„Man muss nicht allein durch schwierige Prozesse gehen“
Buddhistische Zentren und Gemeinschaften haben die Verantwortung, sich in bestimmten Situationen professionelle Unterstützung zu holen. Das betont die Supervisorin Lisa Aigner im Interview.
Susanne Billig: Können Sie uns anfangs ein bisschen über sich persönlich erzählen?
Lisa Aigner: Gerne. Ich bin Münchnerin, von meiner Ausbildung her Sozialpädagogin, Sozialmanagerin und Supervisorin, arbeite Teilzeit in einem Jugendwohnheim und engagiere mich ehrenamtlich für die Gemeinwohl-Ökonomie. Den Buddhismus habe ich schon als Teenager kennengelernt und habe 2011 im Theravada begonnen, bin aber bald zum tibetischen Buddhismus übergegangen, wo ich inzwischen einige Jahre Retreats, unter anderem in Praxiszentren, gemacht habe. Heute praktiziere ich in der Nyingma-Tradition.
Warum kann es es für buddhistische Zentren ratsam sein, Supervisionen oder Beratungen in Anspruch zu nehmen?
In spirituellen Gemeinschaften geht es in erster Linie darum, spirituelles Wachstum zu ermöglichen. Dennoch unterliegen auch sie den üblichen weltlichen Herausforderungen aller Organisationen: Energieverlust durch emotionale Spannungen und Kommunikationsschwierigkeiten, Zeitknappheit, Personalmangel, unpassende Strukturen. Wenn eine Gruppe oder ein Zentrum wächst, wächst auf vielen Ebenen auch die Komplexität, was neue Belastungen mit sich bringt. Leider fehlt es oft an einem strukturierten Rahmen, solche Schwierigkeiten zu reflektieren und damit umzugehen – und das, worum es eigentlich mal gegangen ist, fällt dann oft hinten runter.
Treten in spirituellen Zentren auch Themen auf, die es anderswo weniger gibt?
In buddhistischen Gemeinschaften entsteht Engagement oft aus einer hohen persönlichen Motivation, dazu kommt die gemeinsame Praxis. Beides kann aber bei den Einzelnen einen sehr unterschiedlichen Hintergrund haben. Oft geht man vorschnell davon aus: „Wir möchten hier alle dasselbe.“ Das ist aber nicht unbedingt der Fall. Neben kulturellen Unterschieden kann auch spirituelle Ambition eine wichtige Rolle spielen.
Ein anderes Thema: Viele arbeiten ehrenamtlich und verfügen möglicherweise nicht über eine formale Fachausbildung; unterschiedliche Grade an Fachkenntnissen treffen aufeinander.
Ähnliches gilt für die persönliche und spirituelle Reife. Nur weil jemand spirituell fortgeschritten ist, besitzt diese Person nicht zwangsläufig auch menschliche Reife, also soziale Kompetenz, Konfliktfähigkeit und Führungsqualitäten. Unterschätzt werden auch die Auswirkungen bestimmter buddhistischer Ideale. Falsch verstandenes Mitgefühl kann auch in ein Helfersyndrom führen.
Welche Gefahren sind damit verbunden, wenn Zentren und Gruppen sich, salopp gesagt, einfach „durchwurschteln“?
Wenn Menschen aufgrund von strukturellen oder Alltagsproblemen, ethischen Grenzerfahrungen oder zwischenmenschlichen Konflikten in der Gemeinschaft das Vertrauen in den Dharma verlieren, wäre das katastrophal.
Wichtig ist immer eine klare Aufgaben- und Rollenverteilung. Dazu muss man zwei Ebenen deutlich unterscheiden: die weltliche Organisationsstruktur und das spirituelle Anliegen. Wenn man das vermischt, kann es zum Beispiel passieren, dass jemand mit viel Meditationserfahrung und Dharmawissen über Angelegenheiten entscheiden soll oder möchte, die auf einer ganz anderen Ebene angesiedelt sind – etwa der praktischen Frage, wie man den Shop des Zentrums oder das Büro am besten organisiert.
Von einem Klavierlehrer erwarten wir auch nicht, dass er wissen muss, wie man die Buchhaltung am sinnvollsten organisiert. Das wäre ihm gegenüber sogar unfair. Doch mit Verantwortlichen im Zentrum oder Dharmalehrerinnen und -lehrern gehen wir oft so um und erwarten alles von ihnen. Es ist wichtig, dass wir unsere eigene und die Rolle unseres Gegenübers ganz klar erkennen, respektieren und entsprechend unserer jeweiligen Rolle und Funktion miteinander umgehen. Probleme entstehen, wenn Menschen in Bereichen, für die sie nicht kompetent sind, Entscheidungen treffen.
Auf einer tieferen Ebene muss man sich auch darüber im Klaren sein, dass es unangenehm, unbequem und langwierig ist, in unser Inneres zu schauen und damit zu beginnen, unsere Muster loszulassen, katalysiert durch das Zusammensein in der Gemeinschaft, die buddhistische Praxis und weltliche Herausforderungen. Diesem Prozess stellen wir uns nur, wenn wir uns die Zeit nehmen, auftauchende Schwierigkeiten und Konflikte zu ergründen und auf allen wichtigen Ebenen zu lösen – und zwar jeweils dort, wo sie entstanden sind.
Oft weichen wir aus.
In der Tat, und das geschieht, wenn Regeln sich etabliert haben, eine Gruppe ein gewisses Wachstum erlebt hat oder sich stark durch äußerliche Statussymbole definiert – wichtige Lehrerinnen und Lehrer, eine hohe Mitgliederzahl oder solche, die sich in besonderer Weise widmen. Dann können äußere Veränderungen schwieriger werden. Auch spiritueller Stolz und spirituelle Ambition tragen zum Ausweichen bei, ebenso Tabus, zum Beispiel wenn man über Macht und Machtmissbrauch oder auch Eigenverantwortung nicht sprechen darf. Und dann erzeugen Veränderungen oft Widerstand in Menschen. Psychologisch neigen wir dazu, am Altbekannten festzuhalten, selbst wenn es uns schadet, anstatt etwas Neues zu versuchen. Deshalb brauchen wir einen sicheren Lernraum, um weiter wachsen zu können.
Zentren und Gemeinschaften leisten oft sehr viel: Sie renovieren ihre Gebäude, schaffen Jobs, stellen ein Kursprogramm auf die Beine, ihr Gästehaus kann Dutzende von Personen beherbergen, die große Küche muss funktionieren. Freiwillige arbeiten unermüdlich und manchmal bis zum Burn-out.
Das ist richtig! Es wird sehr viel geleistet an diesen Orten, und das braucht Anerkennung und Wertschätzung. Auch daran fehlt es manchmal. Aber man sollte unbedingt hellhörig werden, wenn Einzelne oder auch Gruppen anfangen, ihre ursprünglichen Werte, zum Beispiel Zeit für gemeinsame Praxis oder die Familie und Bedürfnisse nach angemessenen Pausen zu verleugnen, weil die Arbeit im Zentrum so vereinnahmend ist. Wenn ich den Zwang entwickle, mich dort zu beweisen, meine Grenzen nicht berücksichtige oder innere Leere entwickle, vor allem aber, wenn dadurch meine Praxis oder das Vertrauen in den Dharma ins Wanken gerät, sind das Alarmzeichen. Eigentlich bin ich hergekommen, um mich weiterzuentwickeln, nun gebe ich dem ständigen Druck nach. Möglicherweise bietet mir die Gemeinschaft keine angstfreie Lernumgebung.
Manche Gemeinschaften und Zentren haben aber auch einfach eine gute Konfliktkultur oder blicken auf das erfolgreiche Überwinden von Schwierigkeiten zurück und können gut zusammenarbeiten. Das ist wunderbar!
Und wenn es untendrunter doch rumort? Kann eine Supervision hilfreich sein, auch wenn noch keine wahrnehmbaren Konflikte bestehen?
Nun, man muss nicht zwanghaft nach Problemen suchen. Manchmal sagt allerdings das Bauchgefühl: Hier stimmt etwas nicht. Vielleicht kann nicht mehr offen miteinander gesprochen werden oder eine übermäßige Harmonie verhindert ehrliches Feedback. Oder es wird versucht, praktische Dinge mit spirituellen Phrasen zu lösen. In solchen Fällen können präventive Maßnahmen helfen, zum Beispiel Rollen und gemeinsame Vorstellungen zu klären oder team- und gruppendynamische Aspekte zu betrachten. Natürlich kann eine Gruppe auch in Eigenregie beispielsweise Leitbilder erstellen oder über Konflikte sprechen. Aber wenn eine Diskussion von einer neutralen Person angeleitet wird, die sich mit den Dynamiken von Gruppen und Konflikten auskennt, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass dieser Prozess erfolgreicher und zufriedenstellender verläuft.
Nehmen wir an, eine Gemeinschaft befindet sich in akuten Auseinandersetzungen. Finanzielle Probleme häufen sich, die Stimmung sinkt, weniger Menschen nehmen an Kursen teil. Vielleicht gibt es sogar Fälle des Missbrauchs von Macht und Sex. Wo fängt eine Supervisorin angesichts solch einer Fülle von Problemen an?
Wenn eine Gruppe oder Person eine Supervisorin oder einen Supervisor kontaktiert, zeigt dies zunächst ein erfreuliches Problembewusstsein und die Bereitschaft, Hilfe zu suchen. Dann muss man gemeinsam herausfinden, worin das eigentliche Thema besteht. Anschließend ist es meine Aufgabe als Supervisorin, zu prüfen, ob ich die Themen von meinen Kompetenzen her abdecken kann.
Eines der Hauptmerkmale guter Supervision ist die Entwicklung eines klaren Arbeitsauftrags. Gemeinsam priorisiert man die Themen und entscheidet, woran man zuerst arbeiten möchte. Dabei wird man recht schnell feststellen, ob der Einzelne oder die Gruppe dazu in der Lage ist. Allein weil der Auftrag lautet „Wir wollen hier wieder gut zusammenarbeiten“, heißt das nicht automatisch, dass alle jetzt auch schon bereit und in der Lage sind, das umzusetzen. Dann geht man eben zu Beginn kleinere Schritte.
Meine Aufgabe als Supervisorin besteht nicht darin, anderen zu sagen, an welchen Themen sie arbeiten sollten. Das Ansprechen bewusstseinsnaher Inhalte kann sehr erhellend und nützlich sein. Das ist individuell verschieden. Trotzdem gibt es Dinge, die ich vermute, aber nicht anspreche. Aus der Therapie kennen wir die „Psychologie des guten Grundes“. Wenn eine Person oder ein System bestimmte Themen aus gutem Grund nicht anschauen will, sollte das respektiert werden – aber nur so lange, wie deshalb keiner zu Schaden kommt! Denn der Schutz der oder des Einzelnen geht immer vor. Dazu kann es nötig sein, Tabus aufzulösen, sodass über das dahinterstehende Thema gesprochen werden kann. Die Supervision bietet dafür den sicheren Rahmen.
Und wenn es in einer Gruppe Vorstellungen gibt, die einfach nicht zusammenpassen? Die einen wünschen sich vielleicht basisdemokratische Entscheidungsfindungen, die anderen möchten, dass die spirituelle Leitungsebene alles bestimmt. Wie bringt man so etwas unter einen Hut?
Alles unter einen Hut zu bringen, ist nicht der Auftrag der Supervision. Darum ist es kein realistisches Ergebnis, dass in diesem Prozess alle Probleme gelöst werden. Der Supervisor, die Supervisorin ist nicht für das Ergebnis verantwortlich, sondern für den Prozess. Supervision ist von ihrem Hintergrund her darauf ausgerichtet, berufliches Handeln zu reflektieren und neue Handlungsperspektiven zu eröffnen. In diesem Prozess können auch zuvor unerwartete Themen auftauchen. Und es kann eben auch klar werden, dass man sich nicht einig wird. Dann geht es vielleicht eher darum, einen guten Abschluss zu finden oder Ideen zu entwickeln, wie es anders weitergehen kann. Manchmal kann man auch nicht im Guten auseinandergehen. Scheitern gehört dazu.
Ist es für buddhistische Zentren und Gruppen wichtig, dass der Supervisor Ahnung von Buddhismus hat oder sich selbst auch als buddhistisch versteht?
Ein gewisses Maß an Information ist wahrscheinlich sinnvoll, aber es ist nicht zwingend notwendig. Eine gewisse Fremdheit, die sogenannte „Kompetenz des Nichtwissens“, kann hilfreich sein, weil sie einen frischen Blick auf die Dinge ermöglicht.
Wenn aber ein Supervisor immer nur in der Wirtschaft tätig war und wenig Verständnis dafür hat, wie moralische Werte und spirituelle Aspekte auf Prozesse in Gruppen wirken, wird er wahrscheinlich auch nicht besonders hilfreich sein können. Deshalb ist es ratsam, sich mehrere Supervisoren anzuschauen und ein Vorgespräch zu führen.
Grundsätzlich halte ich es für wichtig, dass der Supervisor zertifiziert ist; das stellt ein Qualitätsniveau sicher. Es gibt einen deutschen Dachverband für Supervision, den DGSv, der sehr hohe Qualitäts- und Ausbildungsanforderungen für die Reflexion beruflicher Tätigkeit stellt. Ein digitaler Beraterscout im Internet hilft, herauszufinden, wer in der eigenen Region zertifiziert in welcher Weise spezialisiert ist.
Wie lange dauern dann solche Beratungen? Und wie teuer sind sie?
Wenn mich Einzelne oder eine Gruppe anfragen, treffen wir uns zu einem Kennenlernen, um ein bisschen zu sondieren. Diese erste Sitzung hat noch keine vertragliche Verbindlichkeit, kann aber je nach Umfang honoriert sein. Das Ziel dieses Kennenlernens ist es, die Themen herauszufinden und zu entscheiden, ob man sich eine Zusammenarbeit vorstellen kann.
Je nach Thema sollte man die Bereitschaft mitbringen, zwischen vier und zehn Sitzungen pro Jahr für bis zu 15 Teilnehmende abzuhalten. Auch Einzelne, vor allem Führungskräfte, nehmen Supervision häufig in Anspruch. Die Kosten dieser Sitzungen sind mit denen von qualifizierten Therapiestunden vergleichbar. Ratsam ist, nach einer Weile zu überprüfen, in welche Richtung man sich seit Beginn entwickelt hat und wie man weitergehen möchte. Man setzt den Prozess so lange fort, bis entweder die Supervisorin sagt: „Jetzt werde ich systemblind“, oder das Team sagt: „Jetzt sind wir auf einem guten Stand und können alleine weitermachen.“ Einrichtungen etwa in der Sozialarbeit nehmen allerdings oft auch dauerhaft eine Supervision in Anspruch – es variiert also.
Fassen wir noch einmal zusammen: Warum ist es wichtig, dass spirituelle und eben auch buddhistische Gruppen und Zentren die Möglichkeit in Betracht ziehen, sich Unterstützung in Form von Supervision zu holen? Warum ist es vielleicht sogar ihre Verantwortung?
Menschen, die den Weg zum Dharma gefunden haben, besitzen eine kostbare Geburt. Das zu nähren und zu schützen ist die wichtigste Aufgabe einer spirituellen Gemeinschaft. Wenn sie sich dann auch noch in Zentren engagieren, ist das wirklich wunderbar. Aber in erster Linie dienen diese Orte ja der spirituellen Entwicklung und erfüllen keinen Selbstzweck. Also dürfen meines Erachtens die ganz normalen weltlichen und zwischenmenschlichen Probleme oder auch schwerwiegendere Grenzthemen, die an diesen Begegnungsstätten auftauchen können, auf keinen Fall das Vertrauen in den Dharma gefährden. Weltliche Probleme lassen sich auf unserem Praxisniveau in der Regel nicht mit spirituellen Antworten lösen. Da müssen wir, denke ich, ehrlich zu uns selbst sein.
Die spirituellen Fragen sind, das möchte ich betonen, Aufgabe der spirituellen Meisterinnen und Meister. Supervision kann dazu beitragen, weltliche und strukturelle Probleme mit weltlichen Lösungen zu adressieren, Tabus zu lockern und Konflikte zu verstehen, bevor sie eskalieren. Denn wenn alltägliche Probleme auch auf der entsprechenden Ebene gelöst werden, bleibt der Raum für eine spirituell angstfreie Entwicklung offen. Damit machen sich alle Beteiligten das Leben sehr viel leichter. Man muss nicht allein durch schwierige Prozesse gehen. Darum geht es mir. Mögen die Früchte unseres Gespräches dort aufgehen, wo sie nützlich sind.
Weitere Informationen:
dgsv.de; supervision-aigner.de
Lisa Aigner
Lisa Aigner ist Sozialpädagogin, Sozialmanagerin und Supervisorin. Sie arbeitet Teilzeit in einem Jugendwohnheim und engagiert sich ehrenamtlich für die Gemeinwohl-Ökonomie. Den Buddhismus hat sie schon als Teenager kennengelernt. Sie hat 2011 im Theravada begonnen, ist aber bald zum tibetischen Buddhismus übergegangen, wo sie inzwischen einige Jahre Retreats, unter anderem in Praxiszentren, gemacht hat. Heute praktiziert sie in der Nyingma-Tradition. Lisa Aigner lebt in München. Weitere Informationen: dgsv.de; supervision-aigner.de