Eine Wolke wird niemals sterben

Ein Beitrag von Ursula Kogetsu Richard veröffentlicht in der Ausgabe 2022/2 Nahrung unter der Rubrik Aktuell.

Nachruf auf Thich Nhat Hanh (1926 bis 2022). Erstmals bin ich Thich Nhat Hanh 1985 in Plum Village, seinem Praxiszentrum in der Nähe von Bordeaux, begegnet. Zu der Zeit lebte ich in einem holländischen Zen-Zentrum. Die dortige Leiterin war sowohl Schülerin unserer gemeinsamen Zen-Lehrerin Prabhasa Dharma Roshi als auch Dharmacharya (Lehrerin) in der Tradition von Thich Nhat Hanh – und sie nahm mich mit. Damals habe ich noch nicht geahnt, dass Thay, so wurde er von fast allen genannt, der wichtigste spirituelle Lehrer meines Lebens werden sollte, auch wenn ich formal nie seine Schülerin geworden bin und mit anderen Lehrer:innen in anderen Zen-Traditionen geübt habe.

Thich Nhat Hanh, © Plum Village Community of Engaged Buddhism, Inc.

Erstmals bin ich Thich Nhat Hanh 1985 in Plum Village, seinem Praxiszentrum in der Nähe von Bordeaux, begegnet. Zu der Zeit lebte ich in einem holländischen Zen-Zentrum. Die dortige Leiterin war sowohl Schülerin unserer gemeinsamen Zen-Lehrerin Prabhasa Dharma Roshi als auch Dharmacharya (Lehrerin) in der Tradition von Thich Nhat Hanh – und sie nahm mich mit. Damals habe ich noch nicht geahnt, dass Thay, so wurde er von fast allen genannt, der wichtigste spirituelle Lehrer meines Lebens werden sollte, auch wenn ich formal nie seine Schülerin geworden bin und mit anderen Lehrer:innen in anderen Zen-Traditionen geübt habe. 

Als Erstes verliebte ich mich in die Stimme dieses zartgliedrigen, nicht sehr groß gewachsenen Mannes, dann in seine Worte. Seine sanfte, leicht melodiöse Art zu sprechen rührte etwas ganz tief in mir an, und anfangs kamen mir immer die Tränen, wenn ich ihm lauschte. Als ich dann in den Folgejahren viele seiner Bücher übersetzte, herausgab oder lektorierte, hörte ich seine Stimme oft in mir, und das gab mir das Gefühl, den Gehalt seiner Worte zu verstehen und in einer anderen Sprache wiedergeben zu können. 

Er besaß die wunderbare Fähigkeit, auch komplexe buddhistische Inhalte auf eine zugängliche Weise zu beschreiben, oft in poetischen, meist der Natur entlehnten Bildern. In seinem Kommentar zum Herz-Sutrameine erste Übersetzung eines seiner Bücher, beschreibt er, wie ein Blatt im Herbst tanzend zu Boden sinkt, und verdeutlicht so diesen einen kontinuierlichen Lebensstrom, in dem alles sich fortwährend verändert und miteinander auf das Innigste verwoben ist. Als „Intersein“ bezeichnete er das und nannte so auch den von ihm gegründeten Orden für Nonnen, Mönche und Laien. Oder er sprach von der Wolke, die immer wieder ihre Form ändert. „A cloud will never die.“ Diese Worte standen auch in von Thay kalligrafierter Form hinten auf dem Wagen, der seinen Sarg zum Krematorium fuhr. Unglücklicherweise glauben wir Menschen, wir „hätten“ ein Leben, getrennt von anderen, dabei „sind“ wir Leben, und diese falsche Sicht führt zu individuellem und kollektivem Leid sowie zum Raubbau an der Natur, die wir nicht als Mitwelt begreifen, sondern als getrennt von uns existierende Umwelt missdeuten, ausbeuten und zerstören. 

Thay hat viel über das Leiden gesprochen und geschrieben. Aus eigener Erfahrung wusste er nur zu gut, wie sich Leiden anfühlt und welche Prozesse es zu durchlaufen gilt, um es zu verwandeln. In seinen Jahren als junger Mönch erlebte er in den Wirren vor und während des Vietnamkrieges und anfangs auch im Exil so viel Leid, Tod und Zerstörung, dass es anderen das Herz gebrochen hätte. Ihn brachte es dazu, in vielfältiger Weise aktiv zu werden; unter anderem hat er berührende, aufrüttelnde Gedichte geschrieben. 

Viele der von ihm entwickelten Praktiken der Achtsamkeit – die Verankerung im Atem, die Stärkung von Freude und Stabilität durch Meditation, das „Umarmen“ von Leidvollem, die Gehmeditation, die Wichtigkeit gemeinschaftlichen Lebens – waren seine unmittelbare Antwort darauf. Er selbst und seine Mitarbeiter:innen haben diese Instrumente angewendet und erprobt, um mit dem eigenen Leid umzugehen und nicht auszubrennen in der engagierten Arbeit für die Kriegsopfer und die leidende Bevölkerung, bei der sie für keine Krieg führende Seite Partei ergriffen. 

Foto: Engin Akyurt auf unsplash.com

„Der Mensch ist nicht unser Feind.“ An dieser Erkenntnis hat er immer festgehalten, selbst als enge Mitarbeiter:innen getötet wurden. „Unser Feind sind Gier, Hass und Verblendung.“ Und die gilt es zunächst im eigenen Inneren zu verwandeln. Thay hat so glaubwürdig verkörpert, dass man auch tiefes Leiden verwandeln kann, er hat gezeigt, dass gerade das eigene Leid das Material dafür liefert, Freude, Frieden und Einsicht erleben zu können. „Ohne Schlamm, kein Lotos“. Und er war so mitfühlend, diese Prozesse immer und immer wieder in einfachen Worten zu beschreiben. All das hat ihn zu einem der wirkmächtigsten buddhistischen Lehrenden der Gegenwart gemacht.

Als „Vater der Achtsamkeit“ wurde er nie müde, Achtsamkeit als eine lebensverändernde Kraft zu preisen, die nicht nur auf dem Meditationskissen wichtig ist, sondern alle Aspekte unseres individuellen wie gesellschaftlichen Lebens nachhaltig verändern kann. Für Thay war Achtsamkeit tief in die buddhistische Ethik eingebettet, die er als Fünf Achtsamkeitsübungen zeitgemäß formuliert hat. Sie hat aber auch eine ihr innewohnende Kraft, die Missbrauch verhindert, sogar wenn sie mit fragwürdigen Zielsetzungen in Techunternehmen oder im Militär gelehrt wird, davon war er überzeugt. 

Thay hatte große Visionen für das menschliche Zusammenleben, und Gemeinschaftsbildung war ihm dabei ein zentrales Anliegen, zumal sich ihm zufolge Buddha Maitreya, der gemäß traditioneller buddhistischer Weltsicht in der Zukunft mit großem Mitgefühl erscheinen wird, als Gemeinschaft manifestieren wird. Das war auch ein Abschied vom Gurutum, hin zu demokratischen Formen des Miteinanders in spirituellen Gemeinschaften. Er hat viele dafür unabdingbare Praktiken im Bereich achtsamer Kommunikation (liebevolles Sprechen, tiefes Zuhören, Neubeginn, „Blumen wässern“) entwickelt und ermutigte immer wieder dazu, sich um Verständigung zu bemühen, sei es im häuslichen, beruflichen, spirituellen oder gesellschaftlichen Umfeld. 

Thay zeigte, als das Thema Homosexualität im Buddhismus noch weitgehend tabuisiert wurde, auch hier eine große Unvoreingenommenheit. Auf einem Retreat 1998 in den USA antwortet er auf die Frage einer Frau nach seiner Haltung bezüglich Homosexualität: „Wir sind alle verschieden und wir teilen doch denselben Seinsgrund. … Du solltest du selbst sein. … Wenn du als lesbische Frau geboren bist, dann sei eine Lesbe und lass deinen Gott eine lesbische Göttin sein.“ Bei einer anderen Gelegenheit antwortete er: „Sei schön – sei du selbst.“

Seit mehr als 35 Jahren gehe ich meinen Weg mit Thay an meiner Seite. Und ich bewundere ihn heute vielleicht am meisten für das, was mir über die Jahre manchmal auch Probleme bereitet hat: dass er die Dinge so betont einfach und verständlich ausgedrückt hat, um alle mitzunehmen. Welch ein Mitgefühl! Und welche Demut, sich nicht als der Gelehrte zu inszenieren, der er auch war. Derzeit werden Bücher aus seinen frühen vietnamesischen Jahren übersetzt und ihn in den nächsten Jahren auch im Westen als Gelehrten sichtbarer machen. 

„Ich bin durch Dich so ich.“ Diese Gedichtzeile von E. E. Cummings ist mir in den letzten Tagen immer wieder in den Sinn gekommen, wenn ich voller Dankbarkeit an Thay denke. Ja, ich bin durch Thay so ich, und nun ist es auch an mir, seine Kontinuität zu sein, ihn und sein Wirken in meiner Weise fortzuführen.

Ursula Kogetsu Richard

ist Verlegerin der edition steinrich, Autorin und Übersetzerin. Sie war viele Jahre Chefredakteurin von BUDDHISMUS aktuell und wurde im Herbst 2020 von Tanja Palmers zur Zen-Priesterin in der Phönix-Wolken-Sangha ordiniert.

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