Friedliche Akzeptanz – Umgang mit Härten und Krisen

Ein Beitrag von Bhikshu Tenzin Peljor veröffentlicht in der Ausgabe 2022/3 Heimat unter der Rubrik Aktuell.

Immer wenn etwas Unerwartetes, Überraschendes eintritt, versuche ich mir zu vergegenwärtigen, dass diese Ereignisse mich aus meinen Illusionen – oder Projektionen – reißen und ich selbst es bin, der sich über die Wirklichkeit getäuscht oder unrealistische Erwartungen gehabt hat.

Es kann Phasen im Leben oder in der Gesellschaft geben, wo alles scheinbar mehr oder weniger geschmeidig vor sich hinläuft. Diese Situationen sind aus spiritueller Sicht nicht unbedingt sehr nützlich, weil sie einerseits die Illusion erzeugen, man habe die Realität oder die Dinge im Griff, und sich andererseits eine Form von subtilem Stolz einschleichen kann, doch ganz gut durchs Leben zu kommen. Guckt man etwas über den eigenen Erlebnishorizont hinaus, kann man zwar sehen, dass andere Menschen durchaus weniger geschmeidig durchs Leben gleiten als man selbst, aber irgendwie hat man eben mehr Glück als sie oder ist vielleicht auch ein bisschen besser, oder?

Einer meiner Lehrer, Gavin Kilty, nannte diese Form von subtilem Stolz „Superman-Gefühl“: Man segelt geschmeidig durch die Welt und löst alle Probleme, nichts haut einen wirklich um. Große Reibungsflächen für spirituelles Wachstum entstehen dadurch aber eher nicht. Subtiler Stolz und die Illusion, das Leben gut im Griff zu haben, befördern eher eine Form der Selbstzufriedenheit mit keiner oder nur wenig Motivation, sich geistig weiterzuentwickeln. (Was nicht heißt, dass man diese glücklichen Phasen im Leben nicht auch für die geistige Entwicklung nutzen kann. Sie verleiten nur eher zur Selbsttäuschung und Selbstzufriedenheit.)

Möglichkeiten für Wachstum

Deshalb ist es, aus spiritueller Sicht, hilfreich die Brüche und plötzlichen Risse in der scheinbar so schönen Fassade des Lebens, das Leid und den Schmerz willkommen zu heißen. Denn diese bieten Reibungsflächen für Wachstum – viel eher, als wenn alles glatt und gut läuft. Für einen spirituellen Menschen – ich meine damit eine Person, die an ihrem Geist arbeitet, Qualitäten fördern und Begrenzungen vermindern will – ist es hilfreich, hier eine Willkommenskultur zu entwickeln. Leiden, Schmerz, Probleme und Härten willkommen zu heißen – als Chancen für spirituelles Wachstum. 

Das ist natürlich einfach geschrieben und schwer getan. Und zudem kann es zynisch klingen, wenn man nun an das Leid anderer denkt oder eh schon von den Dingen des Lebens überwältigt ist und eher einen Rückzug oder Schutzraum bräuchte, um sich zu regenerieren, und mehr Leid, mehr Härten oder Herausforderungen einen völlig überfordern würden. 

Für die spirituell Übenden ist meines Erachtens der erste und fundamentalste Punkt, friedliche Akzeptanz – auch als Geduld (Sanskrit: kshanti) bekannt – gegenüber den schmerzhaften Dingen des Lebens zu entwickeln. Die Übung der friedlichen Akzeptanz oder Geduld schließt nicht aus, etwas im Äußeren oder Inneren zu verändern, wenn das möglich ist. In erster Linie geht es darum, die emotionale Reaktionsweise auf das Leidhafte, auf das schmerzhafte Hereinbrechen der Wirklichkeit zu verändern. Buddha spricht hier vom zweiten Pfeil, den wir durch die emotionale Reaktion, unglücklich zu werden, abschießen. Damit vergrößern wir den Schmerz.

Plötzlich von einem leidhaften Ereignis getroffen zu werden, das ist der erste Pfeil. Es lässt sich nicht ändern, dass in unsere Realität auch unerwünschte Situationen hereinbrechen. Für die Übenden ist es wichtig zu verstehen, dass die emotionale Reaktion, über den ersten Pfeil unglücklich zu werden, ihr Leid nur vergrößert. Dann können sie aus Einsicht und Selbstfürsorge lernen, diese Reaktionsweise loszulassen, um sich nicht durch das Abschießen des zweiten Pfeils noch mehr Schmerzen zuzufügen. 

Shantideva bringt das wie folgt auf den Punkt: Wenn du etwas tun kannst, um ein Problem zu lösen, gibt es keinen Grund, darüber unglücklich zu sein, dann tue was nötig ist; kannst du nichts tun, hilft es nichts, darüber unglücklich zu sein.

Innerer Raum

Mit der friedlichen Akzeptanz entstehen ein innerer Raum und eine Klarheit im Geist, die eine sehr gute Basis für weitere heilsame geistige Reaktionsweisen wie Liebe, Mitgefühl oder Weisheit und aus ihnen geborene heilsame sprachliche oder körperliche Handlungen bilden. Im offenen, entspannten Raum der friedlichen Akzeptanz findet man Ruhe, Kraft, Weite, ja Glück und eine flexible Kreativität, um mitfühlender und weiser mit einer Situation umgehen zu können.

Deshalb halte ich persönlich die Kultivierung der friedlichen Akzeptanz (Geduld) für den wichtigsten Schritt in Zeiten von Härten, Schmerz oder Krisen. Und das schließt ein, auch meinen Ärger, mein Schockiertsein, mein Entsetzen oder meinen inneren Aufruhr über den äußeren Anlass friedlich als meine eigene Realität anzunehmen. Oder meine Unfähigkeit anzunehmen, wenn ich damit nicht umgehen kann, es mich überfordert. Akzeptanz schließt auch ein, zu lernen, den Schmerz und das Leid eines anderen friedlich anzunehmen, damit und mit ihr oder ihm in Frieden zu sein, ohne mich überwältigen zu lassen, davonzurennen oder aggressiv zu werden. 

Die Akzeptanz kann alles annehmen und einschließen. 

Ajahn Succito fasst die Entwicklung der Akzeptanz ganz wunderbar mit folgenden Worten zusammen: 

Zuallererst sollten wir jedoch nicht reagieren – nicht toben, nicht verzweifeln oder dem Leid erlauben, zu viel Raum in unseren Gedanken einzunehmen. Als Erstes sollten wir eine Linie um das Leid ziehen, einen Schritt zurücktreten und uns darüber im Klaren sein: „So ist das.“ … Geduld hält uns im Hier und Jetzt mit dem Leid in einem weiten Raum und ermutigt den Geist, sich zu öffnen. Und ein offener Geist fühlt sich wesentlich friedvoller an und hat darüber hinaus eine bessere Einsicht in die Ursache des Leids.

Die Praxis der friedlichen Akzeptanz schließt ein, schreibt er, die Leiden zu sehen wie sie sind, ohne sie zu beschönigen, ohne sie schlimmer zu machen als sie sind. Sie werde reiner in dem Maße, wie es gelinge, die Erwartung aufzugeben, dass das Problem verschwinde, denn dann „fühlt sich der Geist immer noch drängend oder abwehrend an.“ In ihrer Perfektion bedeute „Geduld, dem Leben keinerlei Frist zu setzen, sodass der Geist heiter und gelassen ist.“

Auf der Basis der Akzeptanz kann man dann sehen, was man bezüglich der schmerzhaften Situation mit Worten oder körperlich tun oder auch nicht tun kann. Eines kann man immer tun: Liebe und Mitgefühl für sich selbst, die vom Leid Betroffenen und die äußeren Leidauslöser, auch Täterinnen und Täter, zu entwickeln. Man kann sich von den eigenen Feindbildern lösen, Aversionen und Hass regulieren und sie nicht die Oberhand gewinnen lassen. 

All das wird einfacher und natürlicher im weiten, klaren und offenen Raum der friedlichen Akzeptanz.

Bhikshu Tenzin Peljor

Bhikshu Tenzin Peljor studiert und praktiziert den Buddhismus seit 1995 und wurde von S. H. dem Dalai Lama 2006 zum Mönch ordiniert. Von 2008 bis 2013 Studium am Istituto Lama Tzong Khapa in Italien. Von Ringu Tulku Rinpoche wurde er 2007 zum Residenzmönch für Bodhicharya Deutschland in Berlin berufen. Er ist Vorstandsmitglied in der Deutschen Buddhistischen Ordensgemeinschaft (DBO).

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