Die Wurzeln des Konflikts

Ein Interview mit Thierry Dodin geführt von Bhikshu Tenzin Peljor veröffentlicht in der Ausgabe 2013/4 Verbundenheit unter der Rubrik Im Gespräch.
© Friedrich Reg

Tenzin Peljor:Sind die Konflikte, die vor fast einem Jahr in Burma aufgebrochen sind, neu oder wurden sie bisher nur nie beachtet? 

Thierry Dodin: Diese Konflikte sind nicht neu, es gab sie auch zu Zeiten der Militärregierung. Und es ist auch nicht so, dass sie nicht beachtet wurden – man hat sie nur sehr schnell wieder vergessen. Sie flammen immer mal auf, schwächen sich dann wieder ab: Es sind Symptome ungelöster Probleme! Solange diese bestehen, werden auch die Konflikte weiter bestehen.

TP: Wann sind diese Konflikte entstanden? 

TD: Die Konflikte in Burma, auch die in Sri Lanka, das wäre aber jetzt ein anderes Thema, haben ihre Wurzeln hauptsächlich im 19. Jahrhundert, in der Zeit des Kolonialismus. Buddhisten und Muslime haben aber, das muss man einfach wissen, in diesem Teil der Welt eine lange konfliktreiche Geschichte miteinander. Der Buddhismus war einst die vorherrschende Religion in Asien: Er erstreckte sich von Zentralasien bis nach Japan und vom südlichen Sibirien bis nach Indonesien. In der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends drang dann der Islam von Westasien Schritt für Schritt immer weiter nach Osten vor. Der größte muslimische Staat der Welt ist heute Indonesien, und Indonesien war früher buddhistisch und hinduistisch geprägt, ebenso Malaysia. Denken Sie nur an die Tempelanlage von Borobudur.

Auch weite Teile Zentralasiens waren buddhistisch, bis sich der Islam durch arabische Invasionen dort als religiöse Vormacht etablieren konnte. Besonders Länder wie Tadschikistan und Afghanistan – die Buddhastatuen von Bamyan! – waren einmal Hochburgen des Buddhismus. In Indien wird der Untergang des Buddhismus meist muslimischen Invasoren zugeschrieben. Allerdings wissen wir heute, dass die Geschichte viel komplizierter war. Man kann die Muslime nicht allein für das Verschwinden des Buddhismus dort verantwortlich machen, auch wenn sie (vor allem Afghanen und Turkstämme) für die physische Zerstörung der großen Klosterinstitutionen wie Nalanda verantwortlich waren.

Auf einer riesigen geografischen Fläche standen sich Islam und Buddhismus historisch gesehen praktisch immer als Gegner gegenüber. Vom 7. Jahrhundert an bis ins 16., 17. Jahrhundert verschwand der Buddhismus aus ganzen Landstrichen Asiens. Das ist eine historische Tatsache, die das Verhältnis zwischen beiden Religionen bis heute prägt.

Die Expansion des Islam geschah allerdings nicht überall in Form von Invasionen. In Indien und Zentralasien war zwar meistens Gewalt involviert, aber in Südostasien war es ein langsamer Prozess, der von den Hafenstädten ausging – Indonesien ist ja ein Inselstaat und Malaysia eine Halbinsel, und auch in Burma siedeln viele Muslime an der Küste. Es gab einen lebhaften Handel zwischen Ostasien und der muslimischen Welt insbesondere durch arabische Händler. Diese haben sich schon relativ früh in den Hafenstädten Südostasiens niedergelassen und einen Einfluss auf die umliegenden Gebiete ausgeübt. Der Handel hat das maritime Südostasien und seine Gesellschaft sehr transformiert.

Ein wichtiger, aber noch wenig erforschter Bereich ist die Stellung der Frau. In Südostasien scheint sie – besonders in präbuddhistischer Zeit – relativ stark gewesen zu sein. Von Indonesien bis zum heutigen Yunnan (China) findet man immer noch Spuren matriarchalischer Strukturen. In den Häfen hat aber eher die mobilere männliche Bevölkerung gearbeitet, die dann eine Schlüsselrolle bei der Verbreitung des Islam spielte. So wurde der Buddhismus, der mit alten Volkskulten eine synergetische Verbindung eingegangen war, allmählich durch einen sozial und ökonomisch vorangetriebenen Kulturwandel verdrängt.

Hinzu kommt, dass der Buddhismus generell keine Religionsform ist, die auf die Massen zugeht. Die buddhistischen Eliten, ob im Theravada, Mahayana oder Vajrayana – alle drei waren in Südostasien vertreten – kümmern sich nur wenig darum, ob das Volk die Belehrungen versteht. Der Buddhismus hat sich bei den Laien immer eher an gebildete und relativ wohlhabende Menschen gerichtet, die Zeit und Muße hatten, sich mit den großen metaphysischen Fragen, Leiden, Erlösung usw. zu befassen. Für die Massen hat man volksreligiöse Formen wie die präbuddhistische Geisterverehrung toleriert oder gar indische Götter wie Brahma oder Ganesha eingeführt, die greifbarer waren. Andere Religionen – der Islam, der Hinduismus und das Christentum – sind in vielem volksnäher: Sie geben dem Alltag der Menschen eine Struktur und stellen den Einzelnen in ein gesellschaftliches Koordinatensystem. 

Die Konflikte sind nicht religiös motiviert 

TP: Sind denn die gegenwärtigen Konflikte z.B. in Burma überhaupt religiös motiviert? Fast alle Medien haben das bisher suggeriert. 

TD: Nein, das sind keine primär religiös motivierten Konflikte, sie sind ganz klar ethnisch-sozial motiviert. Nach dem nationalen Selbstverständnis der Mehrheit sind Burmesen Buddhisten. Bist du kein Buddhist und lebst du ganz anders, dann kannst du dich sehr schnell ausgeschlossen fühlen – zu Recht oder zu Unrecht. In Burma gibt es nicht nur Konflikte mit den Muslimen, sondern auch mit anderen Minderheiten, die eher christlich (oder animistisch) orientiert sind. Diese schwelen schon lange und verschärften sich durch die Einführung des Christentums unter den sogenannten Hill-Tribes, den Bergstämmen, die auf einem Großteil der Landesfläche im Norden leben. Um sich von den Buddhisten abzugrenzen, haben sie sich dem Christentum der britischen Kolonialherren angeschlossen.

Bei gewaltsamen Konflikten leiden Minderheiten natürlich in besonderem Maße. Das heißt aber nicht, dass die Minderheiten nichts zum Konflikt beigetragen haben. So sind die Rohingyas in Burma in bestimmten Wirtschaftsbereichen recht erfolgreich. Daraus resultiert zum einen, dass sie sich in gewisser Weise überlegen fühlen, und zum anderen, dass ihnen die Mehrheitsbevölkerung mit Neid begegnet. So haben sich die bislang schwersten Ausschreitungen in Burma am Fall eines muslimischen Goldhändlers entzündet, der einer verarmten buddhistischen Familie, die ihren Familienschmuck verkaufen wollte, einen Preis bot, mit dem sie nicht einverstanden war.

Wie gesagt, die Konflikte in Burma sind aufgrund von sozialen Spannungen entstanden. Hier geraten Volksgruppen aneinander, nicht Religionen, auch wenn diese Gruppen ihre Identität über die Religion definieren. Die Kolonialherren, für Burma und Sri Lanka war das Großbritannien, haben die Antagonismen zwischen den einzelnen Volksgruppen ganz bewusst gefördert und für ihre Zwecke genutzt.

Nennen muss man in diesem Zusammenhang auch die Orthodoxierung des Islam, die im Zusammenhang mit dem Kolonialismus stattfand. In vielen Gegenden Asiens war der Islam bis ins 20. Jh. – und ganz im Gegensatz zu seinem heutigen Bild im Westen – eine durchaus flexible Religion, die es verstand, sich harmonisch dem lokalen kulturellen Umfeld anzupassen. Als aber Religionsschüler in den Mittleren Osten gingen und die dortigen Koranschulen besuchten, lernten sie eine strenge, deutlich intolerantere Version des Islams kennen. Diese wurde zum Beispiel von den Wahabiten vertreten, die den Anspruch erheben, den authentischen Islam zu vertreten. Ihre Vormachtstellung geht übrigens auch auf Machtspiele der britischen Kolonialherren zurück. Unter dem Einfluss dieser rigiden Lehren haben die Muslime dann, wenn sie in ihre Heimat zurückkehrten, den lokalen Islam oft völlig transfiguriert. Man kann es sich kaum noch vorstellen, aber in vielen Gegenden Indonesien trugen bis zum 2. Weltkrieg viele Frauen keine Oberbekleidung. 

Die Gewalt kann nicht mit den Lehren des Buddha gerechtfertigt werden 

TP: Lässt sich die Gewalt seitens der Buddhisten in Burma mit den Lehren des Buddha rechtfertigen? 

TD: Grundsätzlich nicht! Die buddhistische Ethik ist weder rigoros noch setzt sie sich als absolut, sondern sie leitet sich vom Zusammenhang von Ursache und Wirkung ab und fügt die Umstände und die Psychologie, insbesondere die Motivation, die einer Handlung zugrunde liegt, hinzu. Nichts gilt ein für alle Mal, jeder Einzelfall ist neu zu prüfen. Grundsätzlich aber gilt, dass Gewalt negatives Karma und Leid mit sich bringt und mehr Probleme schafft, als sie löst. Aber es gibt auch Grenzfälle, in denen Gewaltanwendung als legitim gilt und angewandt werden kann, ja sogar muss, z. B., um größeres Übel abzuwenden. Der Buddhismus geht sehr geschickt und flexibel mit den klassischen moralischen Dilemmas um, und seine Einstellung zur Gewalt hat viel mit dem gesunden Menschenverstand zu tun. 

Allerdings ist die Gewalt, über die wir hier sprechen, die in Burma und Sri Lanka, in keiner Weise mit den Lehren des Buddha zu rechtfertigen. Hier geht es um Gruppenego, um den Zusammenstoß zwischen verschiedenen Volksgruppen. Dem Buddhismus zufolge sollte man ein Problem erkennen, daran arbeiten und es lösen, aber eben nicht mit Gewalt! Hassreden sind mit der Ordensdisziplin für Mönche, dem Vinaya, nicht vereinbar. Interessant ist, dass die Gewalt bisher auch nicht mit buddhistischen Glaubensbekenntnissen gerechtfertigt wird, sondern immer mit sozialen Begründungen wie „die muslimische Bevölkerung wächst zu schnell“ oder „die Muslime nehmen uns unsere Frauen weg“ etc. 

Doch der Buddhismus lässt sich genauso missbrauchen wie andere Religionen 

Wie sehr man den Buddhismus auch schätzen mag, muss man doch erkennen, dass Buddhisten nicht unbedingt die besseren Menschen sind. Wo immer der Buddhismus zum festen Bestandteil von Kulturen geworden ist, wurde auch er für Identitätsstiftung, für Gruppenegoismus und Nationalismus der schlimmsten Art missbraucht. Dabei basiert der Buddhismus auf Reflexion und Einsicht in komplexe Zusammenhänge und nicht auf der Konstruktion von Identitäten, die danach trachtet, sich von anderen Identitäten abzugrenzen, die man dann zerstören und niedermachen muss. Wer das tut, missbraucht den Buddhismus! 

TP: Gibt es viele buddhistische Mönche in Burma, die Gewalt gegen Minderheiten bzw. Muslime unterstützen? Gibt es auch Gegenstimmen von Buddhisten oder Gegenbewegungen? 

TD: In Burma ist die Lage verworren. Die Mönche, die Gewalt gegenüber Muslimen predigen, sind eine kleine Minderheit. Aber die Frage ist natürlich immer, wie einflussreich diese kleine Minderheit ist. Gäbe es keine Probleme und keine Unterstützung durch Teile der Bevölkerung, könnte diese Minderheit auch nichts bewerkstelligen. Ein entschiedenes, kraftvolles Veto, das diesen Mönchen Einhalt gebieten könnte, kann in solch einem Land allerdings nur von anderen buddhistischen Mönchen kommen. Die Staatsmacht wird für Ordnung sorgen, aber mit den Mönchen wird sie sehr vorsichtig umgehen, weil die Gesellschaft sie so hoch verehrt. Mit anderen Worten: Die Hassreden schwingende Minderheit im Sangha kann nur dann wirksam in Schach gehalten werden, wenn die Mehrheit der Mönche Verantwortung übernimmt, ihre Autorität einsetzt. Das ist meiner Ansicht nach ein entscheidender Faktor bei der Lösung des Konfliktes auf der buddhistischen Seite. 

TP: Wie kann sich ein einzelner burmesischer Mönch wie Ashin Wirathu als Führer einer solchen Bewegung aufschwingen, ohne dass ihn seine Glaubensbrüder oder eine buddhistische Autorität stoppen? Auch die Regierung scheint nicht hart durchgreifen zu wollen. 

TD: Nun, der Buddhismus ist eine ziemlich anarchische Religion. Klöster genießen hohe Autonomie. Es gibt kaum übergreifende Organisationen und wenn, dann haben sie keine wirkliche Macht, sind untereinander uneins. Es gibt keine von allen akzeptierte Autorität, die über den ganzen Sangha herrscht und verbindliche Regeln aufstellen und Weisungen geben könnte. Der Dalai Lama z.B. hat gesagt, dass Töten im Namen der Religion „undenkbar“ sei, aber eine solche Aussage hätte viel mehr Kraft, wenn sie von burmesischen Mönchen käme. Mancher Mönch wird schon aus dem Kloster geworfen oder zeitweilig verbannt, weil er zu lange mit einer Frau gesprochen hat! Man kann nur wünschen, solche Strenge würde auch gegenüber Hasspredigern wie Ashin Wirathu angewandt. Die Ordensregeln verbieten ja schon, schlecht über Dritte zu reden.

Was die Regierung betrifft, so gibt es, soweit ich weiß, keine Beweise dafür, dass die gewalttätigen Mönche bei ihren Aktivitäten gegen Muslime vom Staat unterstützt werden – auch wenn dies immer wieder behauptet wird. Die staatlichen Stellen schauen häufig weg, das ist wahr, und sie sind natürlich mit Buddhisten besetzt. Aber man kann keinen direkten Zusammenhang zwischen regierungsnahen Gruppen und denen, die Gewalt verbreiten, feststellen. Auch wenn es in Burma in der Vergangenheit von Regierungsseite Hetze gegen die Rohingyas gab – die gegenwärtige Regierung unterstützt Forderungen von Extremisten nicht, weder das Verbot von Ehen zwischen Muslimen und buddhistischen Frauen noch eine geforderte Geburtenkontrolle für Muslime.

Dazu kommt aber auch, dass in der Presse kaum berichtet wird, wenn mal etwas Positives geschieht. Ruft aber ein buddhistischer Mönch zum Töten von Muslimen auf oder zur Vertreibung aus dem Land, dann geht das durch alle Medien. Das ist ein Problem unserer modernen Zeit: Ausschlaggebend für die Verbreitung von Fakten ist nicht deren Repräsentativität sondern ihre mediale Wirkung. Schließlich muss die Quote stimmen! Hier müssten diejenigen unterstützt werden, die positiv auf die Konflikte einwirken können, und man müsste denen eine Plattform geben, die das tun.

Thierry Dodin

Thierry Dodin, studierte Tibetologie, Ethnologie und Religionswissenschaft. Seine Schwerpunktthemen sind Kulturgeschichte, moderne Geschichte sowie soziale, politische und ökologische Fragen in Tibet, den Ländern des Himalaja und des buddhistischen Kulturkreises. Seit 1990 hat er dazu verschiedene Forschungsprojekte durchgeführt sowie zahlreiche Bücher und Fachartikel publiziert und internationale Konferenzen organisiert. Seit 2001 ist er Direktor des Informationsdienstes TibetInfoNet mit Sitz in London.

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