Im freien Fall und doch nicht ohne Halt

Ein Interview mit Gert Scobel geführt von Ursula Kogetsu Richard veröffentlicht in der Ausgabe 2017/3 Wer bin ich? unter der Rubrik Wer bin ich?. (Leseprobe)

Ein Gespräch von Ursula Richard mit dem Fernsehmoderator, Autor und Philosophen Gert Scobel über die Bodenlosigkeit unserer Existenz, die Geschichten, die wir uns über uns und die Welt erzählen, und über das, was uns auch in stürmischen Zeiten trägt.

Der Fernsehmoderator, Philosoph und Buchautor Gert Scobel | © ZDF/Jana Kay

Ursula Richard: Ihr neues Buch trägt den etwas poetischen Titel: „Der fliegende Teppich“. Wofür steht dieses Bild eines mythischen Fortbewegungsmittels in Ihrer Sicht auf unsere Zeit?

Gert Scobel: Metaphern wie diese sind auf vielfältige Weise anschlussfähig. Der Grundgedanke ist dabei, die doppelte Grundlosigkeit des Lebens einzusehen – die sehr real alltägliche und die unserer Begründungen und Gewissheiten. Diese Bodenlosigkeit macht vielen Menschen Angst. Im buddhistischen Lebenskontext ist die Aussage, dass nichts in sich selber Bestand hat, weitaus weniger befremdlich. In der westlichen Philosophie jedoch gehört die skeptisch klingende Ansicht, dass das Leben sich im Fall befinde, zu den Minderheitsmeinungen. Dabei wissen alle, dass die Erde physikalisch gesehen mit 107 208 Kilometern in der Stunde um die Sonne fällt. Und was Begründungen angeht, hat der kritische Rationalismus sehr klar zeigen können, dass alle letzten Gewissheiten stets selbstfabrizierte Gewissheit sind und damit nicht das Problem lösen, das sie zu lösen vorgeben.

Doch damit ist ja nicht alles verloren, wie viele fürchten. Im Gegenteil. Wir erkennen auf diese Weise den Wert dessen, was uns trägt: menschliche Beziehungen und unsere Einbildungskraft. Tatsächlich leben wir Menschen sehr stark im Fiktiven. Daraus erwächst eine Reihe von Problemen. Und doch gelingt es uns, bildhaft gesprochen, mithilfe unserer Vorstellungskraft, mit Geschichten und Theorien, Modellen und Fiktionen immer wieder abzuheben. Wir werden getragen, weil wir nur aus den Fiktionen flugfähige Teppiche knüpfen – auch wenn sie provisorisch sein mögen und so fadenscheinig, dass man zuweilen den Abgrund sehen kann. Vor allem aber gelingt es, uns gegenseitig feste Taue des Vertrauens zuwerfen. Wir greifen diese Gesprächs- und Handlungsfäden anderer auf, ihre Zuneigung und Hilfe und weben daraus tragfähige Beziehungen und Gemeinschaften. Auch wenn ihr „Material“ das immaterielle Vertrauen ist, das wir einander schenken, sind diese Teppiche sehr tragfähig. Last but not least begegnet uns heute der fliegende Teppich in Form von technischen Geweben. Das Internet ist nichts anderes als ein materialisiertes, Technik gewordenes Netz – der fliegende Teppich par excellence. Wenn wir mit jemandem, der auf einem anderen Kontinent lebt, über Skype verbunden sind, scheinen weder Raum noch Zeit zu existieren. Ist das nicht einer der Wirklichkeit gewordenen Träume aus 1001 Nacht und vielen anderen Geschichten?

Haben wir Ihrer Ansicht nach heute die Bodenhaftung verloren, oder ist es nur eine uns lieb gewordene Illusion, dass wir als Menschen jemals festen Boden unter den Füßen hatten?

Wenn wir uns in den Fiktionen verlieren, die wir selber hervorgebracht haben, und diese Vorstellungen für Wirklichkeiten halten, dann verlieren wir die Bodenhaftung. In der Tat glaube ich, dass viele von uns sie deswegen verloren haben. Wir leben in der Illusion. Die sogenannte Filterblase im Internet ist nur eine ihrer vielen Erscheinungsformen. Festen Boden – den gab es immer nur in Fiktionen. Selbst wenn man es völlig wissenschaftlich sehen möchte: Dann ist der feste Boden physikalisch gesehen ein seltsames, unverständliches Ineinander von sich bewegenden Energiefeldern, das unserem Alltagsdenken auf fundamentale Weise widerspricht. Im Grunde spielt es nicht einmal eine Rolle, ob Sie den Boden als Materie oder als Energie beschreiben. Beides ist austauschbar. Wenn Sie in den Boden zoomen würden, dann hätten Sie einen ähnlichen Eindruck wie beim Blick in den Weltraum: Er besteht überwiegend aus nichts anderem als einer weiten Leere. Im Weltraum gibt es übrigens kein oben und unten; was wie ein freier Fall nach unten aussieht, erscheint aus anderer Perspektive wie ein Aufstieg.

Freier Fall – ohne Boden, auf den man aufprallen könnte

Der tibetisch-buddhistische Lehrer Chögyam Trungpa verglich unsere Lage mit der eines Fallschirmspringers, der feststellen muss, dass der Fallschirm nicht aufgeht. Die gute Nachricht dabei ist, dass es keinen Boden gibt, auf dem er aufprallen könnte. Wir können nun, so Trungpa, in Panik ob unseres Falls geraten oder das Ganze als Fliegen genießen. Wir neigen offenkundig mehr zu Ersterem, denn Angst und Panik scheinen heute wieder sehr auf dem Vormarsch zu sein, oder?

Ein schönes Bild, das mir sehr gefällt. In der Tat: Wo wäre der Boden der Realität, auf den wir aufprallen könnten? Ich habe unlängst eine Sendung zu diesem Thema „Angst“ gemacht. Eine Frage war, ob die sogenannten Angststörungen zunehmen. Der renommierte Psychiater und Angstforscher Borwin Bandelow sagte, was nahezu alle Forscher bestätigen: Es gibt keine objektiven Hinweise auf einen Anstieg der Störungen. Panik und Angst im Alltag gab es immer schon bei einer gewissen Zahl von Menschen. Es scheint dabei, wie man aus Zwillingsstudien weiß, ein überraschendes Maß von genetischen und epigenetischen Faktoren eine Rolle zu spielen.
Hinzu kommen dann andere Faktoren – allen voran die Medien, die unser Leben stark prägen und unsere Aufmerksamkeit immer wieder auf singuläre Ereignisse lenken, die wir dann überschätzen. Wenn es um die Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten geht, schneiden wir alle überraschend schlecht ab, wie etwa Gerd Gigerenzer und andere Forscher zeigen konnten. Aber Lobbygruppen und Parteien erwecken geschickt den Eindruck, als wäre die Angst mehr geworden. Ich bin auf der Seite der meisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die das für einen Irrtum, eine sogenannte kognitive Verzerrung, halten.Im Weltraum gibt es übrigens kein oben und unten; was wie ein freier Fall nach unten aussieht, erscheint aus anderer Perspektive wie ein Aufstieg.

Was unterstützt Sie persönlich darin, angstfrei auf dem fliegenden Teppich zu bleiben und die Reise womöglich zu genießen?

Erstens die Zuneigung von Menschen – das Band der Freundschaft, Liebe und Solidarität, das es tatsächlich gibt, trotz aller Wirren. Mich erstaunt beispielsweise immer wieder, dass das Christentum, von seiner ursprünglichen Idee her, diese Idee der Gemeinschaft in den Vordergrund stellt. Im Glauben reicht die Verbindung der Menschen sogar bis zur Gemeinschaft mit Gott selbst. Davon sind Christen überzeugt – oder sollten es doch sein –, obwohl sie gleichzeitig
wissen, dass der Gründer dieser Gemeinschaft aufgrund eines Verrats starb. Schuld an seinem Tod war nicht ein grausamer Gott, sondern die Angst und Missgunst, der Hass und Neid anderer Menschen. Und doch lebte Jesus für diese Gemeinschaft. Mir scheint, dass dieser Aspekt in Zeiten der gegenwärtigen Krisen völlig vergessen wird. Zweitens helfen mir natürlich die wirklich guten Fiktionen (und ich hoffe, dass ich dabei nicht vergesse, dass es welche sind). Allerdings würde ich anmerken, dass wir im Moment nicht sehr gut darin sind, für uns selber tragfähige Vorstellungen von einem Leben zu entwickeln, das wir beispielsweise in Europa gemeinsam leben wollen. Und drittens, ohne Zweifel, meine tägliche, seit Jahrzehnten eingeübte Meditationspraxis. Das Kissen IST ein fliegender Teppich. Es ist bodenlos. Aber es trägt mitten in die Wirklichkeit, mitten ins Herz der Dinge hinein.

ENDE DER LESEPROBE

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