Das verborgene Licht – Mit den Ahninnen erwachen

Ein Beitrag von Susanne Jushin Dittrich veröffentlicht in der Ausgabe 2021/2 Freude unter der Rubrik Buddhismus Heute.

Seit einigen Jahren nutzen Zen-Praktizierende weltweit ein Buch, „Das verborgene Licht“, in dem die Hauptfiguren und Zen-Kundigen alle weiblichen Geschlechts sind. Auch im deutschsprachigen Raum ist das Buch inzwischen in Übungen und Workshops präsent. Susanne Jushin Dittrich über die Sichtbarkeit von Frauen im Zen und wie „Das verborgene Licht“ Zen-Praktizierende begleitet.

Ryonen verunstaltet ihr Gesicht 

Ryonen Genso war als junge Frau Hofdame der Kaiserin und bekannt für ihre Schönheit und Intelligenz. Als die Kaiserin starb, spürte Ryonen die Unbeständigkeit des Lebens und beschloss, Nonne zu werden. Auf der Suche nach einem Zen-Lehrer reiste sie in die Stadt Edo. Der erste Lehrer wies sie wegen ihrer Schönheit ab. Dann fragte sie Meister Hakuo Dotai, der sie ebenfalls abwies. Er konnte sehen, dass ihr Anliegen aufrichtig war, aber auch er befürchtete, ihre weibliche Erscheinung könne unter den Mönchen in seinem Kloster zu Schwierigkeiten führen. Kurz darauf sah sie ein paar Frauen Stoffe bügeln, griff nach einem heißen Bügeleisen, drückte es sich ins Gesicht und verunstaltete sich. Dann schrieb sie das folgende Gedicht auf die Rückseite eines kleinen Spiegels: 

Meiner Kaiserin dienend, verbrannte ich Räucherwerk, 

um meine erlesene Kleidung zu parfümieren. 

Jetzt, als hauslose Bettlerin, 

verbrenne ich mir das Gesicht, 

um Einlass in den Tempel zu finden. 

Die vier Jahreszeiten fließen so natürlich dahin, 

wer ist das jetzt inmitten dieser Veränderungen?

Sie kehrte zu Hakuo zurück und überreichte ihm das Gedicht. Hakuo nahm sie sofort als Schülerin auf. Als er starb, wurde sie Äbtissin seines Klosters und gründete später ihren eigenen Tempel. Vor ihrem Tod schrieb sie folgendes Gedicht: 

Dieser Herbst ist der sechsundsechzigste, den ich sah.

Noch immer beleuchtet der Mond mein Gesicht. 

Frage mich nicht nach dem Sinn der Lehren – 

Lausche einfach den Pinien und Zedern 

in einer windstillen Nacht.


Auszug aus dem Buch „Das verborgene Licht“

Fast fünfzehn Jahre lang habe ich mit meinem früheren Zen-Meister in der traditionellen Koan-Schulung geübt. Die Protagonisten in diesen Geschichten waren fast immer männliche Zen-Meister und Mönche – Frauen kamen kaum vor. Immer wieder habe ich sie schmerzlich vermisst.

Auch meine jetzige Lehrerin Linda Myoki Lehrhaupt Sensei suchte nach einem weiblichen Rollenvorbild, als sie in den 1980er-Jahren mit Koans praktizierte und es noch nicht viele weibliche voll autorisierte Zen-Lehrerinnen gab. Sie erinnert sich: „In den klassischen Koan-Sammlungen stieß ich nur gelegentlich auf eine Frau als Protagonistin, meistens dargestellt als alt, weise und ohne Namen oder als jung und unerfahren. Ich begann zu verstehen, dass sie im Rahmen einer Tradition mit einer ausgesprochen patriarchalen und darum eklatant einseitigen Sichtweise präsentiert wurden.“

Bahnbrechende Texte wie das Buch „Buddhism after Patriarchy“ der US-amerikanischen Professorin für Religionswissenschaften und praktizierenden Buddhistin Rita M. Gross und weitere wissenschaftliche Arbeiten, die der bis dahin weitgehend unbekannten Geschichte von Frauen im Buddhismus nachforschten, halfen Myoki Sensei, die lebendige und wesentliche Rolle weiblicher Lehrerinnen und Übender auch in der Geschichte des Zen-Buddhismus zu erkennen. „Es war, als ob ich einen ganzen Zweig meiner eigenen Familie entdeckte, von dem ich nicht gewusst hatte, dass er existierte. Damit veränderte sich nicht nur mein Verständnis der Zen-Praxis. Vielmehr merkte ich, dass ein Heilungsprozess stattfand. Sogenannte männliche und weibliche Aspekte dieser Praxis begannen sich gegenseitig zu bereichern. Was getrennt war, wurde ganz und ergänzte sich zugleich in seiner Unterschiedlichkeit.“ 

Seit den 1980er-Jahren macht sich Myoki Sensei dafür stark, dass Frauen auch im Zen eine größere Beachtung erfahren. So bezuschusste sie die deutsche Übersetzung des Buches „ZenFrauen“ von Roshi Myoan Grace Schireson und bot erstmals Retreats zu diesem Thema an. Eine weitere Lücke schloss sich, als die buddhistische Soto-Zen-Gesellschaft in den USA 2010 eine Frauenlinie, die über neunzig weibliche buddhistische Ahninnen enthielt, dokumentierte und fest etablierte – entsprechend der traditionell männlichen Linie von Dharma-Erben, wie sie in jeder Zen-Schule existiert. Verschiedene Zen-Sanghas begannen daraufhin, diese Frauenlinie neben der Männerlinie regelmäßig zu rezitieren. Wenn eine Schülerin oder ein Schüler in einer Jukai-Zeremonie die Bodhisattva-Gebote annimmt, bekommen sie in diesen Sanghas seitdem ein Dokument beider Linien überreicht. 

Zeichnung weiblicher Buddha. Illustriert den Beitrag über das Buch „Das verborgene Licht“, in dem die Hauptfiguren und Zen-Kundigen alle weiblichen Geschlechts sind.

Ein Buch traf einen Nerv

2013 kam dann in den USA das Buch „The Hidden Lamp“ heraus und erschien 2016 auf Deutsch unter dem Titel „Das verborgene Licht. 100 Geschichten erwachter Frauen aus 2500 Jahren, betrachtet von (Zen-)Frauen heute“. Darin findet sich eine Sammlung von 100 Geschichten aus der buddhistischen Tradition, deren zentrale Figuren Frauen sind und in denen es um das Üben und Erwachen von Frauen geht, die mit Familie und Beruf meist mitten im Alltag stehen. Hinzugefügt sind Reflexionen und Interpretationen zeitgenössischer Buddhistinnen, in der deutschen Ausgabe ergänzt um 16 Kommentare aus dem deutschen Sprachraum.

Das Buch hat bei vielen Zen-Praktizierenden einen Nerv getroffen. Übungsgruppen finden sich zusammen, die damit arbeiten. Auch die Herausgeberinnen Zenshin Florence Caplow und Reigetsu Susan Moon nutzen die Zen-Geschichten mit ihren weiblichen Protagonistinnen in den USA vielfach für Dharmavorträge und -workshops. 

Linda Myoki Lehrhaupt Sensei hat die deutsche Ausgabe des „Verborgenen Lichts“ ebenfalls um einen Kommentar bereichert – und nutzt das Buch gemeinsam mit der von ihr geleiteten Zen-Herz-Sangha mittlerweile auch in Deutschland systematisch für das Koan-Studium ihrer Schülerinnen und Schüler. Sie betont: „Als das Buch erschien, war ich begeistert und entschlossen, dass dieser Text eine zentrale Rolle in der Zen-Praxis meiner Sangha spielen sollte. Einige der Geschichten darin gehörten ja bereits zu den traditionellen Koan-Sammlungen. Darum schien es mir naheliegend, die Koan-Arbeit um diese bis dahin verborgenen Koans zu erweitern. Es ist mein tiefster Wunsch, dass ‚Das verborgene Licht‘ eines Tages als eine der traditionellen Koan-Sammlungen anerkannt ist und alle Übenden von seiner Weisheit profitieren.“

Wie eine Tür, die sich öffnet

Wie das wirkt, berichtet meine Dharmaschwester Heike aus der Zen-Herz-Sangha: „Wenn ich mit den Koans aus dem ‚Verborgenen Licht‘ arbeite, kommt mir unweigerlich etwas in den Sinn, was ich die Dharmalehrerin Sylvia Wetzel vor vielen Jahren einmal sinngemäß auf einem Retreat habe sagen hören: Das Tao, das Heilige, das Absolute oder wie immer wir das Nichtnennbare zu benennen versuchen, hat selbstverständlich kein Geschlecht. Und doch wird es uns seit Jahrtausenden mit Bildern und in Worten nähergebracht, die auf etwas Männliches verweisen. Was aber geschieht, wenn wir die Essenz der Weisheit, der Liebe, wenn wir die heiligsten, schönsten, höchsten Qualitäten, die wir uns überhaupt vorzustellen vermögen, in weiblicher Gestalt verkörpert sehen? Was geschieht in Frauen, die auf dem Weg sind, wenn sie Geschichten hören, wenn sie Bilder sehen, wo Erwachen lebendig wird in einem Körper, der ihrem ähnlich ist? Das waren die Fragen, die Sylvia Wetzel in den Raum stellte. Und natürlich macht das für mich einen enormen Unterschied, denn ich empfinde dann so etwas wie eine tiefe leiblich-seelische Resonanz – eine Erleichterung. Wie eine Tür, die sich öffnet.“ 

Männliche Übende bestätigen diese Erfahrung, denn auch sie fühlen sich darin unterstützt, eine einengende Sichtweise verlassen zu können, die der buddhistischen Übung eigentlich zuwiderläuft. So erklärt mein Dharmabruder Albrecht: „Frauen unterscheiden sich von Männern und umgekehrt sind Frauen Männern auch gleich. Gleichheit und eine unendliche Vielfalt existieren gleichzeitig. Das macht es reich und diesen Reichtum erlebe ich auch in unserer Sangha. Koans wie die im ‚Verborgenen Licht‘ sind dabei für mich sehr hilfreich.“

Hier sieht man: Es geht bei der Praxis mit dem „Verborgenen Licht“ nicht ausschließlich darum, die Weisheit von Frauen anzuerkennen. Es geht auch darum, dass der Dharma in seinem ganzen Reichtum nur vermittelt und gelebt werden kann, wenn wir keinen Teil davon beiseiteschieben und entwerten, oder wenn wir Differenz – mit dem Argument, es sei doch alles „leer“ – als Ausdruck des Dharma leugnen.

Das Leben selbst ist unsere Übung

Koans werden, wenn wir damit üben, auf natürliche Weise zu unserem Leben und erinnern uns daran, dass unser Leben selbst unsere Übung ist. Meine Dharmaschwester Martina fühlte sich von den Protagonistinnen im „Verborgenen Licht“ persönlich bestärkt, weil sie sich über Dünkel, Eitelkeiten, anerzogene Demut und selbst über Mut erheben. „Ihr direktes und klares Antworten, ohne zu zögern, ihre humorvolle Weisheit unterstützen mich als Frau, so zu sein, wie ich bin – inmitten des Lebens“, schreibt sie. Besonders deutlich wurde ihr die innige Verbindung zu den Koans, als sie sich einer Hüftoperation unterziehen musste. „Ich lag in dem zielgerichteten Treiben im Operationssaal und die Minuten zogen sich hin. Plötzlich musste ich an das Koan ‚Zongchi und Bodhidarmas Fleisch‘ denken. Darin bittet Bodhidharma die Schülerin Zongchi zu wiederholen, was sie verstanden habe, und sie entgegnet: ‚Es ist wie die Freude, Akshobhya Buddhas Paradies nur einmal und nicht wieder zu sehen.‘“ In diesem Moment habe sie ihren „aufgeregten“ Körper spüren können „wie ein kleines ängstliches Tier“, berichtet Martina. „Ich sah die Sicherheit und Konzentration, mit der die Menschen um mich herum alles vorbereiteten. Ich hörte, wie sie sich scherzhaft über das vergangene Wochenende austauschten und neue Menschen sich mir zuwandten und nach meinem Befinden fragten. Ich war mittendrin und aufgehoben, ganz klar und wach. Welch eine Freude, Buddhas Paradies nur einmal und nie wieder zu sehen – und das immer und immer und immer wieder.“

Ryonens zeitlose Stille

Die eingangs erzählte Geschichte „Ryonen verunstaltet ihr Gesicht“ stammt aus dem Japan des 17. Jahrhunderts und findet sich ebenfalls in dem Buch „Das verborgene Licht“. Als wir uns in der von mir geleiteten Koan-Gruppe mit der ursprünglich schönen Ryonen befassten, die ihr Gesicht verbrannte, um ins Männerkloster aufgenommen zu werden, kamen nach der Kontemplation sehr berührende und erhellende Gedanken und Gefühle zum Ausdruck: Die Sehnsucht, sich so, wie frau eben ist, schön finden zu können; die Wut darüber, wie schwer das sein kann; das Ahnen und Wissen um die zeitlose Schönheit, die allem innewohnt; die Frage nach der eigenen Radikalität; das Erkennen, dass Radikalität entsprechend seiner Wortherkunft bedeutet, bis an die Wurzel zu gehen, also bis an unsere letzten Fragen; das Spüren, dass es nicht geht, „ein bisschen Zen“ zu praktizieren. Und inmitten all dessen schien, wie in Ryonens Gedicht, eine zeitlose Stille auf. Beim nächsten Treffen folgten die Verkörperungen: nichts Kognitives oder nur Emotionales oder gar Ästhetisches war da gefragt, sondern die eigene und grundsätzliche Weisheit durfte in diesem Moment aufscheinen – ein zeitloser Tanz von mutigen Menschen unterwegs. 

 „Wenn es wahrhaftig klar ist, 

dann kann es getanzt werden. 

Es kann gefühlt und ausgedrückt werden.“

Zen-Meister Robert Aitken Roshi in seinem Aufsatz über Koans

Weitere Informationen und Kontakt

Sensei Myoki und Susanne Jushin Dittrich werden ihre Erfahrungen über die Zen-Herz-Sangha hinaus zugänglich machen, und zwar in einem Retreat im Benediktushof vom 26. bis 29. September 2021. Dort wird es sowohl Einzel- als auch Gruppenarbeit mit den Koans des „Verborgenen Lichts“ geben. Bei Interesse werden die Teilnehmer:innen hinterher mit den Lehrerinnen einzeln oder in Gruppen weiterarbeiten können. Dafür sind Online-Koan-Gruppen und bei Bedarf auch Einzelbegleitungen geplant.

Susanne Jushin Dittrich: zagrafing@gmail.com

Website zum Thema Zen und Frauen: „Strahlendes Licht: ZenFrauen unterwegs“: zenfrauen-unterwegs.de

Susanne Jushin Dittrich

Zen-Praxis seit 1999, zunächst bei Rolf Drosten Roshi, seit 2016 bei Linda Myoki Lehrhaupt Sensei. Lehrerin für MBSR und Achtsamkeitsmeditation. In Weiterbildung zur Zen und Achtsamkeitsbegleiterin. Psychotherapeutin.

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