Editorial der Ausgabe 2014/4

Ein Beitrag von Ursula Kogetsu Richard veröffentlicht in der Ausgabe 2014/4 Abschied unter der Rubrik Editorial.
Ursula Richard, Chefredakteurin

Liebe Leserin, lieber Leser,

abschied ist das Schwerpunktthema der neuen Buddhismus aktuell. Die Vergänglichkeit und Unbeständigkeit von allem, uns eingeschlossen, ist eines der Kernthemen der buddhistischen Lehre, und in fast jedem buddhistisch inspirierten Buch ist davon die Rede. Die Begriffe „Abschied“ oder „Abschiednehmen“ findet man dagegen seltener. Dabei sind wir bei genauem Hinsehen fortwährend aufgerufen, Abschied zu nehmen: Jede Begegnung ist einzigartig und wird sich so niemals wiederholen; mit unserem Einschlafen am Abend verabschieden wir uns vom Tag, und wir haben gar nicht die Gewissheit, höchstens die Zuversicht, dass wir am Morgen erneut aufwachen. Jeder Augenblick ist in all seiner Flüchtigkeit einzigartig und ohne Wiederholung. Der Sonnenuntergang morgen wird ein anderer sein als der heutige. Und dann gibt es noch die großen Abschiede: Wenn wir das Elternhaus verlassen, wenn wir uns von jemandem trennen, wenn wir einen anderen Beruf ergreifen, wenn wir uns in den Ruhestand verabschieden, wenn wir unseren spirituellen Lehrer verlassen oder sogar die Tradition, in der wir uns zuhause gefühlt haben, wenn jemand stirbt, der uns nahe steht, wenn wir selbst sterben. Wohl endlos ließe sich diese Liste fortsetzen.

Warum ist bei der Allgegenwart von Abschieden so selten davon die Rede? Vielleicht, weil dem Abschiednehmen immer eine gewisse Schwere innewohnt, eine Gemengelage von Traurigkeit, Schmerz, manchmal auch Zorn, Groll, Dankbarkeit, Erleichterung … und wir solche Gefühle nicht mögen? Vielleicht, weil im Buddhismus das Loslassen und das Nicht-Anhaften einen so hohen Stellenwert haben und sich das nicht mit Trauer, Schmerz oder auch Groll zu vertragen scheint? Denn kann man diese Gefühle nicht als Ausdruck der Unfähigkeit, loszulassen und nicht anzuhaften, verstehen? Nicht selten bin ich Menschen begegnet, die sich, das Idealbild eines gelassenen, über allem stehenden buddhistischen Weisen vor Augen, von allen Gefühlen abzutrennen suchten und dies als spirituelle Entwicklung verstanden. Loslassen und Nicht-Anhaften wohnt vielleicht nicht die Schwere des Abschiednehmens inne, wohl aber die Gefahr einer Selbstüberforderung.

Aber noch etwas anderes scheint mir in diesem Zusammenhang wichtig. Abschiednehmen setzt ein Innehalten, ein Sich-Zeit-Nehmen, eine Vergegenwärtigung und Würdigung auch des Vergangenen voraus, und dem geben wir in unserer „schnelllebigen Zeit“ kaum noch Raum. Selbst buddhistische Lehrende führen heute nicht selten ein Leben, das sie von einem Retreat, Vortrag, Gespräch, Workshop, Artikel zum nächsten Retreat … hetzen lässt. Der Philosoph Byung-Chul Han spricht in seinem Buch Der Duft der Zeit davon, dass unsere Lebenszeit immer weniger durch Abschnitte, Schwellen, Abschlüsse und Übergänge strukturiert wird und wir atemlos von einer Gegenwart zur anderen eilen. Wir erleben und tun in diesem getakteten Leben, dieser einseitigen vita activa, so vieles, dass es Byung-Chul Han zufolge nur noch „ein ungegliedertes, richtungsloses Nebeneinander oder Durcheinander von Ereignissen“ gibt. Bewusst erlebte Übergänge, Abschnitte und Abschiede geben aber dem Leben eine bestimmte Richtung, und das bedeutet einen Sinn.

Die neue Ausgabe von Buddhismus aktuell ist ein Plädoyer dafür, dem bewussten Abschiednehmen und den damit verbundenen Gefühlen wieder mehr Raum zu geben, nicht zuletzt als eine Würdigung des Lebens, wie es sich von Moment zu Moment immer neu entfaltet.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine inspirierende Lektüre.

Ihre Ursula Richard,
Chefredakteurin

Ursula Kogetsu Richard

ist Verlegerin der edition steinrich, Autorin und Übersetzerin. Sie war viele Jahre Chefredakteurin von BUDDHISMUS aktuell und wurde im Herbst 2020 von Tanja Palmers zur Zen-Priesterin in der Phönix-Wolken-Sangha ordiniert.

Alle Beiträge Ursula Kogetsu Richard