Mit dem Herzen atmen

Ein Beitrag von Yesche U. Regel veröffentlicht in der Ausgabe 2015/2 Meditation unter der Rubrik Meditation. (Leseprobe)

Die Tonglen-Praxis aus dem tibetischen Buddhismus als zeitgemäße „Atem-basierte“ Mitgefühlsmeditation

© Werner Steiner

Vor etwa 1 000 Jahren entwickelten indische und später auch tibetische Dharmalehrer Anleitungen für eine Meditationsmethode, die zuvor offenbar nicht bekannt gewesen war. In Tibet wurde sie Tonglen, „Geben und Nehmen“, genannt. Mithilfe dieser Methode sollte in Lebenssituationen, auch in äußerst schwierigen, der Geist des Mitgefühls erweckt bzw. wachgehalten und bodhichitta, das erwachende Herz, geschult werden. Überliefert wurde Tonglen im Mahayana-Geistestraining, bei dem Mitgefühl für andere und das Ideal eines unparteilichen Altruismus eine große Rolle spielen. Mitgefühl erweitert altruistische Liebe um die Wahrnehmung des Leidens, und so geht Tonglen über die Metta-Meditation, die Praxis der Herzensgüte, einen Schritt hinaus. In der Tonglen-Meditation betrachtet man einen leidvollen Zustand, indem man sich das Schwierige vergegenwärtigt. Das geschieht mit der Einatmung. Wichtig ist, dass die oder der Meditierende dabei mit den eigenen Ressourcen von Wohlwollen, Freundlichkeit und Mitgefühl gut verbunden ist.

Traditionell wird dafür eine Meditationsgottheit wie der Bodhisattva des Mitgefühls, eine Tara, der Medizinbuddha oder auch ein verehrter Lama visualisiert, wie sie oder er zunächst oberhalb des eigenen Scheitels sitzt und dann ins Herzzentrum herabsinkt. Nimmt der Meditierende nun das Leidvolle mit der Einatmung an, werden das Licht, die Wärme und die Strahlkraft der Liebe, die vom Herzen ausgeht, stärker, heller und bedeutungsvoller. Dies wird mit der Ausatmung dorthin gesendet, wo es benötigt wird. Die Einatmung kann mit der Vorstellung von dunkel und schwer assoziiert werden, die Ausatmung mit hell und leicht.

Als tibetische Lamas in den Westen kamen, hielten sie Tonglen für eine Meditationsform, die auch für alltagsgeplagte und vielen Emotionen, Stress und Krankheiten ausgesetzte moderne Menschen hilfreich sein könnte. Sie unterrichteten sie auf die gleiche Weise, wie sie es ihren tibetischen Schülern vermittelten, sehr direkt und schnörkellos und mit eher wenig psychologischem Feingefühl, sodass westliche Adepten die Praxis oft als beängstigend empfanden. In traditionellen Anleitungen wird zumeist nicht ausdrücklich betont, dass das Bodhichitta, die Kraft des erwachenden Herzens, stärker wird, wenn Übende das Leidvolle einatmen, da dies durch die Visualisierung einer Gottheit im Herzen geradezu selbstverständlich ist. Dadurch hat sich aber bei manchen westlichen Übenden der Eindruck entwickelt, ihr Inneres würde beim Einatmen verdunkelt und emotional noch mehr belastet. Das ist natürlich nicht sinnvoll.

ENDE DER LESEPROBE

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Yesche U. Regel

Yesche U. Regel leitet seit 1992 Kurse und Retreats zur Tonglen-Meditation im ganzen deutschen Sprachraum. Er war 16 Jahre buddhistischer Mönch der Karma-Kagyü- Tradition, ist Mitbegründer des Kamala shila Instituts in der Eifel und absolvierte eine Drei-Jahres-Klausur

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