„Frieden schaffen ist anspruchsvolles, kreatives Tun“
Frieden erfordert Weisheit und Geduld. Wie wir uns selbst dazu inspirieren können, Böses nicht mit Bösem vergelten zu wollen, erläutert der Friedens- und Konfliktforscher Markus Weingardt, Mitarbeiter der Stiftung Weltethos, im Interview.
Anika Limbach und Silke Bender: Das Prinzip der Gewaltlosigkeit ist der Kern der buddhistischen Philosophie, genauso wie die Einheit von innerem und äußerem Frieden. Der buddhistische Mönch Nichiren Daishonin, auf den die buddhistische Tradition der Soka Gakkai zurückgeht, war überzeugt davon, dass in seinem Land Japan Frieden nur dann etabliert werden könne, wenn die Menschen die Würde des Lebens von Grund auf respektierten. Sehen Sie das ähnlich? Und wie lässt sich dieses Prinzip auf heute und auf uns übertragen?
Markus Weingardt: Ja, ich sehe das mehr als nur ähnlich. Die Anerkennung der universalen Würde jedes Menschen steht im Zentrum meines persönlichen Tuns und sollte auch im Zentrum eigentlich allen politischen, wirtschaftlichen und auch zwischenmenschlichen Handelns stehen. Die Menschenwürde ist Dreh- und Angelpunkt aller Menschenrechte und aller sich daraus ergebenden Freiheits- und Bürgerrechte. Spreche ich jemandem – explizit oder de facto – die Menschenwürde ab, wie beispielsweise im Nationalsozialismus, dann ist der Entmenschlichung und Diskriminierung und letztlich auch der Vernichtung dieser Menschen Tür und Tor geöffnet. Das gilt nicht nur im Krieg. Das Primat der Menschenwürde gilt beispielsweise auch für den Umgang mit Geflüchteten, für den Umgang mit alten Menschen oder für internationale Wirtschaftsbeziehungen.
Wie lässt sich das auf heute übertragen? Die einfachste – und doch gar nicht so einfach zu beherzigende – Empfehlung ist die berühmte goldene Regel: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“ Oder positiv gewendet: „Was du willst, dass man dir tu, das tu auch andern.“ Diese Regel findet sich in leichten Variationen in allen großen Religionen und Philosophien und seit Jahrtausenden schon im Buddhismus.
Würden wir das alle beherzigen, im zwischenmenschlichen Bereich wie in der großen Politik, dann sähe die Welt anders aus. Daran arbeiten wir ja auch beim Projekt Weltethos: an der Besinnung auf diese gemeinsame Basis elementarer Werte von Religionen und Philosophien – beginnend im Kindergarten bis zur Wirtschaft, zur Politik und zu den Religionsgemeinschaften. Im Kern steht immer die Würde jedes einzelnen Menschen. Daran muss sich nach meinem Dafürhalten alles messen lassen. Sie ist unverzichtbar für ein friedliches, ein gedeihliches Zusammenleben von Menschen und Völkern.
Im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine hat Daisaku Ikeda, der inzwischen verstorbene Präsident der buddhistischen Gemeinschaft Soka Gakkai International, geschrieben, dass es nichts Grausameres und Elenderes gebe als den Krieg und man alle nur denkbaren Anstrengungen unternehmen müsse, um Frieden durch Verhandlungen zu erreichen. Was ist Ihre Haltung dazu?
Ich stimme völlig zu, dass Verhandlungen der einzige Weg sind, den Konflikt in der Ukraine zu lösen. Wohlgemerkt den Konflikt. Denn – und das ist eine Krankheit auch in der Debatte seit Beginn dieses Kriegs – es wird viel zu selten unterschieden zwischen Krieg und Konflikt. Doch selbst wenn morgen eine Seite den militärischen Sieg erringen, den Krieg gewinnen würde und die Waffen schweigen würden, wären die dahinterstehenden Konflikte mitnichten gelöst. Wenn sie nicht durch Verhandlungen gelöst werden, werden sie weiter schwelen, bis sie eines Tages – und das ist in der Geschichte vielfach zu beobachten – wieder gewaltsam ausbrechen.
Dass die Forderung nach Verhandlungen wenig gehört wird, hängt einerseits wieder mit dem Glauben an die „erlösende Kraft der Gewalt“ zusammen, der in vielen Köpfen dominiert – weil schlicht kein Wissen darüber vorhanden ist, was gewaltlose Konfliktbearbeitung eigentlich ist, welche Methoden und Möglichkeiten sie umfasst und welche Erfolge sie schon hervorgebracht hat. Politiker und Medienschaffende können sich häufig nichts anderes als eine gewaltsame Konfliktbearbeitung vorstellen. Das erinnert mich an das berühmte Diktum von Paul Watzlawick: „Wer nur einen Hammer hat, für den ist jedes Problem ein Nagel.“ Wer also nur das Mittel der Macht und Gewalt als Form des zumindest außenpolitischen Konfliktaustrags kennt, für den ist dies natürlich immer das letzte Mittel und zwangsläufig die Ultima Ratio.
Verhandlung und Dialog werden häufig als Schwäche angesehen. Aber das ist Unsinn. Sie sind keine Schwäche. Sie sind vernünftig. Es ist sogar eine Stärke, miteinander zu reden. Und wenn es uns darum geht, noch mehr Leid und Zerstörung und Todesopfer zu vermeiden, dann müssen schnellstmöglich Verhandlungen aufgenommen werden. Nur scheint es aktuell, dass beide Seiten sich noch Erfolge durch den militärischen Kampf versprechen, und seien es auch „nur“ Vorteile für spätere Verhandlungen. Und darum läuft es so, wie es schon hundertfach in Kriegen zu beobachten gewesen ist: Es werden weitere Zigtausende Menschen zu Opfern, bis es irgendwann eben doch zu Verhandlungen kommen wird, kommen muss. Warum also nicht gleich? Hier wünsche ich mir noch viel mehr politische Initiativen. Und auch mehr bürgerschaftliches Engagement für Verhandlungen. Das hat schon Wirkung. Das sollten wir nicht unterschätzen.
Können Sie sich vorstellen, wie Sie sich in einer eskalierenden Konfliktsituation verhalten würden? Oder anders gefragt: Wie kann ein Mensch in einer direkten Gewaltsituation friedensstiftend reagieren?
So schwer es fallen mag: Es hilft, wenn ich versuche, einen Gewalttäter und seine Motive zu verstehen. Verstehen ist hier nicht zu verwechseln mit Verständnis im Sinne von entschuldigen, verharmlosen oder gar rechtfertigen. Aber wenn ich mein Gegenüber verstanden habe und seine Beweggründe kenne, kann es eher gelingen, seine Argumente zu entkräften und ihn nicht noch mehr zu provozieren, vielleicht sogar unbewusst und ungewollt. Darum sollte man auf aggressive, konfrontative, provozierende Worte und Taten verzichten.
Das ist freilich in der Theorie einfacher als in der Praxis. Aber man kann es lernen und man kann es einüben. Gewaltlose Kommunikation, gewaltloser Widerstand ist anspruchsvoll. Das ist einem nicht in die Wiege gelegt, den wenigsten von uns jedenfalls. Denn das ist kein passives Hinnehmen oder Erdulden, sondern ein aktives, kreatives und konstruktives Tun.
Man muss dazu sagen: Es ist leider auch nicht immer erfolgreich. 2016 besuchte ein junger Muslim – Faraz Hossain – in Bangladesch ein Café, zusammen mit ein paar ausländischen Freundinnen. Als das Café von einer IS-Miliz gestürmt wurde und allen „Ungläubigen“ der Tod drohte, boten sie ihm, dem Muslim, an, sich in Sicherheit zu bringen. Doch Faraz Hossain blieb bei seinen Freundinnen und Freunden. Er hoffte, sie dadurch schützen zu können, wohl wissend, dass er sein Leben aufs Spiel setzte. Am Ende wurde er mit ihnen zusammen umgebracht.
Das ist wahnsinnig mutig. Es beeindruckt mich genauso wie das Leben von Martin Luther King oder Mahatma Gandhi. Ich kann für mich wirklich nicht die Hand ins Feuer legen, ob ich in einer solchen extremen Situation ähnlich handeln würde. Das kann ich auch von niemandem erwarten; ich kann es nur für mich selbst entscheiden. Ich hoffe aber, dass ich, sollte ich einmal mit Gewalt konfrontiert sein, der Verführung durch den „Mythos von der erlösenden Gewalt“ zu widerstehen vermag. Doch das erfordert unglaubliche Kraft und Mut. Und im Extremfall die Bereitschaft, mit dem eigenen Leben dafür zu bezahlen.
In welcher Weise kann jeder einzelne religiös oder humanistisch motivierte Mensch zum Frieden beitragen?
Es wäre zu einfach, nun zu sagen: Informieren Sie sich! Denn in einem so komplizierten Konflikt wie in der Ukraine, bei so vielen echten oder vermeintlichen Expertinnen und Experten und so unterschiedlichen Einschätzungen ist das zugegebenermaßen schwierig. Wichtiger scheint mir aber, nicht zu schweigen und eigene Fragen und Zweifel zu äußern, gerade im privaten Bereich. Zu zweifeln ist völlig legitim und auch wichtig. Wir müssen ja reden, auch streiten über die richtige Politik. Davon lebt die Demokratie – das unterscheidet sie von Diktaturen! Auch wenn wir nicht die Antworten auf alle Einwände haben, sind unsere Fragen dennoch berechtigt und sollen geäußert werden – genauso wie die der Andersdenkenden.
Wichtig ist dabei, dass wir auf unsere Sprache achten und nicht zur Aggression und Konfrontation beitragen, nicht Hass und Feindbilder fördern. Dass wir unsere Gesprächspartnerinnen und -partner mit ihrer Meinung respektieren und auf eine entmenschlichende Sprache in Bezug auf die Kriegsparteien verzichten. Auch Politiker:innen und Soldat:innen sind Menschen und keine „Bastarde“ oder „Ungeziefer“. Es geht auch nicht gegen „das Böse“ – und wir sind nicht einfach „die Guten“. Sondern es geht gegen eine böse, menschenverachtende Politik. Doch wir sollen Böses nicht mit Bösem vergelten, um nicht mehr und mehr in die Eskalationsspirale zu geraten.
Doch abgesehen von den Kriegen in der Ukraine, im Jemen und an so vielen anderen Orten der Welt können wir alle zu etwas mehr Frieden beitragen, wenn wir in unserem persönlichen Umfeld anfangen. Und vielleicht öfters mal an die „goldene Regel“ denken. Wir selbst, sagte Gandhi so treffend, wir selbst sollen die Veränderung leben, die wir uns für die Welt wünschen.
Vielen Dank für dieses wunderbare Gespräch und die Einsichten, die Sie mit uns geteilt haben!
Der erste Teil dieses Gesprächs stand in BUDDHISMUS aktuell 2/2024. Das Interview erschien erstmals in der Zeitschrift Forum Mai/Juni 2023 der buddhistischen Gemeinschaft Soka Gakkai in Deutschland.
Zum Interviewpartner
Markus Weingardt ist 1969 geboren, hat in Konstanz und Jerusalem Politik- und Verwaltungswissenschaften studiert und zur deutschen Israelpolitik promoviert. Als Friedens- und Konfliktforscher, Coach und Mediator liegt sein Arbeits- und Forschungsschwerpunkt auf der Frage, was Religionen zum Frieden beitragen. Bei der Stiftung Weltethos in Tübingen leitet er sowohl den Bereich Finanzen als auch den Bereich Frieden. Er ist unter anderem Autor des Grundlagenwerks „Religion – Macht – Frieden“, das 2010 von der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlicht wurde und inzwischen vergriffen ist. 2014 erschien sein Buch „Was Frieden schafft – Religiöse Friedensarbeit: Akteure, Beispiele, Methoden“.
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Markus Weingardt
Markus Weingardt ist 1969 geboren, hat in Konstanz und Jerusalem Politik- und Verwaltungswissenschaften studiert und zur deutschen Israelpolitik promoviert. Als Friedens- und Konfliktforscher, Coach und Mediator liegt sein Arbeits- und Forschungsschwerpunkt auf der Frage, was Religionen zum Frieden beitragen. Bei der Stiftung Weltethos in Tübingen leitet er sowohl den Bereich Finanzen als auch den Bereich Frieden. Er ist unter anderem Autor des Grundlagenwerks „Religion – Macht – Frieden“, das 2010 von der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlicht wurde und inzwischen vergriffen ist. 2014 erschien sein Buch „Was Frieden schafft – Religiöse Friedensarbeit: Akteure, Beispiele, Methoden“.