Editorial der Ausgabe 2023/3
schon seit etlichen Jahren frage ich mich, warum Menschen es mit dem, was sie seit dem 19. Jahrhundert so gekünstelt und medizinisch-technisch ihre „Sexualität“ nennen, eigentlich so schwer haben. Sexualität wird sprachlich und gedanklich abgetrennt und dann reglementiert, normiert, kanalisiert. Sie muss befreit werden, abgeschafft oder angeschafft, ist Gegenstand heftiger ideologischer Debatten und geradezu irrwitziger Überhöhungen und Verächtlichmachungen.
Wenn ich mich hier in meinem brandenburgischen Garten umschaue, sehe ich: Die meisten Tiere flechten, durchaus auch mal aufgeregt und für Momente entrückt, sexuelle Begegnungen ganz selbstverständlich in ihre Lebensvollzüge ein. Ein charmanter Tanz, ein gemeinsamer Flug, eine kurze Betörung, die Begegnung passiert – und schon ist sie auch wieder vorbei und man putzt das Gefieder oder sammelt ein bisschen Nahrung ein. Anstrengende Ideologie? Weit und breit nicht zu erkennen.
Im Schwerpunkt der vorliegenden Ausgabe gelingt es dem Dharmalehrer Gil Fronsdal auf, wie ich finde, faszinierende Weise, die ganze beladene Schwere aus dem Thema zu nehmen, indem er von einer Perspektive der Würde ausgeht, des würdevollen Menschen und des würdevollen Tuns. Er stellt einfache buddhistisch grundierte Fragen: Tut es uns, in einem umfassenden Sinne, gut? Fügt es der eigenen oder der anderen Person etwas zu? Spalten wir ab oder nehmen wir an? Flüchten wir oder suchen wir Begegnung? Nehmen wir ernst oder wiegeln wir ab? Keine dieser Fragen ist spezifisch für Sexualität; jede lässt sich an anderes Tun ganz genauso stellen. Und das ist der Clou der buddhistischen Perspektive: Das simple Prinzip des heilsamen Handelns, der heilsamen Motivation und Betrachtung muss keinen Lebensbereich abtrennen, verachten oder überh.hen, es kann alle Erfahrung gleich ernst nehmen und in alles Denken, Fühlen und Handeln dieselbe Tiefe und Weisheit strömen lassen – nah am Leben, von ideologischen Verrenkungen befreit.
Was das für andere Aspekte des Schwerpunktthemas bedeutet, zeigen die Autorinnen und Autoren der weiteren Beiträge: Wir lesen in dieser Ausgabe von Begierde und Erkenntnis und von der Entscheidung für das Zölibat. Es geht um die Frage, wie queere Perspektiven den Buddhismus bereichern. Der Rausch der Verliebtheit im Retreat ist ebenso Thema wie die Herzensöffnung – und der reaktionäre Kampf gegen das Weibliche, der unter religiösem Vorzeichen nicht nur den Iran erschüttert, sondern Frauen und ihre Emanzipation weltweit unter Druck setzt.
An dieser Stelle möchte ich einer ehrenamtlichen Unterstützerin gedenken, die Ende April verstorben ist. Hanne Tügel meldete sich vor einigen Monaten bei mir und fragte an, ob es möglich sei, bei BUDDHISMUS aktuell ehrenamtlich zu helfen. Hanne war zwanzig Jahre lang als Journalistin für die Zeitschrift GEO tätig gewesen, kannte also ihr berufliches Handwerk, und sie praktizierte im Netzwerk Tara Libre, kannte also ihren Buddhismus. Gerne habe ich zugesagt, wir haben uns sofort wunderbar verstanden und in den wenigen Monaten, die Hanne für uns Texte auf den Weg gebracht, Manuskripte übersetzt, lektoriert und Ideen beigesteuert hat, war sie überaus hilfreich – freundlich, leise, klug, unglaublich fleißig und effektiv und eine riesige Unterstützung. Als unser erstes persönliches Treffen anstand, im März, teilte sie mir mit, dass eine schwere Krankheit zurückgekehrt und sie nicht reisefähig, aber sehr hoffnungsvoll sei. Im April riss unser Kontakt ab. Im Mai nahm ich besorgt alle Arbeiten, die sie übernommen hatte, wieder zu mir und erfuhr schließlich von ihrem Tod. Einige Texte in dieser Ausgabe sind noch mit dem Verweis auf ihre Mitarbeit gekennzeichnet.
Das ging sehr schnell, liebe Hanne, viel schneller, als du es dir vorgestellt hast. Ich vermisse dich, danke dir sehr für deine gro.zügige Hilfsbereitschaft und wünsche dir eine beschützte Reise durch die Zeit ohne Anfang und ohne Ende.
Haben Sie eine gute Lektüre und schöne Sommertage, herzlich grüßen Sie das Redaktionsteam und Ihre
Susanne Billig,
Chefredakteurin
Susanne Billig
Susanne Billig ist Biologin, Buchautorin, Rundfunkjournalistin (Wissenschaft, Gesellschaft) und Sachbuchkritikerin. Sie ist seit 1988 in Praxis und Theorie mit Buddhismus und interreligiösem Dialog befasst, Kuratoriumsmitglied der Buddhistischen Akademie Berlin-Brandenburg und Chefredakteurin von BUDDHISMUS aktuell.