eine eher passive pazifistische Haltung?

Eine Haltung, die in jeder Situation von jedweder Gewalt Abstand nimmt, wird der Komplexität der Welt nicht gerecht. So erklärt sich, dass der Dalai Lama einmal betont hat, natürlich würde er sich bei einem persönlichen Angriff verteidigen, aber er würde versuchen, dem Angreifer so wenig Schaden wie möglich zuzufügen. Und der vietnamesische buddhistische Friedensaktivist Thich Nhat Hanh hat gesagt (tinyurl.com/thay-selbstverteidigung):

Es gibt viele Wege, sich zu schützen, und töten ist nur der letzte Ausweg. Du musst dich selber schützen. Du musst dein Land schützen. Aber es gibt viele, viele gewaltlose Methoden, die du nutzen musst, bevor du an das letzte Mittel denkst, die Gewalt. Wenn ein Land von weisen Menschen geleitet wird, hat es viele Möglichkeiten, Freundschaften zu schließen und Feinde zu neutralisieren. Dieses Land muss die Armee nicht oft einsetzen. … Die Antwort ist: „Ja, du kannst jemanden neutralisieren, der dich angreift.“ Aber denke nicht, dass die Armee, das Gewehr der einzige Weg sind, das zu tun.“

„So wenig Schaden wie möglich“, „das letzte Mittel“, „nicht oft einsetzen“, „nicht der einzige Weg“ – ich nehme das als differenzierte, die Gewaltfreiheit keineswegs verabsolutierende Positionen wahr. 

Sowohl der Dalai Lama wie auch Thich Nhat Hanh haben die grausame Erfahrung von Krieg und Gewalt machen müssen und sind mit all ihrer Kraft dafür eingetreten, Gewalt in jeder Form einzudämmen. Aber auch sie tragen der Realität Rechnung: Nicht immer kann Gewaltlosigkeit Konflikte lösen.

Thomas Hamann

Thomas Hamann ist Gründer und Vorstand des Vereins Freier Buddhismus e.“V., wo er unter anderem das Praxisnahe Grundstudium des Buddhismus ins Leben gerufen hat, das Interessierten einen Überblick über den gesamten Buddhismus vermittelt.

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