Editorial der Ausgabe 2023/2

Ein Beitrag von Susanne Billig veröffentlicht in der Ausgabe 2023/2 Buddhismus im Westen unter der Rubrik Editorial.

Ende der 1980er-Jahre begann meine Reise in die weite Welt des Buddhismus: staunend, lernend und aufsaugend, aber auch fragend, sortierend und kritisch. 

Es hat allein Jahre gedauert, bis ich auch nur annähernd begreifen konnte, was an den Lehren und Gebräuchen der Gemeinschaft, der ich mich angeschlossen hatte, eher japanisch und eher buddhistisch war. Dazu musste ich ja zunächst einmal verstehen, was japanische Kultur, jenseits der Klischees, ausmacht. Gleichzeitig musste ich lernen, was Buddhismus wohl ist, geschichtlich, philosophisch, praktisch, in den verschiedenen Ländern Asiens, in meiner Gemeinschaft, in anderen Gemeinschaften. Und was sind überhaupt Gemeinschaften? Welchen sozialen Dynamiken unterliegen sie, im Westen, im Osten? Nicht zu vernachlässigen die Ebene der eigenen Person: Was will ich hier, was sollte ich wollen, müsste ich wollen, wozu sollte ich beitragen oder eher nicht beitragen? Oder sollte ich insgesamt weniger wollen und lieber mehr schweigen, nicht wissen, nicht denken? 

Irgendwann tauchte ein Bild in mir auf: Die japanischen Buddhismus-Botinnen und -Boten sind mit einer kostbaren Blume nach Deutschland gekommen. Sie möchten sie einpflanzen, damit ihre Wurzeln nicht vertrocknen und sie in Ruhe anwachsen kann. Debattenfreudige Westlerinnen und Westler stehen rundherum, zupfen an Stängel und Blüte und diskutieren über die bestmögliche Pflanzaktion. Braucht die Blume nicht mehr Sonne? Oder mehr Schatten? Wäre die bessere Erde nicht zwei Meter weiter links oder rechts oder in einer ganz anderen Ecke des Gartens?

Dieses Bild hat mir auf meiner buddhistischen Reise geholfen, zu begreifen, dass meine persönlichen Auseinandersetzungen mit den schwierigen Anteilen des Buddhismus – für mich sind es die patriarchalen, hierarchischen und demokratieabstinenten – zu einem spannenden historischen Prozess gehören, in dem beide Pole, Tradition und Reform, gleichermaßen unverzichtbar sind. Wenn die kostbare Blume nicht in die Erde gelangt, scheitert das Unterfangen. Wenn die Erde die Blume nicht annehmen und zur Fortpflanzung bringen kann, scheitert es auch. Und: Wir Menschen im Westen sind die Erde. 

Gewiss, das Bild hat seine Grenzen. Nicht alle westlichen Buddhistinnen und Buddhisten sind debattenfreudig. Auch in asiatischen Ländern gibt es Reformdebatten, genau genommen seit Beginn des Buddhismus. In den unterschiedlichen Traditionen geschieht der Transfer von Ost nach West auf Dutzende von Weisen und so weiter. Doch eines stimmt für uns alle: In dieser unserer Lebenszeit wandert eine Weltreligion von Ost nach West und sie tut es, indem Menschen sich den Buddhismus anverwandeln, ihn aktiv, in einem lebendigen, individuellen und sozialen Prozess in ihren Herzen und Köpfen verankern. Oder, um es japanisch auszudrücken, im Herzgeist.

Seit diese Zeitschrift existiert, hat es alle paar Jahre Texte und Schwerpunkte zum Buddhismus im Westen gegeben, Standortbestimmungen, Standortverschiebungen. Die Schwerpunkt-Autorinnen und -Autoren dieser Ausgabe sprechen über Demokratie und Diversität, langwierige Erkenntnisprozesse und westliche Instant-Mentalität, den hohen Wert der Wissenschaften und über den Rat, den der Buddhismus einer ratlosen säkularen Gesellschaft geben kann. Autor Christian Dillo zielt hier genau auf die Erkenntnisebenen, die sich öffnen, wenn man das begriffliche Denken beiseitelegt und sich selbst als lebendigen Prozess zu erleben beginnt. Transformative Veränderung, so schreibt der Zen-Lehrer, bedeute in erster Linie „tiefgreifende, körperlich spürbare Veränderung hin zur Lebendigkeit“.

Schritte auf dem Weg. Eines Tages, wenn wir längst gestorben sind, wird es ihn geben, den selbstverständlichen westlichen Buddhismus. Wir sind unterwegs und freuen uns, dass Sie dabei sind. 

Herzlich grüßen Sie das Team von
BUDDHISMUS aktuell und Ihre

Susanne Billig,
Chefredakteurin

Susanne Billig

Susanne Billig ist Biologin, Buchautorin, Rundfunkjournalistin (Wissenschaft, Gesellschaft) und Sachbuchkritikerin. Sie ist seit 1988 in Praxis und Theorie mit Buddhismus und interreligiösem Dialog befasst, Kuratoriumsmitglied der Buddhistischen Akademie Berlin-Brandenburg und Chefredakteurin von BUDDHISMUS aktuell.

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