Editorial der Ausgabe 2017/4

Ein Beitrag von Ursula Kogetsu Richard veröffentlicht in der Ausgabe 2017/4 Erleuchtung unter der Rubrik Editorial.

Viele Menschen, die sich heute für den Buddhismus interessieren, sind mehr an den Methoden und Praktiken als an einer transzendenten Dimension interessiert, von denen sie sich Unterstützung in ihrem konkreten Alltagsleben erhoffen, um darin besser zurechtzukommen und mehr Ruhe, Gelassenheit und Stressfreiheit im Beruflichen wie Privaten zu finden. Zeitgenössische buddhistische Lehrende betonen sehr stark die Alltagstauglichkeit des Buddhismus, und die Achtsamkeit, ob in ihrer säkularisierten oder buddhistischen Variante, scheint ein Garant für die Erfüllung dieses Versprechens. Die Möhre, die noch vor wenigen Jahrzehnten den Namen Erleuchtung trug, heißt heute eher Stressfreiheit oder Glück. Aber diese Pragmatik hat auch ihren Preis, erklärt Ursula Richard in ihrem Editorial.

© Marketa CC

Liebe Leserin, lieber Leser,

Nachdem ich Anfang der 80-er Jahre im Rahmen eines zehntägigen Meditationskurses auf Sri Lanka erstmals dem Buddhismus begegnete und dies als entscheidende Weichenstellung empfand, war mir klar: Ziel buddhistischer Praxis waren Erleuchtung und letztendliche Befreiung. Und das wollte ich auch erreichen. Dazu schien es mir – einer Spät-Achtundsechzigerin – unabdingbar, mich in vollkommen ungewohnte Strukturen und Hierarchien hineinzubegeben und mein eigenes Urteilsvermögen, meine eigenen Werte dafür zumindest eine Zeitlang als potenziell hinderlich beiseitezuschieben. Einer Generation angehörend, die gegen traditionelle Autoritäten und überkommene Hierarchien auf die Barrikaden gegangen war, war ich nun willens, in einem buddhistischen Kontext meinen Platz zu finden als Schülerin, die sich der Autorität einer Zen-Meisterin unterwarf, weil dies die Voraussetzung zu sein schien, das Ziel Erleuchtung zu erreichen. Erleuchtung war die Möhre, die nicht nur vor meiner Nase baumelte und sowohl Richtung als auch Tempo bestimmte. Doch dass ein blindes Folgen vielfach auch in die Irre oder auf Abwege führen kann und das spirituelle Erwachsenwerden nicht gerade befördert, wurde in der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart immer wieder offenkundig.

Erleuchtung, letztendliche Befreiung, der Ausstieg aus dem samsarischen Hamsterrad ist an eine Spiritualität gebunden, die sich als religiös versteht, also letztlich an Buddhismus als Religion. Nun hat aber gerade hier in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Verschiebung stattgefunden. Viele Menschen, die sich heute für den Buddhismus interessieren, sind mehr an den Methoden und Praktiken als an einer transzendenten Dimension interessiert, von denen sie sich Unterstützung in ihrem konkreten Alltagsleben erhoffen, um darin besser zurechtzukommen und mehr Ruhe, Gelassenheit und Stressfreiheit im Beruflichen wie Privaten zu finden. Zeitgenössische buddhistische Lehrende betonen sehr stark die Alltagstauglichkeit des Buddhismus, und die Achtsamkeit, ob in ihrer säkularisierten oder buddhistischen Variante, scheint ein Garant für die Erfüllung dieses Versprechens. Die Möhre, die noch vor wenigen Jahrzehnten den Namen Erleuchtung trug, heißt heute eher Stressfreiheit oder Glück. Das klingt pragmatischer und geerdeter, und ebenso scheint heute auch der Zugang vieler zur Spiritualität zu sein. Man praktiziert, was einem guttut und hilft, transzendente Ziele geraten dabei eher in den Hintergrund. Das verhindert sicher manche Abstürze, manches Sich-Verirren, wie sie bei einer Wegsuche leichter möglich sind, bei der man den eigenen Kompass unbeachtet zuunterst im Rucksack liegen hat und sich einem Bergführer anvertraut, dessen Sprache man nicht kennt, dessen Qualifikation man kaum geprüft hat, von dessen Methoden man im Grunde nichts weiß.

Aber diese Pragmatik hat auch ihren Preis; denn die transzendente Dimension des Buddhismus gerät dabei leicht aus dem Blick. Sich diese zu bewahren, Erleuchtung oder Befreiung für den eigenen Weg weiterhin als mögliche Zielmarken zu haben, und sei es in der Vorstellung, dass alles bereits erleuchtet und befreit ist, ist für viele Menschen auch heute ein wichtiger Grund für die eigene Praxis. Die Herausforderung wird sein, Formen des Lernens und Lehrens zu entwickeln, die den Gehalt der buddhistischen Lehren bewahren und zugleich nicht hinter die Werte unserer westlichen Kultur (Aufklärung, Menschenrechte, Gleichberechtigung der Geschlechter und so weiter) zurückfallen oder davor steckenbleiben. Spirituelle Wegbegleitung, spirituelle Freundschaft, Miteinanderlernen und -praktizieren auf Augenhöhe erscheinen mir zukunftsweisende Vorstellungen zu einer erwachsenen Spiritualität, die nicht mehr kindlichen Erlösungsfantasien nachhängt.

Schaut man sich die Worte des Buddha zu diesem Thema an, kann man im Übrigen entdecken, welch „moderne“ Sicht er vermittelte. In dieser Ausgabe von BUDDHISMUS aktuell finden Sie eine Reihe von Beiträgen, die den Begriff „Erleuchtung“ oder „Erwachen“ aus sehr unterschiedlichen Perspektiven betrachten.

Ich wünsche Ihnen eine inspirierende Lektüre.

Ihre Ursula Richard,
Chefredakteurin

Ursula Kogetsu Richard

ist Verlegerin der edition steinrich, Autorin und Übersetzerin. Sie war viele Jahre Chefredakteurin von BUDDHISMUS aktuell und wurde im Herbst 2020 von Tanja Palmers zur Zen-Priesterin in der Phönix-Wolken-Sangha ordiniert.

Alle Beiträge Ursula Kogetsu Richard