Editorial der Ausgabe 2014/1
Liebe Leserin, lieber Leser,
Wertschätzung ist etwas, das die meisten von uns durchaus schätzen oder sich zumindest wünschen. In unserer Kultur zählt sie, so mein Eindruck, aber immer noch zu den Qualitäten, die zwar als positiv, doch schnell auch als entbehrlich gelten, wenn es um die „wirklich wichtigen Dinge“ geht: in der Wirtschaft um Leistung und Rendite, in der Schule und Ausbildung um fachliche Qualifikationen, in den Religionen um Transzendenz, Glauben, Weisheit, Mitgefühl, Erlösung und Erleuchtung. Von daher steckt eine Kultur der Wertschätzung in all diesen Bereichen noch sehr in den Kinderschuhen.
Doch scheint sich hier allmählich ein Wandel anzubahnen. Immer deutlicher wird, dass mangelnde Wertschätzung in Beruf, Schule und Privatleben für den Einzelnen wie für die Gesellschaft sehr negative Folgen haben kann: Stresserkrankungen, Burn-out, Depressionen haben oft mehr mit mangelnder Wertschätzung zu tun als mit den sogenannten objektiven Existenzbedingungen. Daher ist eine Kultur der Wertschätzung mittlerweile zu einer Kernfrage unseres Zusammenlebens und der gemeinsamen Gestaltung unserer Gesellschaft geworden.
Welche Beiträge buddhistisch inspirierte Ansätze zu einer solchen Kultur leisten können, ist das Thema der ersten Nummer von Buddhismus aktuell 2014 und wird in verschiedenen Beiträgen und Gesprächen ausgelotet. Verschwiegen wird dabei nicht, dass auch der Umgang innerhalb buddhistischer Kreise nicht immer von gelebter Wertschätzung geprägt ist. Das zeigt: Wertschätzung ist nicht selbstverständlich, liegt uns, aus vielfältigen Gründen, nicht notwendigerweise im Blut, sondern muss als Haltung kultiviert und eingeübt werden, um auch unter nicht immer idealen Bedingungen wirksam zu werden. Dazu ist es notwendig, die Wertschätzung selbst erst einmal ausreichend wertzuschätzen und in ihrer Wichtigkeit zu erkennen sowie zu verstehen, welch wunderbarer Türöffner sie zu Dankbarkeit, Großzügigkeit, Aufmerksamkeit, Mitgefühl und Weisheit ist.
Im letzten Jahr haben wir in Buddhismus aktuell verstärkt ganz unterschiedlichen Positionen zu bestimmten Themen Raum gegeben und zu Diskussionen und Debatten ermutigt. Dies ist Ausdruck sowohl einer Wertschätzung für die Vielfalt der Ansätze als auch der Auffassung, dass nur in einer wertschätzenden Auseinandersetzung Klärung und lebendige Entwicklung möglich sind. Wir leben in der historisch einmaligen Situation, dass wir Zugang zu nahezu allen buddhistischen Traditionen haben. Was für uns heute davon wichtig ist, wie es sich am besten verwurzeln und gedeihen kann, ist ein Prozess, der sorgfältig bedacht und im Austausch miteinander vorangetrieben werden sollte. Dann kann noch deutlicher werden, was der Buddhismus oder vielleicht besser die unterschiedlichen buddhistischen Ansätze zum Wohle der Einzelnen und der Gesellschaft und deren Zukunftsfähigkeit beizutragen haben.
Ich wünsche Ihnen ein inspirierendes, glückliches neues Jahr mit viel gelebter und erfahrener Wertschätzung.
Ihre Ursula Richard,
Chefredakteurin
Ursula Kogetsu Richard
ist Verlegerin der edition steinrich, Autorin und Übersetzerin. Sie war viele Jahre Chefredakteurin von BUDDHISMUS aktuell und wurde im Herbst 2020 von Tanja Palmers zur Zen-Priesterin in der Phönix-Wolken-Sangha ordiniert.