Licht in Zeiten der Dunkelheit

Ein Beitrag von Dzogchen Ponlop Rinpoche übersetzt von Monika Sandmeier veröffentlicht in der Ausgabe 2021/2 Freude unter der Rubrik Aktuell. (Leseprobe)

Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie zwingen Menschen weltweit in eine ungewohnte körperliche Distanzierung zueinander. Die vielen Stunden am Tag ohne die gewohnten sozialen Kontakte stellen eine große Herausforderung dar. Doch wie wäre es, wenn wir uns darauf ausrichten könnten, einen positiven Nutzen aus dieser Zeit des Rückzugs zu ziehen? Reflexionen und Ratschläge von dem tibetisch-buddhistischen Gelehrten Dzogchen Ponlop Rinpoche.

Normalerweise nehmen wir unser Leben als selbstverständlich hin. Wir wachen mit dem Klingeln unseres Weckers auf, putzen uns die Zähne und ziehen uns an, machen uns auf den Weg zur Arbeit und bald ist es dann auch schon Zeit, unsere Kinder von der Schule abzuholen. Wir gehen zum Abendessen nach Hause oder mit Freundinnen und Freunden aus, dann sind wir müde und legen uns zu Bett. Das Wochenende kommt und wir gehen in den Park oder an den Strand, um Spaß zu haben. Dann kommt der Montag und wieder erwachen wir beim Klingeln unseres Weckers. 

Die globale Pandemie hat unsere Routine abrupt unterbrochen. Fast jede Gemeinschaft in unserer Welt ist derzeit auf irgendeine Weise davon betroffen. Die Pandemie ist eine Art neuer Wecker: Wir können nun einen neuen Tag beginnen und eine neue Routine in einem neuen Raum erschaffen. 

In diesem neuen Raum zu sein ist ein bisschen so, als würden wir ganz zum Anfang zurückkehren, zum Ausgangspunkt, einem wirklichen Neuanfang – mit einem weiten Gefühl von Offenheit und Rohzustand. So viel Raum zu haben ist vielleicht auch ein bisschen beängstigend. Wir fühlen eine Art Bodenlosigkeit und auch Furcht, weil uns die übliche Routine entzogen wurde. Es ist, als würden in einem wichtigen Vorstellungsgespräch plötzlich alle Kleider von uns abfallen: Krawatte, Jacke, Hose – einfach weg! In seinem solchen Moment fühlen wir uns nackt und wissen nicht, was wir tun sollen. Wir stehen vor der unerwarteten Realität, mit einem leichten Gefühl von Bodenlosigkeit, Nichtwissen und Angst. Und das ist in Ordnung so.

Ist die Zukunft ungewiss?

Dieser Raum, diese Offenheit, so unverstellt und blank, ist eine großartige Gelegenheit für einen Neuanfang. Unseren gewohnten Lebensstil können wir nicht fortsetzen; die Zukunft ist ungewiss. Aber wenn wir ein wenig nachdenken, stellen wir fest, dass die Zukunft schon immer ungewiss war. 

Allerdings muss die Zukunft nicht völlig ungewiss sein, denn wenn wir heute klug und freundlich handeln, können wir tatsächlich eine bessere Zukunft schaffen. Wir können die Zukunft in dem sehen, was wir heute entscheiden und tun. Macht euch also keine Sorgen!

Möglicherweise fühlen wir uns wegen der Zwei-Meter-Abstandsregel niedergeschlagen und isoliert. Wenn wir diese Gelegenheit jedoch dazu nutzen, nachzudenken und Klugheit und Freundlichkeit zu entwickeln, dann kann es uns gelingen, einander mit unseren Herzen näherzukommen. Dies ist keine Aufforderung, die körperliche Abstandsregel zu missachten. Doch in unserem Herzen und in unserem Bewusstsein können wir uns einander näher fühlen als zuvor.

Die Zwei-Meter-Abstandsregel gibt uns die großartige Gelegenheit, die Gewohnheiten, Tendenzen und Impulse unseres Geistes anzuschauen. Wir sind nun gezwungen, besonders ernsthaft über unsere Beziehungen nachzudenken. Was meinen wir denn damit, wenn wir sagen, wir seien einem anderen Menschen „nahe“? Menschliche Nähe, so verstehen wir, bemisst sich nicht in Metern oder körperlicher Distanz. Wir können die Kostbarkeit eines anderen Menschen spüren, der „da draußen“ ist. Wir können verstehen, dass wir die Nähe zu anderen mit unserem Herzen vermessen. Es geht dabei um die echte Liebe und Zuneigung, die wir für jemanden empfinden. Aus dieser Perspektive sind wir den Menschen, denen wir nah sein möchten, immer nah.

Frau mit Masken

Alleinsein – den Geist regenerieren

Aus buddhistischer Sicht sind Quarantäne und Isolation eine Meditations- oder Klausurzeit. Das sagen die Dharmabelehrungen: Alleinsein ist für uns positiv, denn in dieser Zeit können wir uns tiefer mit uns selbst verbinden. Sicherlich kann das Alleinsein uns herausfordern. Doch es ist auch eine Gelegenheit für Meditation, Yoga oder Tai-Chi. Alleinsein kann euren Geist regenerieren und ihn wieder aufladen. Muss nicht sogar euer Telefon ein bisschen allein sein, damit es weiterhin gut funktioniert? Ihr verbindet euer Telefon per Kabel mit einer Stromquelle und überlasst es eine Weile sich selbst. Auch unser menschlicher Geist braucht Zeit für sich allein, um sich aufzuladen und zu regenerieren. Darum ist unsere gegenwärtige Situation eine kraftvolle Möglichkeit, dies zu erfahren. Neulich las ich eine Studie über die Wirkungen des Alleinseins: Heranwachsende, die während des Tages eine gewisse Zeit mit sich allein verbringen, fühlen sich weniger gehemmt, können sich besser konzentrieren und leiden weniger an Depressionen und Entfremdung. Außerdem lernen sie, mit sich allein zu sein. 

Wenn wir beginnen, das Alleinsein zu genießen, können wir die Einsamkeit verabschieden.

Gelegenheit als Geschenk

Wir möchten nicht gern zu etwas gezwungen werden. Wir wünschen uns Freiheit und möchten spüren, dass alles von uns selbst kommt. Aber letztendlich läuft es auf das Gleiche hinaus: Es scheint zwar, als würden wir zu etwas gezwungen werden, aber ob wir die Situation nutzen oder nicht, liegt ganz bei uns. Niemand kann uns zu etwas zwingen und sollte das auch nicht. Wir entscheiden. 

Unsere ganze Erfahrung hängt von unserem Geist ab, unserer mentalen Stärke. Öffnen wir also unsere Arme und heißen die Veränderung willkommen! Die Quarantäne ist wie ein großes Büfett der Möglichkeiten vor uns ausgebreitet und wir können entscheiden, was wir essen wollen. Unser gesamtes Erleben hängt von der Einstellung und Haltung unseres Geistes der Situation gegenüber ab. Solange wir nicht mit unserem Geist arbeiten, werden wir Schmerz erfahren, ob wir uns nun mitten in einer globalen Pandemie befinden oder nicht.

Wenn wir diese Zeit nur als erzwungenen Rückzug betrachten, ziehen wir keinen Nutzen daraus. Hier klopft die Chance an unsere Tür. Die Gelegenheit wartet auf uns. Normalerweise müssen wir ja intensiv nach Chancen suchen! Genau jetzt, in diesem Moment, zwingt uns die globale Pandemie, mit unseren Routinen und Gewohnheiten zu brechen. Sie hilft uns, fast ohne dass wir das beabsichtigt hätten, ein gütiger Mensch zu sein. Auf einmal tragen wir eine Maske, um andere nicht mit einer Krankheit anzustecken. Auf einmal waschen wir uns viele Male am Tag die Hände. Im Folgenden teile ich drei Punkte für die persönliche Reflexion.

Akzeptiere die Angst. Statt vor der Angst davonzulaufen, ist es wichtig, direkt mit ihr zu arbeiten. Dazu müssen wir zuerst die Erfahrung anerkennen und akzeptieren. Dabei ist es wichtig, die Angst zu betrachten, ohne das Etikett „Angst“ hinzuzufügen. Wir bleiben einfach bei der Empfindung selbst.

Wenn wir dem Rand einer Klippe zu nahe kommen, reagiert unser Körper mit Angst und wir treten automatisch zurück. Wir benennen das nicht. Wir fühlen es einfach und treten sofort zurück. Das ist gut! Wir sollten diese Art von Angst nicht loswerden. Problematisch ist nur die Angst vor der Angst. Es ist also unser Konzept der Angst, das wir verändern müssen. 

Um das tun zu können, ist es wichtig, über die Realität – die Vergänglichkeit unserer äußeren und inneren Welt – nachzudenken. Wir können dann verstehen: Veränderung ist nicht freiwillig. Es gibt kein Formular, auf dem steht: „Wenn Sie Veränderung wollen, kreuzen Sie hier an, und wenn Sie keine Veränderung wollen, kreuzen Sie hier an.“ Veränderungen finden ständig, in jedem Augenblick, statt. Sie sind unvermeidlich und wir können das nicht kontrollieren. Aufgrund der Natur der Vergänglichkeit lässt sich nichts hundertprozentig genau vorhersagen. Tatsächlich ähneln die Verhältnisse eher dem, was die Chaostheorie beschreibt, und sogar eine winzige Änderung kann große Auswirkungen haben.

Begreife die gegenseitige Abhängigkeit. Die Pandemie hat deutlich gemacht, wie sehr wir miteinander verbunden und voneinander abhängig sind. Das war schon immer so: Gegenseitige Abhängigkeit ist die Realität; das lehrte der Buddha. Es ist uns oft schwer gefallen, diese Zusammenhänge zu sehen, aber jetzt können wir die Verbindung zwischen uns und anderen leicht erkennen. Wir sind uns unserer Nahrungsquellen, der Lebensmittelgeschäfte, der Arbeiterinnen und Arbeiter sehr viel bewusster. Der Hersteller von Toilettenpapier! Sie alle sind ungemein wichtig für uns. Jetzt schätzen wir die Auslieferer von Amazon, die Ärztinnen und Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern. Wir sehen, wie wichtig sie alle für uns sind, und erkennen: Unser Überleben hängt voneinander ab und wir tragen füreinander Verantwortung.

Übersetzung aus dem Englischen von Monika Sandmeier, Bearbeitung von Susanne Billig

ENDE DER LESEPROBE

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Dzogchen Ponlop Rinpoche

Dzogchen Pönlop Rinpoche ist einer der führenden Gelehrten und Meditationsmeister seiner Generation (geb. 1965) in den Nyingma- und Kagyü-Schulen des tibetischen Buddhismus. Weltweit lehrend, arbeitet er aktiv daran, traditionelle tibetisch-buddhistische Ausbildungslehrpläne für ein westliches Publikum zu adaptieren und neue zu entwickeln. Er ist spiritueller Direktor des Kamalashila Instituts® und Buchautor.

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