Editorial der Ausgabe 2016/4

Ein Beitrag von Ursula Kogetsu Richard veröffentlicht in der Ausgabe 2016/4 gut leben unter der Rubrik Editorial.

„Gut leben“ ist der Themenschwerpunkt der vorliegenden Ausgabe von BUDDHISMUS aktuell – ein Titel, der sicher unterschiedliche Assoziationen wachruft, vielleicht auch Widerspruch.

Herbstimpressionen | @ Copyright Jack (Flickr).jpg

Liebe Leserin, lieber Leser,

„gut leben“ ist der Themenschwerpunkt der vorliegenden Ausgabe von BUDDHISMUS aktuell – ein Titel, der sicher unterschiedliche Assoziationen wachruft, vielleicht auch Widerspruch. Geht es im Buddhismus nicht primär um die Befreiung von Leid, um Nirvana, was ja Erlöschen bedeutet, um einen Ausstieg aus dem Daseinskreislauf, also um „nicht mehr leben“? Will sich BUDDHISMUS aktuell etwa in die wachsende Zahl von Magazinen einreihen, die in Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Komplexität und Herausforderungen und der daraus resultierenden Verunsicherung vieler Menschen eine Art „WellnessSpiritualität“ propagieren, nach dem Motto: Egal, was in der Welt geschieht, dank meiner buddhistischen/spirituellen Praxis sorge ich dafür, dass es mir gutgeht, ich ein gutes Leben habe? Nein, das ist sicherlich nicht unsere Absicht. Wir sind zutiefst von unser aller Verbundenheit überzeugt, davon, dass alles mit allem zusammenhängt, sich daraus auch eine Verantwortung für das Ganze ableitet und ein solcher Versuch ohnehin vergebliche Liebesmüh wäre.

Der Buddha sagte, dass wir uns selbst ein Licht sein sollten und der vietnamesische Zen-Meister Thich Nhat Hanh sprach von der Insel in uns selbst, zu der wir immer wieder Zuflucht nehmen können. Doch auch Inseln existieren nicht isoliert und für sich selbst; sie werden erst zu Inseln durch das sie umgebende Wasser. Thich Nhat Hanh, über den es in diesem Heft anlässlich seines 90. Geburtstages einen längeren Bericht gibt, sagt nicht, dass wir es uns auf diesen Inseln gemütlich machen und sie nicht mehr verlassen sollten. In seinem Gedicht „Ich werde sagen, ich will alles“ geht es um einen Mönch, der nach vielen leidvollen Erfahrungen das Bedürfnis nach Rückzug hat.

„Gegönnt sei ihm die Zuflucht für tausend Jahre –

Zeit genug, alle Tränen zu trocknen.

Eines Tages aber werde ich kommen

und sein Obdach in Brand setzen, diese kleine Hütte am Berg.

Mein Feuer wird alles zerstören,

sein einziges Floß nach dem Schiffbruch ihm nehmen.“

Doch auch wenn es ein isoliertes Ich nicht gibt, wie Jetsunma Tenzin Palmo in diesem Heft einmal mehr bekräftigt, und es nicht darum geht, die Schutzmauern um diese Fiktion immer höher zu ziehen (was natürlich auch die Sicht immer mehr einschränkt), gibt es das Ich doch als Knotenpunkt eines endlosen, sich durch Raum und Zeit erstreckenden Netzwerks, Leben genannt. Und dieser Knotenpunkt ist immer unser jeweiliger individueller Ausgangspunkt. Ein Ausgangspunkt auch für die Frage nach dem, was für uns persönlich „gut leben“ bedeutet.

Die Religionsphilosophin Ursula Baatz beschreibt in ihrem Beitrag, wie die Frage nach dem „Guten Leben“ die Menschen zu allen Zeiten und in allen Kulturen bewegt hat und zu welchen Schlussfolgerungen und Visionen sie gekommen sind. Diese sind höchst unterschiedlich, drücken sich im „Bruttonationalglück“, das in dem buddhistischen Himalajakönigreich Bhutan seit 1986 Maßstab staatlicher Planung ist, ebenso aus wie im Vivir bien, einem Konzept vom Guten Leben, das in die Verfassungen Boliviens und Ecuadors aufgenommen wurde und auf einer spirituellen Vision der indigenen Andenvölker beruht.

Gut leben berührt immer auch ethische Fragen wie die nach Gut und Böse und unserem Umgang damit. Aus unterschiedlichen Perspektiven beschäftigen sich Karl-Heinz Brodbeck und der US-amerikanische Zen-Meister Zoketsu Norman Fischer mit diesem Bereich.

In der neuen Ausgabe von BUDDHISMUS aktuell kommen aber auch Menschen zu Wort, die sich entweder in besonderen Bereichen engagieren (Gefängnis, Flüchtlingsunterkunft) oder sich in einer besonderen Situation be nden (schwere Krankheit) und die wir gefragt haben, was für sie als buddhistisch Praktizierende in diesen Zusammenhängen „gut leben“ bedeutet.

Liebe Leserin, lieber Leser, ich wünsche mir sehr, dass diese Ausgabe von BUDDHISMUS aktuell Inspirierendes für Sie bereithält und Ihnen Anregungen bietet, vielleicht einmal (wieder) darüber nachzudenken, was für Sie eigentlich „gut leben“ bedeutet.

Ihre Ursula Richard,
Chefredakteurin

Ursula Kogetsu Richard

ist Verlegerin der edition steinrich, Autorin und Übersetzerin. Sie war viele Jahre Chefredakteurin von BUDDHISMUS aktuell und wurde im Herbst 2020 von Tanja Palmers zur Zen-Priesterin in der Phönix-Wolken-Sangha ordiniert.

Alle Beiträge Ursula Kogetsu Richard