Die Welt aus einer fürsorglichen Perspektive betrachten

Ein Interview mit Stefano Davide Bettera geführt von Gabriela Frey und Thea Mohr veröffentlicht in der 3/2024 Geist unter der Rubrik Aktuell.

Stefano Davide Bettera ist neuer Präsident der Europäischen Buddhistischen Union. Der Philosoph, Schriftsteller und Journalist lebt in Mailand und spricht im Interview über die Verantwortung des europäischen Buddhismus.

Gabriela Frey und Thea Mohr: Wie sind Sie zum Buddhismus gekommen?

Stefano Bettera: Ich stamme aus einer internationalen Familie und bin mit einem neugierigen und offenen Geist aufgewachsen. Mein buddhistischer Weg verbindet Elemente der Theravada-Tradition, der ich durch Bekanntschaften und Freundschaften mit der sri-lankischen Gemeinschaft sehr verbunden bin, und Elemente des Zen. So hatte ich das Glück und die Ehre, unter meinen ersten Lehrern einen außergewöhnlichen Mann wie Bernie Glassman zu haben, und bin dem von ihm gegründeten Zen-Peacemaker-Orden und dem US-amerikanischen Buddhismus immer noch sehr verbunden. Tatsächlich sind meine buddhistischen Wurzeln überwiegend angelsächsisch und ich fühle mich von der britischen und amerikanischen Herangehensweise an den Dharma sehr angezogen. Es gibt darin eine besondere Frische und eine besondere Art und Weise, Tradition und Moderne zusammenzuhalten – eine wichtige Inspiration, wenn man sich einen westlichen Buddhismus vorstellen möchte.

Warum engagieren Sie sich für die EBU?

Meine EBU-Reise begann vor etwa acht Jahren, als ich als Vertreter der Italienischen Buddhistischen Union an einer Generalversammlung in Wien teilnahm. Ich war sofort beeindruckt von der Internationalität, dem Geist der Offenheit und der Möglichkeit, andere Perspektiven und Erfahrungen kennenzulernen und die nationale Perspektive zu überschreiten. Außerdem spürte ich bei den Menschen dort eine aufrichtige Liebe zum Dharma. 

Welche Rolle sollte der Buddhismus in den kommenden Jahren in der westlichen Gesellschaft einnehmen? Welchen besonderen Beitrag kann er leisten?

Ganz allgemein geht es darum, die Werte des Buddhismus in die europäische Gesellschaft zu tragen. Unsere Verantwortung ist es, diese religiöse und philosophische Tradition, dieses Welt- und Menschenbild zu vertreten. Das bringt zwei Herausforderungen mit sich: Wir müssen darüber nachdenken, wie eine moderne buddhistische Identität aussehen kann, die sich nicht darauf beschränkt, Riten und Denkweisen aus Asien zu kopieren, die dort in anderen kulturellen Kontexten entstanden sind. 

Der Buddhismus muss, so wie er es im Laufe der Geschichte immer getan hat, eine Stimme und eine Form finden, die Menschen in Berlin, London oder Paris anzusprechen vermag. Dazu müssen wir uns auch mit unserer eigenen Kultur auseinandersetzen, die tief im Christentum, in der westlichen Philosophie und westlichen Rechts- und Demokratievorstellungen verwurzelt ist. Anzunehmen, es sei möglich, diese Anteile[CP1]  unserer Identität zu ignorieren, weil das Selbst eine Illusion ist, halte ich für eine voreilige und oberflächliche Sicht der buddhistischen Lehre. Unsere kulturellen Wurzeln haben einen tiefgreifenden Einfluss auf unsere Entscheidungen und unser Handeln – viel stärker, als uns das manchmal bewusst ist. Die Arbeit der EBU kann dazu beitragen, eine westliche buddhistische Identität herauszubilden – als Brücke des Dialogs zwischen einer alten Tradition und dem Geist der Moderne. 

Und die zweite Herausforderung?

Die besteht darin, die Zukunft in den Blick zu nehmen, ohne in die Falle zu tappen, die Vergangenheit auslöschen zu wollen, um Platz für das Neue zu schaffen. Wir müssen uns sehr genau fragen, welche Aspekte der Tradition wichtig sind und welche Elemente wir lieben, für unverzichtbar halten und pflegen möchten. Darum sehe ich eine Aufgabe der EBU auch darin, eine Brücke zwischen den Generationen zu schlagen – zwischen denen, die den Weg vor uns gegangen sind, denen, die ihn jetzt gehen, und denen, die ihn in Zukunft gehen werden. 

Welche Aufgabe möchten Sie sich als EBU-Präsident zu eigen machen?

Der Mensch ist relational, er ist Teil der Welt, der Natur, der Erde, lebt in Beziehung zum Körper, zum Atmen, zum Leben. Dieses Bewusstsein einer tiefen Verbundenheit, die laut der Überlieferungslinien sogar über Zeit und Raum hinausgeht, ist ein großer Teil dessen, wie ich die Rolle des Präsidenten verstehe. Daraus ergibt sich die Verantwortung, für die große EBU-Gemeinschaft und ihre Werte zu sorgen und sie zu betreuen und in diese Fürsorge letztlich die ganze Gesellschaft einzuschließen. 

Wenn Sie mich nach meinen konkreten Vorstellungen fragen, ist mir Bildung ein wichtiges Anliegen, zumal dieses Thema eng mit jungen Menschen, aber auch mit der Familie verbunden ist. Ich werde oft eingeladen und gehe dem auch gerne nach, an Universitäten oder in anderen kulturellen Kontexten Vorträge zu halten oder Treffen zu organisieren zu den Themen, mit denen ich mich hauptsächlich beschäftige – Ethik, Identität, die digitalen Dimensionen der Moderne. 

In einer Gesellschaft, die von wirtschaftlichen und finanziellen Dynamiken und der zunehmenden Digitalisierung beherrscht wird, sind Kinder und Jugendliche besonders gefährdet. Familie und Gemeinschaften wären eigentlich die Orte, an denen die erste Wertevermittlung stattfinden sollte. Doch genau diese Orte zeigen sich heute atomisiert und fragmentiert, wobei wir ehrlich dazusagen müssen, dass sich auch die Religionen einschließlich des Buddhismus keiner besonders guten Gesundheit erfreuen. Die Folge ist, dass sich der Mensch allein, zerbrechlich und ohne Bezugspunkte wiederfindet und gegenüber den großen Herausforderungen – Klimawandel, Kriege, Migration, Dialog zwischen verschiedenen Kulturen und Religionen – umso ohnmächtiger fühlt. 

Das Gegenmittel darf aber nicht Ideologisierung sein.

Genau! Das ist es nicht, was uns der Buddhismus lehrt. Je lauter der mentale Lärm wird, desto unbewusster handeln wir. Meinungsmache und wütende Polarisierung sind große Krankheiten unserer Zeit und führen nur zu einer noch größeren Unfähigkeit, miteinander zu kommunizieren und Beziehungen auf eine freundliche und nicht wertende Weise zu gestalten. 

Der Dharma lehrt uns, durch Meditation und Kontemplation wieder in Kontakt mit dem zu kommen, was wirklich wichtig ist, und die Welt aus einer fürsorglichen Perspektive zu betrachten. Darum müssen wir als Buddhistinnen und Buddhisten die Elemente des Dharma hervorheben, die den Menschen ein anderes Bewusstsein für ihre Rolle in der Welt vermitteln können. Damit meine ich Werte wie Mitgefühl, Güte, ethisches Handeln, aber auch die Praxis der Achtsamkeit und das Verständnis, dass wir alle miteinander verbunden sind und dies weit über eine triviale Solidarität hinausgeht. Solche Werte bilden eine tragfähige Basis, und die Stärke des Buddhismus liegt darin, dass er alle Menschen ansprechen kann. Wir möchten andere ja nicht davon überzeugen, selbst auch Buddhistinnen und Buddhisten zu werden. Das ist unrealistisch und uninteressant. Wir möchten Prozesse in Gang setzen, die Menschen helfen können, Zustände des Unbehagens, der Hilflosigkeit und Zerbrechlichkeit zu heilen. Und das geht alle an!

Weitere Informationen

europeanbuddhistunion.org/lets-create-european-buddhism

stefanobettera.com