Miksang

Ein Beitrag von Hiltrud Enders veröffentlicht in der Ausgabe 2023/3 Umgang mit Sexualität unter der Rubrik Kunst und Achtsamkeit.

Alltagspoesie

Das tibetische Wort Miksang heißt übersetzt „gereinigtes Auge“.
In der kontemplativen Fotografie geht es darum, den Blick von Konzepten zu befreien.
Hiltrud Enders, seit 2012 einzige Miksang-Trainerin in Deutschland, über die Poesie des Alltags.

Foto: Hiltrud Enders

Eine meiner ersten Erfahrungen nach den vielen Sehübungen meines ersten Miksang-Trainings war das intensive Erleben von far-bigem Licht auf der abendlichen, egennassen Fahrbahn. Ich saß im Auto und war fasziniert von dieser Welt der Farben. Ich hatte das bis dahin nicht so intensiv erlebt. Es war, „als wäre ein Schalter umgelegt worden.

Es ist eine Hinwendung zu Alltagspoesie, zum unvorbereiteten Nichtstun, zu Nebenschauplätzen und einer nicht enden wollenden Neugier auf die Welt der Phänomene. Die Bereitschaft, sich der Seite zu öffnen, die jenseits liegt von „fix durchdenken, effektiv einordnen, rasch bewältigen“.

Ich bin auf dem Weg zum samstäglichen Einkauf. Ich habe meine Straße bereits tausendfach gesehen und durchlaufen: schnell, langsam, eilig, schlendernd, gedankenverloren oder von Gedanken besessen. Es ist ein herbstlicher Oktobertag, Nieselregen. Vor dem Nachbarhaus sammelt sich das Wasser in einer großen tiefdunklen Pfütze, in der kleine, gelbe Blätter schwimmen. Eine Frau, die vor mir den Gehweg entlanggeht, wirft ihre Zigarettenkippe hinein. Knallrot vom Lippenstift leuchtete sie dort und ich zücke die Kamera. Klick!

Foto: Hiltrud Enders

Ich könnte mein Viertel auf diese Weise kartografieren. Momente, die sich einbrennen, immer gleiche Orte in besonderen, neuen Mischungen aus Licht, Farbe oder Geruch. Neugierig sein auf das gewohnte Umfeld. Ich pflücke die Blüten des roten Sonnenhuts auf dem Balkon nicht ab, sobald sie den Höhepunkt der Blüte erlebt haben, sondern schaue ihnen im Herbst beim Vergehen zu. Ich bleibe entdeckungsfreudig. Meine Neugier hat kein Ziel, sie rankt sich entlang an freudiger Entdeckung und ist frei von Ursache oder Zweck. Dinge schlendernd ergründen, den Deckel lüften, frische Luft reinlassen. Im eigenen Erleben stehenbleiben, einen Moment zu lang, ineffektiv, mehr kreisend als linear.

Neugierig sein bedeutet, mich über bekannte Bilder und vorgefasste Erwartungen hinauszubewegen. Ich entdecke, erkunde, sehe Phänomene wie die Spiegelungen von Licht oder Farbe, anstatt das wiederzuerkennen, was ich erwarte zu sehen. Oft spare ich mir meine Worte, die das Entdeckte gleich einordnen würden. Das lässt mich freier und spielerischer sein jenseits der so oft gefragten Ernsthaftigkeit. Neugier ist ein Türöffner für Kreativität. Hereinspaziert!

Mit Farben und Formen üben

Das häufigste Hindernis zur kontemplativen Fotografie ist, sich keine Zeit zu nehmen für das, was gerade geschieht. Meinen Alltag einzuteilen in Zeit für Pflicht und Zeit für Sehen ist der falsche Ansatz. Sehen kann immer geschehen, mittendrin. Und sei es die Sonne auf dem Küchenkrepp, während ich das Geschirr spüle.

Neugierde im Alltag kann positive Veränderungen bewirken. Vielleicht stellst du Freundinnen neue Fragen oder du betrachtest dir fremde Menschen. Oder du stellst Fremden Fragen und betrachtest deine Freunde. Wie genau sieht eigentlich die Zeichnung der Falten auf der Stirn meines Gegenübers aus? Begib dich auf eine Reise der Wissbegierde und des Staunens in deinem Alltag.

Ein Start kann sein, es dir bequem zu machen und etwas Blaues anzuschauen. Eine Tasse in deiner Küche, einen Stift auf dem Tisch oder deine Jacke. Achte nur auf die Farbe. Untersuche den ersten blauen Gegenstand, den du siehst, sehr genau und intensiv. Dann schau dich weiter um und betrachte andere blaue Dinge, die im Raum sind. Betrachte jedes einzelne Blau für eine ganze Weile. Wenn du dir sicher bist, dass dein Blick zu verweilen lernt im Blau, nimm die Kamera hinzu und mache Aufnahmen davon.

Foto: Hiltrud Enders

Wiederhole dies am nächsten Tag mit rot, dann mit orange, gelb, grün.

Dies verstehe bitte nicht als neue Bildgestaltung, sondern als ein Training, um mit deiner Aufmerksamkeit ganz beim Subjekt der Betrachtung zu bleiben, sie auszurichten, alle Teile des Subjekts zu ergründen, sehr intensiv zu betrachten. Das erzeugt eine große Intimität mit dem, was du siehst. Du kennst deinen eigenen Zugang und weißt, wie du die Situation gut gestaltest, um dich gut konzentrieren zu können. Manche üben lieber zu Hause, andere draußen.

Während dieser Betrachtungen beobachtest du ganz sicher, dass du deine Wahrnehmung kommentierst oder einordnest. Nicht schlimm, du nimmst das einfach nicht wichtig und kehrst zurück zu BLAU.

Foto: Hiltrud Enders

Du kannst diese gleiche Übung ausweiten auf einzelne Formen: an einem Tag alle runden Dinge betrachten, am nächsten alle eckigen. Indem du die Subjekte deiner Betrachtung auf Farben oder Formen reduzierst und damit ihrer Bedeutung entledigst, kannst du einfacher lernen, deine Konzentration für das Bedeutungslose zu trainieren, Sehen jenseits von Denken zu üben. Auf ähnliche Weise kennst du es vielleicht aus der Musik, wenn du dich auf das Hören eines einzelnen Instruments konzentrierst. Das bedeutet nicht das Zusammenspiel aller Instrumente außer Acht zu lassen, sondern es schult deinen Hörsinn.

Präsent sein mit Körper, Seele und Geist

Nicht nur die reine Meditation ist eine Möglichkeit, die eigenen Denkmuster kennenzulernen, zu beruhigen oder zu lenken. Auch kreative Werkzeuge und handwerkliche Techniken sind ein Weg zu feiner Aufmerksamkeit. Sich versenken, sich hineinbegeben in das, was man gerade tut. Präsent sein mit Körper, Seele und Geist. Wir kennen und erleben diesen Zustand, ohne ihm den Titel Meditation oder Kontemplation zu geben. Intensität, Selbstvergessenheit, Flow. 

Du vergisst Zeit und Raum beim Malen, Singen oder wenn du mit deiner Band Musik machst. Bei körperlicher Bewegung bist du völlig mit dir und der Natur verbunden. Das kennen Kinder, die spielen, und Erwachsene, die ein Gedicht schreiben oder in täglicher Routine ihren Garten pflegen. Ich bemerke im Garten jedoch auch, wie die Stimmung, die Sorgen, die Anspannung des Alltags meine Art zu arbeiten färbt und diese ganz und gar nicht kontemplativ oder versunken ist. 

Foto: Hiltrud Enders

Die Versenkung in meine Tätigkeit ist ein individuelles Lernfeld. Ich begegne meinen Hindernissen, lerne, sie nicht zu fokussieren, und eröffne mir damit einen Zugang zu Präsenz. Ganz bei dem sein, was ich gerade tue: manchmal entspannt, öfters unruhig, widerständig, flackernd oder müde. Alle Färbungen sind möglich.

Traditionell haben die verschiedenen Schulen Kontemplation in ganz unterschiedlichen Disziplinen gelehrt: Bogenschießen, Kalligrafie, Ikebana oder die aufmerksame zeremonielle Bewirtung eines Gastes in der Teezeremonie. Allen gemeinsam, so kann man sagen, ist zu Beginn die Wiederholung einfacher Übungssequenzen und der stillen Selbstbeobachtung darin. Gelingt mir die Verbindung zum gegenwärtigen Moment? Schweife ich ab? Die eigentliche Übung ist, immer wieder zurückzukehren zur Tätigkeit, zu dem Empfinden, zur Sinneserfahrung. Wir üben, unsere Aufmerksamkeit gerichtet zu halten und uns dabei nicht anzustrengen. So fliegt der Pfeil in voller Ausrichtung, die Kalligrafie gelingt in schönem Schwung, das Blumengesteck bringt harmonisch den Charakter der Pflanzen zur Geltung und in der Fotografie ist die Direktheit der Wahrnehmung kraftvoll und elegant abgebildet. Das Üben wird belohnt mit gutem Gelingen, die Dinge fallen, wie sie sollen.

Stille üben

Unmittelbares Sehen empfindest du als etwas Besonderes, wofür du dir in deinem Alltag Zeit einräumen musst, indem du zum Beispiel einen Spaziergang mit deiner Kamera machst? Wir sehen jedoch ständig. Es bedarf keiner extra Zeit und keines Spaziergangs.

Hilfreich ist die Bereitschaft, für kleine Momente dem Sehen Vorrang zu geben, in die Entdeckungsfreude einzutauchen. Die Haare der Person vor uns an der Supermarktkasse zu betrachten, das Licht an Gleis 9 Köln Messe/Deutz, den Regen auf der Windschutzscheibe gefärbt von den Rücklichtern im Stau, die Reflektion auf einer Fassade, bevor ich das Gebäude betrete.

Foto: Hiltrud Enders

Das Übungsfeld unserer Tage ist, Stille zu empfinden, zu schöpfen. Diese Stille ist übrigens immer relativ. Sie hat nichts mit einem grundsätzlich entschleunigten, entrückten, verlangsamten Lebensstil zu tun. Ich kann auch aus einem hohen Tempo heraus plötzlich anhalten und völlig präsent sein. Das ist eine Frage der Erfahrung. Für die meisten bedeutet dieser Stopp im Tempo jedoch eine Art inneren Nachlaufens. Sie fliegen nur über das, was sie sehen, als würden sie ein Buch durchblättern und nicht wirklich aufschlagen und lesen. Als würde die Köstlichkeit der Sprache sie gar nicht erreichen können. Du kannst Stille üben, wie ein Kind Dinge übt. Ein bisschen sture Wiederholung ist hilfreich.

Fotografiere aus der Stille heraus!


Der Text ist ein Auszug aus Hiltrud Enders’ reich bebildertem Buch „Freude am Sehen“, das 2019 im dpunkt.verlag erschienen ist. Für diesen Artikel hat die Autorin aus ihrem Archiv neue Fotografien ausgewählt.

 

Weitere Informationen

Mehr über Miksang sowie Workshops und Praxistage von Hiltrud Enders zur achtsamen Fotografie:
miksang-fotografie.de

Hiltrud Enders

ist Architektin und entdeckte 2006 durch den kanadischen Lehrer Michael Wood die Miksang-Fotografie. Sie besuchte Workshops in den Niederlanden und den USA, übersetzte Texte und Workshops zum Thema ins Deutsche und ist seit 2012 die einzige Miksang-Trainerin in Deutschland.

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