Hat Religion eine Zukunft?

Ein Beitrag von Dr. Ursula Baatz veröffentlicht in der Ausgabe 2015/2 Meditation unter der Rubrik Aktuell.

Angesichts von Gewalt und Fundamentalismus

Sieht man die derzeitige Lage der Religionen, mag man nicht glauben, dass daraus eine gute Zukunft resultieren könnte. Es packt einen das Entsetzen, wenn man sieht, welche Brutalitäten im Namen von Religion begangen werden – und nicht nur die sogenannten monotheistischen Religionen sind Agenten religiöser Gewalt, auch Buddhisten und Hindus. Diese Gewalt ist jedoch zumeist politisch motiviert, und selten noch konnte man so genau nachvollziehen, wie Politik Religion instrumentalisiert. Es geht um Rohstoffe, um Wasser, es geht um Geld und es geht um Macht. Auf der Strecke bleiben jene, die ganz traditionell einfach fromm sind. Er schreckend deutlich wird das bei islamistischen Attentaten im Mittleren Osten, in Pakistan, aber auch in Afrika: Das Ziel sind fast immer Sufi-Heiligtümer und schiitische Moscheen, da Sufis und Schiiten den islamistischen Fundamentalisten als Ungläubige gelten.

Fundamentalisten aller Lager wollen Eindeutigkeit. Mehrdeutigkeit und Ambivalenz sind ihnen ein Gräuel. In diesem Fall zerstört die Religion ihre Grundlage und ihre Zukunft. Religion zielt auf eine Dimension des Lebens, die nicht in Gleichungen oder Bilanzen ausgedrückt werden kann, sondern in Metaphern, Symbolen und Bildern. Religionen sind keine logischen Systeme, sondern eine „bricolage“, eine Bastelarbeit von vielen Generationen, der man nur gerecht wird, wenn man sie in ihrer ganzen Vielfalt und Diversität wahrnimmt. Religionen seien hermetisch abgeschlossene Gebilde wie Nationalstaaten. Dies wird vom herrschenden politischen Konzept eines „Kampfs der Kulturen“ (Huntington 1992) suggeriert. So dienen heute Religionen als „Identitätsmarker“ – und daraus entsteht Gewalt.

Es gab ein Zeitfenster – so ungefähr zwischen 1960 und 1980, zwischen dem Zweiten Vatikanischen Konzil und der Iranischen Revolution –, in dem Religionen ganz offiziell vor allem als Wege der Erfahrung verstanden wurden, die über die Ebene von Sprache und Macht hinausführten. Der Irrtum dieser Jahre war, zu glauben, dass alle Religionen letztlich aufs Gleiche hinauslaufen. Trotzdem war die Suche nach dem, was jenseits der Unterscheidungen liegt, produktiv. Denn so kamen die verschiedensten religiösen Traditionen miteinander ins Gespräch, und es konnten jene zusammentreffen, die einander „wie Diebe ohne Worte erkennen“ (Mumonkan). Hier liegt, so meine ich, der Weg für eine Religion der Zukunft. Erstens sollte man aufhören, Religionen als Mittel zur Gewinnung persönlicher Identität zu benutzen. Zweitens geht es um den Weg-Charakter der Religionen, aber auch um die Diversität der Menschen. Es gibt so viele Wege, wie es Menschen gibt. Vor allem aber ist die Kunst der Unterscheidung gefragt, die zwischen menschenfreundlichen und menschenfeindlichen Formen von Religion unterscheiden kann. Das Kriterium heißt Gewalt – in allen Schattierungen: physische, strukturelle und kulturelle Gewalt.

„Wanderer, es gibt keinen Weg, der Weg entsteht im Gehen“, schreibt der große spanische Dichter Antonio Machado. Schritt für Schritt entsteht der Weg, und die Zukunft aus den Entscheidungen der Gegenwart. Um Offenheit wird also gebeten.

Dr. Ursula Baatz

Ursula Baatz ist prom. Philosophin, Wissenschafts- und Religionsjournalistin sowie Mitherausgeberin der poly – log-Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren. Sie ist langjährige Zen-Praktizierende und Autorin u. a. von „Erleuchtung trifft Auferstehung. Zen-Buddhismus und Christentum. Eine Orientierung“.

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