Frieden ist ein Geschehen

Ein Interview mit Markus Weingardt geführt von Anika Limbach und Silke Bender veröffentlicht in der 2/2024 Krieg und Frieden unter der Rubrik Schwerpunkt Krieg und Frieden.

Selbst in scheinbar hoffnungslosen Fällen, in denen Verhandlungen aussichtslos schienen, haben Gespräche schon zu Friedensschlüssen führen können. Das betont der Friedens- und Konfliktforscher Markus Weingardt, Mitarbeiter der Stiftung Weltethos, im Interview.

Anika Limbach und Silke Bender: Wie definieren Sie Frieden?

Markus Weingardt: Ich verstehe Frieden als einen Prozess abnehmender Gewalt und zunehmender Gerechtigkeit. Wobei Gewalt natürlich mehr meint als physische oder militärische Gewalt. Sie umfasst beispielsweise auch strukturelle Gewalt und Diskriminierung. Und Gerechtigkeit bedeutet sowohl wirtschaftliche als auch soziale oder rechtliche Gerechtigkeit, außerdem Fragen der Verteilungs- und Klimagerechtigkeit.

Aber das entscheidende Wort in der Definition ist eigentlich „Prozess“. Frieden ist ein Prozess. Von Gandhi stammt der berühmte Satz: „Es gibt keinen Weg zum Frieden, Frieden ist der Weg.“ Das heißt, Frieden ist kein Zustand, den man einmal erreicht und der dann für alle Zeiten so bleibt, sondern Frieden ist ein Geschehen – so wie Freundschaft, Liebe, Vertrauen, Versöhnung. Es reicht nicht, einmal zu meiner Frau zu sagen: „Ich liebe dich“, und dann muss das gefälligst für alle Zeiten reichen. Meine Liebe muss sich immer wieder zeigen, ganz konkret und ganz praktisch. Man muss sie erleben, sonst bleiben die Worte hohl. Frieden muss sich ereignen, zwischen Menschen und Völkern, und ist darum eine immerwährende Aufgabe und Herausforderung. 

In Ihrem Text „Frieden durch Religion!?“, der in dem von Margot Käßmann und Konstantin Wecker herausgegebenen Buch „Entrüstet Euch!“ erschienen ist, fragen Sie, wo die Stimmen des Friedens in der heutigen Zeit geblieben sind. Warum hören wir nichts von den, wie Sie schreiben, „zahllosen Geschwistern von Gandhi und King“ in den Medien? Wie können die und der Einzelne sich Zugang zu Stimmen des Friedens verschaffen?

Dass man nicht mehr von den Stimmen und Ereignissen des Friedens hört, hat verschiedene Gründe. Zwei Hauptgründe möchte ich nennen.

Zum einen ist dies den Mechanismen der Medienwelt geschuldet. Da gilt vielfach immer noch das Motto: „When it bleeds, it leads.“ Wenn es knallt, raucht und explodiert oder wenn Blut fließt, dann ist das eine „Sensation“, dann ist es eine Meldung wert und füllt die Titelseiten mit großen Bildern und Überschriften. Im Internet wird das durch die Logik der Algorithmen noch massiv verstärkt, auf ganz unheilvolle Weise und mit fatalen Folgen. Wird Gewalt hingegen verhindert – vielleicht durch präventive Arbeit, die oft unscheinbar ist –, wird Gewalt überwunden, wird Frieden gestiftet, dann ist das buchstäblich nicht der Rede wert. Dabei ist dies bei genauer Betrachtung viel sensationeller, weil es eben viel schwieriger, viel komplizierter, viel anspruchsvoller ist und auch viel mehr Mut erfordert.

Ein zweiter wichtiger Grund, dass wir von den Stimmen des Friedens nicht mehr hören, ist aber – und das muss man kritisch-selbstkritisch anmerken –, dass die Stimmen des Friedens nicht laut genug sind. Sie sind nicht so laut, „dass es die Welt nicht überhören kann“, wie Dietrich Bonhoeffer einmal gesagt hat. Das gilt auch und insbesondere für die Religionsgemeinschaften, die in den allermeisten Ländern rund um den Globus immer noch wichtige, große, einflussreiche Akteure und Institutionen sind, die sich Gehör verschaffen könnten. Wenn die Religionsgemeinschaften den Mut hätten, ihre Stimmen laut und deutlich zu erheben, am besten sogar noch in religionsübergreifender Zusammenarbeit, dann könnte das eine enorme Wirkung für den Frieden haben.

Natürlich gibt es diese Stimmen: Erklärungen, Stellungnahmen, Predigten, Pressemeldungen und so weiter. Aber sie sind oft zu leise, auch zu brav. Häufig scheut man eine klare Positionierung – und dann werden solche Wortmeldungen ignoriert oder überhört oder auch übertönt vom Nachrichtengewitter, vom Säbelrasseln oder eben vom Schlachtenlärm. 

Dennoch ist es möglich, von diesen Stimmen des Friedens und den Aktivitäten des Friedens zu erfahren. Auch wenn die Friedensbewegung in Deutschland nicht mehr so einflussreich und groß ist wie in den 1970er- und 1980er-Jahren, gibt es hier viele Friedensinitiativen: kleine und große in kleinen und großen Städten, religiöse wie säkulare. Und es gibt inzwischen auch manche Literatur dazu. Vor allem aber gibt es das Internet, das in diesem Fall ein Segen ist, weil man sich umfassend und schnell informieren kann. Aber: Man muss selbst aktiv werden und danach suchen. Für die großen Medien ist das Thema „Religion und Frieden“ nicht sonderlich relevant, es gilt als nicht gut verkäuflich. 

Was entgeht uns als Leserinnen und Lesern, wenn die Medien nicht berichten? Haben Sie ein Beispiel dafür – ein Ereignis, bei dem Sie denken: Warum berichtet denn keiner darüber? 

Die katholische Laienbewegung und Gemeinschaft Sant’Egidio in Guinea-Bissau ist ein wichtiger Friedensvermittler. Vor einigen Jahren hat sie ein Friedensabkommen vermittelt, das den Weg zu den ersten demokratischen Wahlen nach fünfzig Jahren Bürgerkrieg, Diktatur und so weiter geebnet hat. Das war wahnsinnig wichtig. Doch darüber kam gar nichts in den Medien. Ich habe gründlich gesucht, nicht nur, aber vor allem in den großen Medien. Es wurde einfach nicht berichtet. 

Sie listen in „Entrüstet Euch!“ viele Friedensbewegungen auf der ganzen Welt auf und belegen damit das Friedenspotenzial religiöser Menschen. Gibt es eine Deeskalation, die Sie bei Ihrer Recherche und Forschung besonders bewegt hat?

Mir sind sehr viele beeindruckende Beispiele begegnet und ich mag kaum eines gegen das andere gewichten. Zumal jedes einzelne Beispiel eigentlich einen abendfüllenden Vortrag wert ist, allein schon, um die Menschen zu würdigen – mal sind es Einzelne, mal ganz viele –, die sich mit unglaublich viel Mut, Kreativität, Leidenschaft und Beharrlichkeit für die Überwindung von Gewalt einsetzen. Im sogenannten Kleinen, im eigenen Dorf wie in der großen Politik, manchmal über Jahre, gar Jahrzehnte.

Aber es gibt vielleicht eine Deeskalation, an der sich vieles veranschaulichen lässt, was konstruktive Konfliktbearbeitung eigentlich kennzeichnet und auch auszeichnet. Ich denke an die Vermittlung eines Friedensvertrags im mosambikanischen Bürgerkrieg durch den katholischen Bischof Jaime Goncalves und die schon erwähnte Gemeinschaft Sant’Egidio. Sie begannen ihre Friedensarbeit 1989 – zu einem Zeitpunkt, als der blutige, grausame Krieg mit Millionen Opfern noch auf dem Höhepunkt war. Beide Seiten waren nach fast 13 Jahren noch keineswegs kriegsmüde, sondern im Gegenteil überzeugt davon, den militärischen Sieg erringen oder zumindest den Sieg der Gegenseite verhindern zu können. Verschiedene Vermittlungsversuche waren damals gescheitert, auch ein Versuch der UNO. Der Konflikt galt als hoffnungslos, nicht lösbar. Und doch haben sich die Genannten damit nicht abgefunden. Sie haben das Unmögliche versucht, gegen jede Wahrscheinlichkeit, gegen die Meinung der Politprofis, der Expertinnen und Experten, gegen die Lehrbücher. Sie haben es versucht und waren schließlich nach zwei Jahren erfolgreich.

Es würde jetzt zu weit führen, den langen, aber hochspannenden Weg bis zu diesem Friedensvertrag auszuführen – das habe ich in dem Buch „Religion – Macht – Frieden“ getan. Aber dieser Weg zeigt exemplarisch, was Mediation bedeutet, wie sie funktioniert, was sie zu leisten imstande ist, auf welche Voraussetzungen Vermittlerinnen und Vermittler achten sollten und wie wichtig Vertrauen und auch Zeit in so einem Prozess sind. Er zeigt die Chancen einer Konfliktbearbeitung ohne Zwang und Gewalt. 

Mosambik lehrt uns: Was damals möglich war, kann sich durchaus wiederholen. Auch heute. Auch in heute scheinbar hoffnungslosen Fällen, wo Verhandlungen aussichtslos scheinen oder für aussichtslos erklärt werden. Wo alle sagen, das geht nicht, vergiss es, das ist unmöglich. Es war damals in Mosambik möglich, gegen alle Wahrscheinlichkeit. Warum soll das heute nicht wieder möglich sein? Es gibt dagegen keinen vernünftigen Grund.  

In dem von Ihrem Kollegen Ralf Becker entwickelten Szenario „Sicherheit neu denken“ gibt es das Motto der „Entzauberung des Mythos der Wirksamkeit von Gewalt“. Anhand welcher Erkenntnisse lässt sich aufzeigen, dass Gewalt tatsächlich viel weniger zum Ziel führt als gewaltfreies Handeln?

Der von Ihnen erwähnte Gedanke geht auf den US-Theologen Walter Wink zurück, der stark von Martin Luther King beeinflusst wurde. Er spricht vom „Mythos der erlösenden Gewalt“, vom quasireligiösen Glauben, dass Gewalt rettet, dass Krieg Frieden bringt, dass Gewalt etwas lösen oder uns „erlösen“ kann – von was auch immer. Ein eigentlich uralter Mythos, steinzeitalt, könnte man sagen, aber immer noch, wie Wink sagt, „der tragende Mythos der modernen Welt“ – wie man aktuell wieder sehen kann.

Die Schwierigkeit mit der Gewalt ist, dass sie schnelle Wirkungen verspricht und kurzfristig mitunter auch vordergründig „erfolgreich“ ist. Wenn ich mein Kind mit Gewalt oder Gewaltandrohung zu einem bestimmten Verhalten bewege, kann das kurzfristig funktionieren. Aber langfristig werde ich auf dieser Basis keine gute, angstfreie, vertrauensvolle und – in einem umfassenden Sinn – friedliche Beziehung haben.

Ähnlich gilt das auch für die Politik. Besetzung, also die Unterdrückung ganzer Völker, mag eine Zeit lang mit Gewalt möglich sein, Frieden aber wird man damit niemals erreichen. Das zeigen zahllose Beispiele in der Geschichte. Ein gerechter Frieden, der auf guten Beziehungen, auf Freundschaft, auf Gleichberechtigung beruht, ist immer stabiler und tragfähiger als ein kalter Frieden, der allein auf Sicherheit setzt unter Androhung oder Einsatz von Gewalt.

Der Kalte Krieg war in diesem Sinne ein Kalter Frieden, in dem man auf das sogenannte Gleichgewicht des Schreckens setzte, auf Frieden durch Gewaltandrohung statt durch den Aufbau guter, fairer, respektvoller Beziehungen. Diese Idee vom Gleichgewicht des Schreckens fällt uns jetzt gerade brutal auf die Füße. Der Mythos von der erlösenden Kraft der Gewalt wird einmal mehr entlarvt, und gleichzeitig sehen wir aktuell, wie hartnäckig er sich hält. 

Verteidigung und Widerstand, so legitim sie sind, werden in der Debatte der letzten Zeit vielfach in rein militärischen, gewaltvollen Kategorien gedacht, ob nun von Politikerinnen und Politikern oder der breiten Bevölkerung. Dass ein Kampf, ein Widerstand auch ohne Waffen geführt werden kann und in der Geschichte auch schon vielfach erfolgreich war, ist leider immer noch kaum bekannt.

Ich empfehle dazu immer das leider nur auf Englisch vorliegende, aber wirklich bahnbrechende und auch preisgekrönte Buch „Why Civil Resistance Works“ von den beiden US-Wissenschaftlerinnen Erica Chenoweth und Maria J. Stephan. Sie haben über 300 Aufstände gegen Krieg, Unterdrückung, Besatzung wissenschaftlich fundiert untersucht, darunter rund 200 gewaltsame und 100 gewaltlose Widerstandsbewegungen. Sie sind zu sehr erstaunlichen Ergebnissen gekommen – dass nämlich gewaltloser Widerstand wesentlich effektiver und erfolgreicher ist, wesentlich weniger Opfer, Todesopfer, Zerstörung und Leid mit sich bringt, viel weniger Geld kostet und so weiter.

Wenn man Pazifistinnen und Pazifisten vorwirft, sie seien realitätsfern oder weltfremd, würde ich gerne jedem Politiker oder jeder Bundestagsabgeordneten dieses Buch in die Hand drücken und sagen: „Das ist Realität! Eine ganz andere Realität!“ Die gilt es endlich mal zur Kenntnis zu nehmen. 

Sehen Sie gewaltfreies Handeln eher als ein strategisches Mittel, mit dem man eher zum Ziel gelangt, oder als etwas, das auf grundlegenden Werten, Prinzipien und Haltungen beruht? 

Wer Gewaltfreiheit nur als ein strategisches Mittel einsetzt, wird sie dann aus strategischen Gründen auch wieder beiseitelegen und zur Waffe greifen. Das war ja zum Beispiel ein grundlegender Dissens zwischen Gandhi und dem Indischen Nationalkongress. Gandhis Gewaltlosigkeit entsprang seiner tiefen, auch religiösen Überzeugung und prägte seine gesamte Lebenshaltung. Gewaltlosigkeit zunächst gegenüber seinen unmittelbaren Mitmenschen, im eigenen Dorf, im eigenen Volk und dann auch im Kampf gegen die britische Besatzung. Doch als die Besatzung beendet war, die Briten sich herausgezogen hatten, wollten weite Teile des Indischen Nationalkongresses nichts mehr von Gewaltlosigkeit wissen. Es kam zu schlimmen Kämpfen zwischen Hindus und Muslimen und innerhalb Indiens zu Flucht und Vertreibung. Auch der Kaschmirkonflikt ist bis heute nicht gelöst und schwelt weiter. Strategische oder situativ pragmatische Gewaltlosigkeit wird also den Mythos von der erlösenden Gewalt nicht überwinden. Aber genau darum muss es uns eigentlich gehen.

Weiterführende Literatur und Informationen:

Margot Käßmann, Konstantin Wecker (Hg.): „Entrüstet Euch! Von der bleibenden Kraft des Pazifismus“, bene! Verlag 2022

Maria J. Stephan u. Erica Chenoweth: Why civil resistance works. The strategic logic of nonviolent conflict, Columbia University Press 2011

www.sicherheitneudenken.de
www.weltethos.org

Der zweite Teil dieses Gesprächs wird in BUDDHISMUS aktuell 4/2024 erscheinen.

Das Interview erschien erstmals in der Zeitschrift Forum Mai/Juni 2023 der buddhistischen Gemeinschaft Soka Gakkai in Deutschland. 

Markus Weingardt

Markus Weingardt ist 1969 geboren, hat in Konstanz und Jerusalem Politik- und Verwaltungswissenschaften studiert und zur deutschen Israelpolitik promoviert. Als Friedens- und Konfliktforscher, Coach und Mediator liegt sein Arbeits- und Forschungsschwerpunkt auf der Frage, was Religionen zum Frieden beitragen. Bei der Stiftung Weltethos in Tübingen leitet er sowohl den Bereich Finanzen als auch den Bereich Frieden. Er ist unter anderem Autor des Grundlagenwerks „Religion – Macht – Frieden“, das 2010 von der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlicht wurde und inzwischen vergriffen ist. 2014 erschien sein Buch „Was Frieden schafft – Religiöse Friedensarbeit: Akteure, Beispiele, Methoden“.

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