Die frühen Schriften – ein gemeinsames Erbe
Die Texte des frühen Buddhismus – etwa die Lehrreden des Buddha und die Hauptregelwerke der Mönche und Nonnen – gehören allen Schulen des Buddhismus gemeinsam. In ihrem Beitrag beschreibt Ayya Kathrin Vimalañani Bhikkhuni, wie sorgfältig dieses Erbe in mehreren Kulturkreisen bewahrt wurde, sodass sich erstaunliche Übereinstimmungen der alten Texte in Pali, Chinesisch, Sanskrit, Tibetisch und verschiedenen indischen Dialekten feststellen lassen. Auf diese Weise wurde die ursprüngliche buddhistische Lehre über Jahrtausende hinweg bewahrt.
Dann sagte der Buddha zum Ehrwürdigen Ananda: „Vielleicht denken einige von euch: ‚Die Darlegungen des Lehrers sind beendet. Jetzt haben wir keinen Lehrer mehr.‘ Aber so solltet ihr es nicht sehen. Die Lehre und die Ordensregeln, die ich gelehrt und dargelegt habe, sollen nach meinem Ableben euer Lehrer sein.“
Dieses Zitat stammt aus dem Mahaparinibbana-Sutta, dem Sutta, das die letzten Tage und Wochen im Leben des Buddha beschreibt und seine letzten Lehren und Anleitungen überliefert. Der Buddha machte sich Gedanken darüber, wie seine Lehre weitergegeben und bewahrt werden könnte, wenn er nicht mehr da sein würde, und hinterließ uns klare Anweisungen für die Praxis ohne ihn. Er ernannte keinen Nachfolger und keinen Leiter des Sangha. Stattdessen hielt er seine Schülerinnen und Schüler dazu an, den Prinzipien des Dhamma und des Vinaya (Ordensregeln) zu folgen, und die von ihm überlieferten Lehrreden als die Lehrer zu betrachten.
Für den frühen Sangha nach dem parinibbana des Buddha (Tod des Buddha und Eingang in das Nibbana/Nirvana) war es daher von größter Wichtigkeit, die Suttas des Buddha so originalgetreu wie möglich zu bewahren. Im Jahr nach seinem Ableben wurde eine Versammlung von mehreren hundert Mönchen einberufen, die seine Lehren und die Regeln der Ordensdisziplin zusammentrugen und systematisierten. Diese Texte wurden auswendig gelernt und in Gruppenrezitationen an die nachfolgenden Generationen weitergegeben. Mehrere Jahrhunderte später schrieb man sie schließlich nieder. Als die Zahl der Anhängerinnen und Anhänger wuchs und sich der Buddhismus ausbreitete, entwickelten sich aus dem relativ einheitlichen Buddhismus der frühen Zeit verschiedene Schulen mit unterschiedlichen Lehrmeinungen. Jede von ihnen erbte ihre eigene Version des frühen Schriftenkanons, die sie dann weiter überlieferte. Viele dieser Schriften existieren bis heute.
Die Paralleltexte: eine gemeinsame Grundlage
Die Texte des frühen Buddhismus bestehen also aus den Lehrreden und Aussprüchen des Buddha und seiner unmittelbaren Schülerinnen und Schülern sowie den Hauptregelwerken der Mönche und Nonnen und einer Anzahl früher Ordenszeremonien. Sie sind nicht nur in der Theravada-Tradition überliefert, sondern gehören allen Schulen des Buddhismus gemeinsam. Sie sind in Pali, aber auch in Chinesisch, Sanskrit, Tibetisch und in anderen indischen Dialekten bewahrt worden. Ein Teil des Palikanons der Theravada-Schule besteht aus diesen Schriften, aber daneben sind sie auch im chinesischen Kanon und diversen anderen Sammlungen enthalten. Auf der Basis dieser frühen Texte, der sogenannten Paralleltexte, haben sich alle Schulen – neben dem Theravada auch der Mahayana und der Vajrayana – in den rund 2 500 Jahren seit der Zeit des Buddha weiterentwickelt.
Auch über diese Weiterentwicklungen und Abweichungen von den ursprünglichen Lehren machte sich der Buddha in seinen letzten Tagen Gedanken und hinterließ uns Anweisungen in den frühen Texten. Im Fall von Unstimmigkeiten oder unterschiedlichen Lehrmeinungen sollte man nicht einem bestimmten Ordinierten, der vielleicht schon besonders lange ordiniert war oder als besonders fortgeschritten in der Praxis galt, und auch nicht einer bestimmten, einflussreichen Gruppe folgen. Stattdessen sollte man deren Lehren mit den Texten des Buddha vergleichen und alles, was damit nicht übereinstimmt, zurückweisen.
ENDE DER LESEPROBE
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Ayya Vimalañani
Arbeitete als Diplomatin an der Deutschen Botschaft in Kuala Lumpur, als sie dort 2011 mit dem Dhamma in Kontakt kam. 2014 wurde sie ordiniert, lebte weltweit in verschiedenen Klöstern und zeitweise als wandernde Nonne. 2018 erhielt sie die höhere Ordination als Bhikkhuni und unterstützt seit mehreren Jahren den Aufbau eines Bhikkhuni-Klosters in Europa.