?! Gemeinsam erwachen

Ein Beitrag von Amanda Rengetsu Haas Halim veröffentlicht in der Ausgabe 2023/2 Buddhismus im Westen unter der Rubriken Transformation, Schwerpunkt Buddhismus im Westen.

Eine tiefe Sehnsucht nach Einfachheit und Verbundenheit brachte Amanda Haas Halim als Teenager erst zum Chan- und dann zum Zen-Buddhismus. „Ich spürte eine unendliche Dankbarkeit. Einige Aspekte und Geschehnisse haben mich aber auch traurig gestimmt und tun es immer noch. Der Buddhismus sei als Praxis offen für alle, heißt es. Doch ist das wirklich so?“

Der westliche Buddhismus versteht sich als neutral, doch es gibt darin einen weißen Fleck. Viel zu häufig wird ignoriert, dass auch der Buddhismus aus wechselseitiger Bedingtheit und örtlichen Gegebenheiten gewachsen ist und nicht isoliert oder gar außerhalb von Samsara existiert. Gesellschaften und Kulturen haben ihre Gepflogenheiten und Weltanschauungen einfließen lassen. Der Zen-Buddhismus, den ich übe, ist aus Indien nach China, Korea, Japan, in die USA und dann nach Deutschland gebracht worden. Jede Kultur hat darin Anteile ihrer Sprache, sozialen Regeln, Denkweisen und dominierenden Identitäten hinterlassen.

Die US-Buddhistin und promovierte Religionswissenschaftlerin Ann Gleig betont in ihren Publikationen und Vorträgen, dass der Buddhismus in den USA auf dem Boden einer weißen, männlich dominierten, heteronormativen, protestantischen Mittelklassegesellschaft gewachsen ist. Häufig beschreiben westliche Buddhist*innen die Praxis der Bevölkerungen von Vietnam, Japan oder Tibet als „naiv“ und „volkstümlich“; vieles davon haben sie nicht übernommen. Besonders problematisch sei die westliche Illusion, so Ann Gleig, dass der Buddhismus hier eine besonders analytische und aufgeklärte Form angenommen habe; er sei daher „neutral“ und den Praxisformen in den buddhistischen Ursprungsländern überlegen. Diese Perspektive gilt es zu dekolonialisieren.

Doch auch der Westen hat seine Prägungen in den Buddhismus eingewoben – und nicht alle davon sind aufgeklärt, emphatisch und weise. Ein Beispiel: In Deutschland wird die Schere zwischen Arm und Reich immer größer. Zu den Besonderheiten des westlichen Buddhismus hierzulande gehört es, nicht wahrzunehmen, wie relevant dies auch für die buddhistische Praxis ist. An Retreats, selbst an freiwilliger Vereinsarbeit, die in vielen Sanghas eine wichtige Rolle für das Gemeinschaftsleben und die Praxis spielt, kann nur teilnehmen, wer sich von der Arbeit oder Kindererziehung freinehmen kann und generell über die finanziellen und zeitlichen Ressourcen verfügt. Menschen, deren Existenz nicht gesichert ist und die nicht in einem klösterlichen Umfeld praktizieren möchten, sind darauf angewiesen, dass die Sangha auch ihnen Angebote macht. Hier können sich alle buddhistischen Gemeinschaften selbstkritisch fragen: Bieten sie niederschwellige Optionen auch für Praktizierende ohne große Ressourcen? Oder können nur Menschen, denen es finanziell gut geht, oft und regelmäßig an ihren Praxisangeboten teilnehmen?

Inklusive buddhistische Praxis

Ein zweites Beispiel: Spätestens seit der vermehrten Berichterstattung über rassistische Polizeigewalt in den USA, seit den Morden in Hanau und dank der unermüdlichen Arbeit von Aktivist*innen ist der deutschen Gesellschaft mehr und mehr bewusst geworden, wie massiv auch sie noch immer rassistischen Denkweisen verhaftet ist. Im Zen-Buddhismus ist die Bodhisattva-Praxis des uneingeschränkten Mitgefühls elementar, und ich frage mich: Was bedeutet es für mich als Bodhisattva-Übende, im deutschsprachigen Raum als weibliche, queere, in einer heteronormativen Beziehung lebende Person of Color (PoC) zu praktizieren? Wie kann ich das Feld für eine inklusive, selbstreflektierende, buddhistische Praxis in der westlichen Gesellschaft öffnen? Für eine Praxis, die sich nicht scheut, sich auch selbst zu hinterfragen und weiterzuentwickeln? Für eine Sangha und Lehrer*innen, die fragen, was sie selbst für mehr Inklusion und Diversität tun können? Die sich ihrer Machtpositionen und ihrer Nähe zur Mehrheitsgesellschaft bewusst sind? Die bereit sind, wirklich zuzuhören und strukturelle Anpassungen vorzunehmen, sowohl innerhalb wie auch außerhalb der Gemeinschaften?

Buddha hat gelehrt, dass alles unbeständig ist und es Leiden erzeugt, dies abzuwehren. Sozialer Wandel ist ebenfalls eine Form der Unbeständigkeit – und er wird in der buddhistischen Welt häufig noch abgewehrt. In den meisten Büchern, die ich zu Beginn meiner buddhistischen Studien um das Jahr 2000 las, stellte der weiße cis-Mann die sprachliche und inhaltliche Norm dar. (Für alle, die mit diesen Begrifflichkeiten noch nicht vertraut sind: Bei cis-Männern und cis-Frauen entspricht ihre Geschlechtsidentität dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde.) Die Verwendung ausschließlich männlicher Substantive und Pronomen in buddhistischen Büchern vermittelte den Leser*innen (und zementierte in ihrem Unterbewussten): Der männliche Standpunkt bildet den Standard; bei ihm liegt die Deutungshoheit.Es ging also um eine Machtposition, und Machtdynamiken gilt es zu erkennen, zu benennen und zu ändern. Heute wird in in diesem Magazin von Sprecher:innen, Leser:innen oder Buddhist:innen gesprochen. Ich selbst nutze das Gendersternchen *. Solche Abmachungen sollen zu einer größtmöglichen Inklusion führen, indem sie alle Gender inkludieren. Für mich ist das ein Beispiel für die Bodhisattva-Praxis des gelebten Mitgefühls.

Othering – andere ausschließen

In letzter Zeit habe ich mich auch häufiger gefragt, was es bedeutet, wenn Menschen in ihren Bedürfnissen strukturell ignoriert werden. Kommen sie gar nicht erst zum Buddhismus? Wenden sie sich ab, wenn sie immer wieder auf unsichtbare Mauern des Andersseins stoßen? Verlassen sie enttäuscht ihre Gemeinschaften? Internalisieren sie die Abwertung, die ihnen entgegenschlägt? 

Aus eigener Erfahrung weiß ich: Wenn Menschen die Zugehörigkeit verwehrt und ein diffuses Gefühl des Nicht-dazu-Gehörens vermittelt wird, kann es für sie schwer bis unmöglich sein, sich der Praxis ganz zu öffnen. Als Person of Color bin ich, leider auch in buddhistischen Kontexten, schon unzählige Male gefragt worden, woher ich denn „eigentlich“ komme. Wenn ich diese Frage mit „Berlin“ oder „Basel“ beantworte, reicht das den Fragenden oft nicht. Zeige ich bei Nachfragen meine Irritation, reagieren sie mit völligem Unverständnis. Die Frage sei doch nicht böse gemeint, es sei ja so toll, dass ich hier sei und es gehe doch einfach nur darum, meine „Mischung“ zu erfahren …

Das ist eine Mikroaggression. Sie kann das sympathische Nervensystem triggern, der Körper-Geist nimmt eine Stresssituation wahr, tritt in Alarmbereitschaft und macht sich bereit für Kampf oder Flucht, Erstarrung oder Unterwerfung. Das sind Traumareaktionen. Angstschweiß, gesteigerte Herz- und Atemrhythmen, weniger Blutversorgung im Verdauungstrakt, inneres Einfrieren – ist das in einer Sangha-Konstellation wirklich hilfreich? Als Praktizierende sollte mir meine Sangha eine wohlwollende Übungsumgebung bieten. Wenn Teile meiner Identität fortwährend als „fremd“ oder „störend“ thematisiert werden, löst dieses Othering ein befremdliches Gefühl des Andersseins in mir aus, das sich noch steigert, wenn mein Einspruch ignoriert und abgewertet wird. Geschieht dies kontinuierlich, so wachsen innerer Widerstand und Dissonanz: Eigentlich möchte ich so gerne dazu gehören und in die Lehre eintauchen, aber ich treffe auf dieses Othering. Anstatt dass Selbstmitgefühl und Liebe die Basis meiner Praxis werden, stelle ich meine eigenen Erfahrungen grundsätzlich infrage. Internalisierter Selbstzweifel und Selbsthass werden genährt. Ich verliere meinen inneren Kompass. Kann ich meinen Erfahrungen noch trauen? Wann lohnt es sich, Mikroaggressionen anzusprechen, wann klebe ich zu sehr an meiner Identität fest?

Gruppendynamiken und der unausgesprochene Konsens darüber, was „normal“ sei und was nicht, erschweren es Einzelnen, ihr Unwohlsein mit dem Status quo zu thematisieren. Öffentlich heißt es in buddhistischen Gemeinschaften, alle Menschen seien gleich und deshalb gebe es kein Problem. Auch darin artikuliert sich häufig eine Mikroaggression, wenn unterschwellig gemeint ist: „Alle hier in der Sangha passen sich an und nehmen sich zurück – warum machst du Probleme?“ Nicht gesehen wird, dass eben nicht alle Menschen der unausgesprochenen Norm entsprechen.

Meine familiär schwierige Lage kam als eine weitere Ebene hinzu: Weil der Buddhismus Nicht-Selbst lehrt, flüchtete ich mich am Anfang meiner Praxis in eine Praxis der Dissoziation. Das kam daher, dass ich mir sagte, ich müsse es nur schaffen, mich völlig zu negieren und mein Ego zu töten. Mich dem Moment in seiner Ganzheit hingeben zu können war in so einem Moment nicht möglich, weil ich so sehr damit beschäftigt war, meine Situation und meine Gefühle dazu nicht zu spüren. Manchmal ließ mich dann die Abwertung meines eigenen Leidens auch gegenüber dem Leiden anderer abwertend werden – das tut mir heute unendlich leid.

Irgendwann kamen das Erwachen und die Erkenntnis: Ja, ich bin leer – aber gleichzeitig bedeutet das eine große Fülle! In mir gibt es die verschiedensten Identitätsanteile, sie sind nicht aus mir allein gewachsen, sie gehören mir auch nicht. Sie sind verwoben in ein unendliches Netz an Zusammenhängen und wechselseitig bedingtem Entstehen und Vergehen, werden sich fortwährend ändern, umwandeln, neu verknüpfen. Ist das nicht schön und traurig zugleich? Meine Identitätsanteile, mein „Ich“, meine Persönlichkeit, auch meine Traumaanteile sind konstruiert, sie haben keine feste Form. Dennoch prägen sie mich und bestimmen, wo ich jetzt in dieser Welt stehe und wie ich mich darin bewege.

Die Vielfalt feiern

Samsara umfasst das gesamte Spektrum von Leben und Tod. Nichts findet außerhalb davon statt. Zum Bodhisattva-Weg gehört es, anzuerkennen, dass gesellschaftliche Unterschiede, Diskriminierungen jeglicher Formen, Klassenunterschiede und Armut genauso wie Krankheit und Alter einen Einfluss auf unser Wohlbefinden und unsere individuelle Position in Samsara haben. 

Gemeinsames Praktizieren heißt, sich dessen bewusst zu sein und einander, und auch sich selbst, immer wieder gut zuzuhören und wahrzunehmen. Spirituelle Gemeinschaften sollten gegenüber allen Offenheit üben. In einer Sangha zu praktizieren bedeutet, aus der Erkenntnis der wechselseitigen Bedingtheit und einem Gefühl der Hingabe heraus zu üben und sich anderen gegenüber zu verhalten. Jeder Mensch, jedes Lebewesen ist einzigartig und zudem nie in einer festen Form fassbar. Diese Vielfalt gilt es in der Sangha nicht zu negieren, sondern zu feiern, als direkter Ausdruck von Mitgefühl und Liebe.

Larry Yang, US-amerikanischer Buddhist, PoC und queerer Mann, hat 2017 das Buch „Awakening Together“ veröffentlicht. Darin spricht er davon, dass nichts in unserem Leben unwürdig sei, Objekt liebevoller Hingabe und Achtsamkeit zu werden. Der Buddha ist erwacht, indem er seine eigene, individuelle Erfahrung des Menschseins gründlich erforscht hat. Wenn Buddhist*innen sagen, individuelle und kulturelle Erfahrungen und Identitäten widersprächen den Lehren von Leerheit oder Nicht-Selbst, verpassen sie laut Larry Yang wertvolle potenzielle Objekte für ihre persönliche Achtsamkeitspraxis. Außerdem entmutigen sie Menschen, die das Bedürfnis haben, wichtige Fragen von Identität und Diversität in Dharma-Gemeinschaften zu thematisieren. 

Die Praxis des Zuhörens und Hinschauens

Den diversen Stimmen Raum zu geben ist eine grundlegende Bodhisattva-Ausübung. Buddhistische Gemeinschaften sind wunderbare Orte, die Praxis des Zuhörens und Hinschauens zu üben. Das beschreibt auch Lama Rod Owens, ein US-amerikanischer, queerer Schwarzer Lama, in seinem 2022 im Verlag Verlag w_orten & meer erschienenen Buch „Lieben und Wut – Der Weg zur Befreiung durch Zorn“. Die innere Haltung, die es ihm ermöglicht hat, in buddhistischen Kreisen immer wieder diskriminierende Missstände, Rassismus oder Queer-Feindlichkeit aufzuzeigen, wurzelt in einer tiefen Sehnsucht nach der Befreiung aller Wesen vom Leiden. Lama Rod Owens betont Umsicht und Geduld: Er spreche Missstände und unheilsame Dynamiken in Gruppen an, ohne zu erwarten, dass seine Kritik sofort zu Änderungen führe.

Als Praktizierende sollten wir unsere Praxis darin sehen, allen Menschen das Gefühl zu geben, gehört und gesehen zu werden. Wer eine leitende Position innehat, sollte sich der damit einhergehenden Verantwortung bewusst sein. Dasselbe gilt für alle, die unsichtbaren, aber allgemein akzeptierten Normen entsprechen. Die Initiative zu ergreifen, Räume für einen heilsamen Austausch zu ermöglichen – das sollte allen Übenden ein Anliegen sein. Darum plädiere ich für einen Buddhismus, der gleichermaßen nach innen und nach außen schaut. Die Konstruktionen, die uns als Menschen, als soziale Gruppen und Gesellschaft ausmachen, gilt es zu studieren und zu hinterfragen. Nur so – und mit einer Haltung des liebevollen Mitgefühls – können wir diskriminierende Anteile überwinden und unsere Gemeinschaften so transformieren, dass wir darin in ein wirklich offenes, freies Miteinander leben.Können wir uns für die Komplexität, Schönheit, Vielfalt und Einzigartigkeit aller Lebewesen weit öffnen? Können wir sehen, wie unfassbar und unermesslich die Räume sind, die uns die buddhistische Lehre und Praxis erschließen möchte? Je mehr Komplexität ich in meiner Praxis und meinem Leben zulassen kann, desto mehr erkenne ich an, dass ich tatsächlich nicht viel weiß. Desto mehr komme ich im Reichtum des Moments an, werde zur staunenden Betrachterin des Schauspiels Leben, das eins und nicht teilbar ist.

Amanda Rengetsu Haas Halim

hat ein Studio für Design, ist Yogalehrerin, Verlegerin und Autorin. Seit ihrem 18. Lebensjahr zenbuddhistische
Laiennonne, übte sie Shaolin und Kung-Fu, nahm an intensiven Retreats in Japan teil, praktizierte in verschiedenen Zen-Linien und Gemeinschaften und gehört nun zum Akazienzendo Berlin, einer sozial engagierten Sangha.

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