Lama Anagarika Govinda: Westlicher Wanderer und Visionär

Ein Beitrag von Vajramala veröffentlicht in der Ausgabe 2023/2 Buddhismus im Westen unter der Rubrik Schwerpunkt Buddhismus im Westen.

Als „hausloser Wanderer“ kam er in der Welt weit herum: Lama Anagarika Govinda, geboren 1898. Aus der sächsischen Provinz zog es ihn erst nach Italien, dann nach Sri Lanka, Indien und Tibet. Seine Vorstellungen eines international eng verbundenen lebendigen Buddhismus wirken bis heute fort. Zum 125. Geburtstag des westlichen Visionärs ein Beitrag seiner Dharmaerbin Vajramala.

In diesem Jahr feiern wir Lama Anagarika Govindas 125. Geburtstag. Seine Bücher waren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für viele Leserinnen und Leser in Deutschland und den USA ein Türöffner zur Welt des Buddhismus. Inzwischen sei er in den USA, wo er viele Jahre wirkte, fast vergessen, klagte kürzlich sein Biograf Ken Winkler. Anlässlich seines 125. Geburtstages soll hier daran erinnert werden, wie sehr er sich um die Verbreitung der Buddhalehre im Westen verdient gemacht hat, insbesondere um die Rezeption des indotibetischen Buddhismus. Weniger bekannt ist: Schon in den 1930er-Jahren hat er eine Entwicklung anzustoßen versucht, an der wir im Jahr 2023 immer noch arbeiten: die Integration des Buddhismus in die westliche Gesellschaft.

Mit zwei Projekten wollte Lama Anagarika Govinda seine Vision von einem lebendigen Buddhismus in Europa verwirklichen: der Gründung eines internationalen Verbunds buddhistischer Universitäten und einer internationalen Vereinigung buddhistischer Gemeinschaften. Letzteres ist 1975 mit der Gründung der Europäischen Buddhistischen Union inzwischen Wirklichkeit geworden. Die wissenschaftliche Erforschung des Buddhismus genießt jedoch an europäischen Universitäten bislang nur wenig originär westliche Unterstützung. Viele Lehrstühle für das Studium des Buddhismus werden von Stiftungen aus Asien finanziert. 

Diese fehlende Wertschätzung ist sehr bedauerlich. Nicht nur, weil es eine Fülle von Material gibt, das erforscht, übersetzt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollte, sondern auch, weil die Lehren des Buddha und großer Meister in seiner Nachfolge in diesen schwierigen Zeiten Lösungen für die Zukunft und das Überleben der Menschheit anbieten. Govinda war ein weitsichtiger Vordenker, der die Bedeutung einer umfassenden Bildung und traditionsübergreifenden Zusammenarbeit bei der Integration des Buddhismus in die westliche Kultur früh erkannt hat. Leider fand er bei seinen Zeitgenossen nur wenig Verständnis für die Bedeutung dieser Visionen und auch nur wenig Unterstützung. 

Sohn aus gutbürgerlichem Hause

Doch wie kam der Sohn eines gutbürgerlichen Zigarrenfabrikanten zu einer so hochfliegenden Vision? Als er am 17. Mai 1898 in dem kleinen, verträumten sächsischen Städtchen Waldheim in die Familie des konservativen Kaufmanns August Hoffmann hineingeboren wird, ahnt niemand, dass dieser Knabe Neigungen entwickeln wird, die ihn weit über die Enge der sächsischen Provinz hinaustragen werden. Zwar hat der Vater mit der Wahl seiner Gattin Lolita Braun von Montenegro eine gewisse Abenteuerlust gezeigt, stammte sie doch aus jener Familie, deren Stammvater Otto Philipp Braun nach Bolivien ausgewandert war, um Simon Bolivar in seinem Freiheitskampf zu unterstützen. Als sie jedoch bei der Geburt ihres dritten Kindes stirbt, gibt der Vater die beiden Söhne in die Obhut seiner Schwägerin Matilde und deren Mutter Hélène de Soubiron

Beide weigern sich, ihre jeweilige Muttersprache aufzugeben, und so lernt der dreijährige Ernst Lothar Spanisch von der Tante und Französisch von der Großmutter, während er mit dem Onkel Ernst Otto Francke, der als Bergwerksingenieur in Bolivien gearbeitet hat, Deutsch sprechen muss. Die abenteuerlichen Erzählungen aus den bolivianischen Anden, wo die Familie seiner Mutter in den Quechisla-Bergen ein Bergwerk besaß, wecken seine Fantasie. Begeistert lauscht er den Erzählungen von Onkel und Tante über das ferne Bolivien mit seinen Schneegipfeln, den weiten Hochebenen und Seen und träumt als Junge davon, Bergwerksdirektor zu werden. Doch nicht die Tiefen der Erde, sondern die Tiefen des Geistes wird er erforschen. 

Der Botschaft des Buddha frei folgen

Der Vater kann es sich leisten, den verträumten Knaben auf das Reformgymnasium Bad Berka zu schicken. Dort verlagert sich sein Interesse. 15-jährig beginnt er sich mit Philosophie und den Weltreligionen zu beschäftigen. Um seinen Weg zu finden, vergleicht er das Christentum – dem er als Kind durchaus zugeneigt ist – mit dem Islam und dem Buddhismus. Er entdeckt seine Affinität zur Lehre des Buddha, und aus den Notizen seiner Studien wird ein Buch, das 1920 unter dem Titel „Die Grundgedanken des Buddhismus und ihr Verhältnis zur Gottesidee“ erscheint. Zwar findet es in Deutschland keine große Verbreitung – und ist heute so gut wie unbekannt, denn es wurde nie wieder aufgelegt –, wird jedoch wenige Jahre später ins Japanische übersetzt. Von nun an betrachtet sich Ernst Lothar als Buddhist und begründet diese Entscheidung später mit der Rede des Buddha an die Kalamer: Er wollte „der Botschaft des Buddha folgen, ohne sich gezwungen zu fühlen, Dinge zu glauben, die im Widerspruch zur Vernunft oder zu den Naturgesetzen stehen“. 

1916 wird er zum Kriegsdienst eingezogen und an die italienische Front geschickt. Aus diesen Jahren berichtet er nur, dass er zu seinem großen Glück nie einen Menschen habe erschießen müssen, weil er bald schwer an Tuberkulose erkrankte. Nach seiner Entlassung aus dem Militär und einem Sanatoriumsaufenthalt im Südschwarzwald beginnt er in Freiburg mit dem Studium der Philosophie, Psychologie und Archäologie. Doch seine angeschlagene Gesundheit zwingt ihn, in wärmere Gefilde überzusiedeln, und so schließt er sich der internationalen Künstlerkolonie auf der Insel Capri an, wo er bald Freunde fürs Leben findet. Er arbeitet an der Berlitz-Schule als Sprachlehrer und im Fotoatelier von Anna Habermann, die ihre Tochter durch eine Tuberkulose-Erkrankung verloren hat und in dem jungen deutschen Landsmann einen Ersatzsohn findet. 

Ein burmesischer Palikanon in Neapel

Govinda (li), Nyanatiloko (Mitte)

Mit einem Stipendium des Deutschen Archäologischen Instituts Rom erforscht er Tumuli, Hügelgräber des Mittelmeerraumes. Noch interessanter aber findet er den burmesischen Palikanon. Er hat ihn an der Universität von Neapel entdeckt – ein kostbares Geschenk eines burmesischen Königs. Und so beginnt er neben seiner wissenschaftlichen Forschungsarbeit, Pali zu lernen. Zusammen mit dem befreundeten Künstler Earl Henry Brewster, der ihn zum Malen anregt, beginnt er anhand des Anapanasati-Sutta systematisch zu meditieren und führt – wie es seine Art ist – exakt Buch über den Verlauf dieses Selbstversuchs und die Erfahrungen mit dieser Übungspraxis. 

Die ernsthaften Palistudien wecken schließlich in ihm den Wunsch, diesen Weg noch weiter zu vertiefen. Er bricht alle Brücken hinter sich ab und reist 1928 nach Sri Lanka, um Mönch zu werden. In der Island Hermitage von Polgasduwa setzt er unter seinem Lehrer Nyanatiloka Mahathera seine intensiven Pali- und Abhidhamma-Studien fort. Bei der Ordination zum Novizen erhält er den Namen Govinda, vielleicht eine Provokation des traditionellen ceylonesischen Sangha, denn Govinda war nicht nur der Name des Buddha in einer früheren Existenz, sondern auch der Name des Gottes Krishna und deshalb im Buddhismus eher unüblich. 1929 reist Govinda mit seinem Lehrer Nyanatiloka nach Burma und erhält dort, statt Mönch zu werden, auf Anraten des Anagarika Dhammapada das gelbe Gewand eines Anagarika, eines „hauslosen Wanderers“. Und ein Heimatloser sollte Govinda Zeit seines Lebens bleiben. 

Als Anagarika muss er seinen Lebensunterhalt selbst verdienen. Und so lehrt er seit 1931 als sogenannter Lecturer an indischen Bildungsinstitutionen: zwischen 1931 und 1935 an der von dem indischen Literaturnobelpreisträger Rabindranath Tagore geleiteten Bildungseinrichtung Vishva-Bharati in Shantiniketan, von 1935 bis 1936 an der Universität von Patna. Außerdem hält er Gastvorlesungen in Allahabad, Lucknow und Benares.

Zukunftsweisende Projekte

Neben seinen Studien setzt sich Govinda für drei weit in die Zukunft weisende Projekte ein. Auch wenn sie damals letztlich gescheitert sind, zeugen sie heute doch von der großen Weitsicht eines Menschen, der sich nicht nur in den Höhen der buddhistischen Philosophie bewegte, sondern dem auch die ganz praktische Integration der Lehre des Buddha in die westliche Welt ein großes Anliegen war. 

Das erste Projekt ist eine internationale Vereinigung buddhistischer Gemeinschaften, die er 1928 zusammen mit Nyanatiloka Mahathera unter dem Namen International Buddhist Union (IBU) gründet. Als Generalsekretär übernimmt er die Hauptlast der Arbeit, und um die europäischen Buddhistinnen und Buddhisten für diese Idee zu begeistern, reist er noch einmal nach Europa. Doch die erhoffte Unterstützung bleibt aus – das Projekt verläuft im Sand. Erst 1955 lebt die Idee wieder auf, als Mitglieder der von Govinda 1933 in Indien gegründeten Gemeinschaft Arya Maitreya Mandala zusammen mit anderen Buddhistinnen und Buddhisten die Deutsche Buddhistische Gesellschaft (DBG) gründen, die 1958 in Deutsche Buddhistische Union (DBU) umbenannt wird. Es dauert jedoch noch weitere 20 Jahre, bis sich 1975 die European Buddhist Union (EBU) gründet. Wie bedeutsam und unterstützend, ja unentbehrlich ein solcher Zusammenschluss – vor allem die darin mögliche Zusammenarbeit – für die Entwicklung des Buddhismus in Europa ist, erkennen wir erst allmählich.

Das zweite Projekt möchte Govinda mit frühen Mitgliedern des Arya Maitreya Mandala angehen, darunter Benimadhab Barua (1888–1948), die Kunsthistorikerin Stella Kramrisch (1896–1993) und Benoytosh Bhattacharyya (1897–1964). Zusammen arbeiten sie – das Vorbild der altindischen buddhistischen Universitäten wie Nalanda und Vikramashila vor Augen – an einer Initiative zur Gründung einer internationalen buddhistischen Universität in Indien. Dazu berichtet die Times of Ceylon am 15. August 1934: „Der Anagarika Govinda, der sich einige Zeit in Ceylon aufgehalten hat, ist gestern nach Indien abgereist, um seinen Plan zur Gründung einer internationalen buddhistischen Universität in Sarnath voranzutreiben. … Diese Universität soll für Studierende aller Glaubensrichtungen offen sein, um das gegenseitige Verständnis zwischen den verschiedenen Religionen und Nationen der Welt zu fördern.“ Auch dieses Projekt scheitert; denn die Verantwortlichen scheinen weder an einer Wiederbelebung des Buddhismus in Indien noch an einem interreligiösen Dialog interessiert. Erst Bhimrao Ramji Ambedkar, der als „Vater der indischen Verfassung“ gilt, löst 1956 mit seinem Übertritt zum Buddhismus eine Massenkonversion von Hunderttausenden kastenlosen Dalits aus. Und erst 2013 wird in Sanchi die University of Buddhist-Indic Studies gegründet.

Das dritte Projekt ist die Gründung eines internationalen Verbunds buddhistischer Universitäten, der International Buddhist University Association. Sie soll vor allem das wissenschaftliche Studium des Buddhismus in Europa fördern. Zwar ist Govinda bereit, auch dafür Verantwortung zu übernehmen und setzt sich von 1935 bis 1945 für die Umsetzung dieser Idee ein. Doch die Zeit ist auch dafür noch nicht reif: Europa versinkt in den Gräueln des Krieges und Indien in den Wirren des Freiheitskampfes. Als dessen Sympathisant wird Anagarika Govinda, der mit der Nehru-Familie befreundet ist, von den Briten fünf bittere Jahre in einem Internierungslager inhaftiert – obwohl er bereits britischer Staatsbürger ist. Vielleicht wäre es ihm ein Trost gewesen, wenn er gewusst hätte, dass seine Impulse Jahrzehnte später von klugen Menschen aufgegriffen und realisiert werden sollten. 

Begegnung mit dem tibetischen Buddhismus

Die nächste große Wende in seinem Leben ereignet sich im Herbst 1931, als er am Rande der All India Buddhist Literary Conference in Darjeeling, zu der er als Vertreter Ceylons und überzeugter Theravadin entsandt ist, während eines Unwetters im Kloster Yiga-Chosling in Ghoom Zuflucht sucht. Bislang hat er die Welt des tibetischen Buddhismus als eine entartete und verzerrte Form des Buddhismus betrachtet und ist dabei der damals gängigen Meinung westlicher Forscher wie Albert Grünwedel gefolgt. Hier verzaubern ihn die Rituale des tibetischen Buddhismus mit ihrer Bildgewaltigkeit und archaischen Musik. Er wartet im Kloster, in der Hoffnung auf ein Gespräch auf den Abt, der sich zum Retreat zurückgezogen hat. Seine Geduld wird belohnt. Als der Abt Domo Geshe erscheint, öffnet sich für Govinda eine neue Dimension, erlebt er, wie er später beschreiben wird, den Unterschied zwischen gelebter und einer auf den trockenen Intellekt begrenzten Spiritualität, bei der „Buchwissen wichtiger geworden war als Erfahrung“. 

In der Persönlichkeit des Gurus erlebt er den Beweis, „dass das, was die heiligen Texte lehren, hier und jetzt verwirklicht werden kann wie in den Tagen des Buddha“. Domo Geshe wird sein erster tibetischer Lehrer und fortan widmet sich Govinda der Aufgabe, westlichen Menschen den Zugang zum „Erbe Tibets“ – so der Titel eines Vortrags 1972 in Frankfurt, wo ich das Glück hatte ihm zu begegnen – zu öffnen. 

Doch Govinda hat die kostbaren Erfahrungen der frühen Jahre nicht vergessen. Er fordert Zeit seines Lebens zu einem traditionsübergreifenden Studium auf, das die Gesamtentwicklung des Buddhismus umfassen und die historischen, kulturellen, religionswissenschaftlichen und sozialen Entstehungsbedingungen sowie die Erkenntnisse der westlichen Wissenschaften mit einbeziehen soll. Lama Anagarika Govinda hat vorgelebt, wie ein ausgewogenes Verhältnis von Studium, meditativer Praxis und Alltagsbewältigung möglich ist. Er war ein aufrichtig Praktizierender, ein hingebungsvoller Schüler seiner Gurus und ein begnadeter Lehrer, dessen Weitsicht und tiefe Mitmenschlichkeit viele, die ihm begegnet sind, Vertrauen in den Dharma haben fassen lassen. 

Weitere Informationen

maitreya-mandala.de

Vajramala

Vajramala leitet den Mahakala Ashram am Bodensee, war lange Jahre Vorsitzende der DBU und ist nun deren Ehrenrätin.

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