Das Selbst ist kein Sein und kein Nichts, sondern endloser Wandel

Ein Beitrag von Prof. Dr. Karl-Heinz Brodbeck veröffentlicht in der Ausgabe 2017/3 Wer bin ich? unter der Rubrik Wer bin ich?.

Karl-Heinz Brodbeck skizziert die unterschiedlichen Konzepte vom „Selbst“ in der Mahayana-Tradition und zeigt, wie uns abendländische Vorstellungen und die eigenen Meditationserfahrungen zu einem besseren Verständnis verhelfen können.

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Die Frage nach der Lehre vom Selbst im Buddhismus erlaubt keine einfache Antwort. Man kann sogar sagen, dass sich die verschiedenen Schulen – neben eher nachrangigen Fragen – gerade in der Interpretation des Selbst in ihrem Kern unterscheiden.

Die frühe Adaption der Theravada-Schule in Deutschland formulierte bereits einander widersprechende Antworten. Man deutete den Kernbegriff anatta der Lehre des Buddha einerseits als direkte Negation eines Ich, andererseits als Verneinung nur einer falschen Vorstellung vom Ich, das von einem wahren Selbst, das im Nirvana erlangt werden solle, getragen werde. Die erste Vorstellung prägte die Deutsche Philosophie von Hegel bis Nietzsche, die den Buddhismus als reinen Nihilismus deutete. Die zweite wurde von den frühen Übersetzern (Neumann, Grimm und anderen) nahegelegt, insbesondere aber von der Theo- und Anthroposophie zu einem Amalgam mit anderen Religionen in eine Theorie des Höheren Selbst verwandelt, das einflussreiche Verwirrung schuf.Diese Interpretationen haben durchaus in den Texten des Pali-Kanons eine Wurzel. Einmal heißt es, dass „ein Ich und etwas, das dem Ich gehört, in Wahrheit und Wirklichkeit nicht zu finden ist“. Der Buddha nannte deshalb darauf aufbauende Theorien „eine ganz und gar närrische Lehre“ (MN 22). Doch er empfahl auch, man solle bei allen Phänomenen stets denken: „Das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Ich.“ (SN XII, 46) Wenn die Erscheinungswelt nicht zu mir gehört, wenn ich nur darin nichts bin – dann bin ich aber doch auf irgendeine andere, womöglich höhere Weise. In Udana VIII, 6 heißt es denn auch: „Es gibt ein Nichtgeborenes, Nichtgewordenes, Nichtgeschaffenes, Nichtaufgebautes.“ Zwar soll der Glaube an ein Ich eine völlig „närrische“ Auffassung sein. Zugleich wird aber empfohlen, alle Phänomene als „nicht zu mir gehörig“ zu meditieren, denn es gebe ja doch in all dem Werden und Vergehen der Erfahrungen und Dinge ein „Nichtgewordenes“.

Innere Unklarheit in der ursprünglichen Formulierung der Buddhalehre

Es war – neben historischen Ursachen – diese innere Unklarheit in der ursprünglichen Formulierung der Lehre des Buddha, die neue Antworten des Mahayana begünstigte. Doch wer nun hofft, dass in späteren Schulen des Mahayana die Frage nach dem Selbst eindeutig beantwortet wurde, der sieht sich getäuscht. Es tauchten nun neue Fragen auf, die sich wieder in Schulen aufspalteten und organisierten. Die Ich-Grenze wurde im Mitgefühl auf alle Wesen ausgeweitet. Shantideva verneint im Bodhicharyavatara zwar ein vereinzeltes „Selbstgewahren“ (svasamvedana), unterscheidet aber zwischen Absolutem und Relativem. Wenn man die Merkmale der Person und ihrer Erfahrung (die fünf skandhas) untersucht, bemerkt man, dass ein Ich darin nicht zu entdecken ist. Die fünf Skandhas sind leer. Im bekannten Prajnaparamita-Sutra heißt es: „Form ist Leerheit“; ebenso für die anderen vier Skandhas (Gefühl, Wahrnehmung, Gewohnheitsmuster und Bewusstsein). Aus „Es gibt kein Ich“ wurde so schrittweise „Das Ich ist leer“ und schließlich „Das Ich ist Leerheit“. Damit hatte sich die Frage nach dem Selbst in die Frage nach der Leerheit verwandelt – ohne das wirkliche Dilemma der Tradition aufzulösen.

Die Brille von „ist“ und „ist nicht“ abnehmen

Es war Nagarjuna, der diese Frage neu formuliert und neu beantwortet hat. Worum geht es bei dem Problem des Ichs in diesem traditionellen Horizont? Man fragte nach Sein oder Nicht-Sein eines Selbst. Doch bereits diese – westlich gesagt: ontologische – Perspektive bezeichnete Nagarjuna als Irrtum und formulierte dagegen seinen berühmten catuscoti: „Weder Sein noch Nichts, weder beides zugleich noch keines von beiden.“ Das heißt: Wenn man das Wesen der Phänomene verstehen und schließlich sogar erfahren möchte (traditionell „Erleuchtung“ genannt), dann muss man die unterscheidende Brille von „ist“ und „ist nicht“ abnehmen.
Nun hat aber auch der dominante Einfluss Nagarjunas nicht dazu geführt, diese Frage nach dem Selbst gänzlich aufzulösen. Sie wurde nun nur im Begriff „Leerheit“ neu interpretiert. Wichtig wurde hier vor allem das Tathagatagarbha-Sutra, das die Leerheit als Buddha-Natur deutete. Andere Schulen erweiterten diesen Gedanken, kritisierten ihn aber auch. Die an die Nur-Geist-Schule anknüpfenden Theorien deuteten „Leerheit“ als geistigen Urgrund (alaya-vijnana). In der tibetischen Tradition unterscheidet man zudem zwischen einer Leerheit in sich selbst (rangton) und einer Leerheit bloß an äußeren Phänomenen (shängton) …

Ein Wespennest

Ich breche hier ab. Können wir uns im Widerstreit dieser Theorien überhaupt zurechtfinden? Das ist möglich, wenn wir die Erfahrung der abendländischen Tradition nutzen. Leider stechen wir aber auch hier in ein Wespennest widerstreitender Philosophien. Dennoch kann man, reflektiert an der eigenen Meditationserfahrung, einiges klärend sagen, was ich kurz versuchen möchte. Genetik und Hirnforschung, die letztlich alles auf physikalische Prozesse zurückführen, haben mit dem Gedanken, dass es kein substanzielles Ich gibt, überhaupt kein Problem: Diese Wissenschaften sagen vermeintlich genau dasselbe. Doch das ist ein Missverständnis. Es ist hier an eine auch in der europäischen Philosophie deutlich ausgesprochene Erkenntnis zu erinnern: Es gibt kein Objekt ohne Subjekt – und umgekehrt. Der Satz „Ich denke mit dem Gehirn“ ist auch nur ein Gedanke. Alle Gegenstände der Erfahrung, auch der wissenschaftlichen, sind immer zunächst Objekte, also nur das, was ein Beobachter beobachtet. In der Relativitätstheorie und in der Quantenphysik wurde dies anerkannt. Was immer wir beobachten, ist nur etwas Beobachtetes. Der Beobachter erscheint zwar immer auch als Individuum, als Einzelsubjekt.

Teetasse und Raum sind untrennbar

Doch das Subjekt geht weit über das Ich hinaus. Wer „Ich“ zu sich selbst sagt, der spricht mit sich. Die Sprache ist aber das, was die vielen Menschen verbindet. Dasselbe gilt – auch Kant hat das betont – für Raum und Zeit. Ein Raum ohne Beobachter ist ein sinnloser Begriff. Unmittelbar erfahrbar bemerken wir am Raum, dass uns hier etwas verbindet, das sowohl in der inneren Anschauung wie in der äußeren Erfahrung vorausgesetzt ist. Zwar ist der Raum nicht die Buddha-Natur, auch wenn einige buddhistische Lehrer Raum und Nirvana fast gleichsetzen. Doch verweist uns diese alltägliche Erfahrung, dass alle Phänomene nur in einem Worin erscheinen, auf das, was der Begriff der Buddha-Natur bezeichnet. Dieses Worin der Erscheinungen ist unabweisbar und allen Menschen und Dingen gemeinsam. Es ist für uns untrennbar mit dem Gewahren und der Achtsamkeit verbunden. In diesem Worin sind alle Dinge und Lebewesen verschränkt, wechselseitig abhängig (pratityasamutpada).
Ein Beispiel: Eine Teetasse kann man nicht von dem Raum, den sie einnimmt, trennen. Der Raum gewährt der Teetasse erst das Erscheinen. Ebenso steht es um andere Aspekte dieses Worin: Seine Offenheit, seine Leerheit (nur ein leerer Raum kann etwas einräumen) oder seine kognitive Natur. Man kann deshalb von einem „Raum der Achtsamkeit“ sprechen, in dem alle Dinge und Menschen „selbst-verständlich“ erscheinen. Ein anderer Name dafür ist „Buddha-Natur“ oder „Alaya“. Dieses Worin ist nicht höher (wie ein Gott) oder niedriger (wie die Materie) als das, was in ihm erscheint. Es ist nicht individuell, aber doch stets mit uns selbst „da“, auch wenn wir es nicht beachten wie den Raum bei einer Tasse oder die Stille hinter der Musik.
Was im Mahayana also über das Selbst gedacht wurde, ist durchaus auch aus einer abendländischen Perspektive verständlich. Die Vergänglichkeit aller Phänomene, aller Erfahrungen verleitet dazu, etwas Dauerhaftes zu suchen. Doch dieser Versuch muss immer wieder, schließlich endgültig und todsicher, scheitern. Unsere privaten Schrullen als ewiges Ich festhalten zu wollen, ist tatsächlich ein „närrischer Gedanke“. Wir können auch die Luft nicht festhalten. Aber wir können atmen. Die Sprache gibt einen Fingerzeig: „Atem“ und „Atman“ (= Selbst) haben dieselbe Wortwurzel. Das Selbst ist kein Sein und kein Nichts, sondern endloser Wandel: „Mein eigentliches Wesen ist die Zeit selbst, nicht ein Etwas in der Zeit.“ (Jikme Lingpa)

Prof. Dr. Karl-Heinz Brodbeck

Karl-Heinz Brodbeck, Prof. Dr., ist Dharma-Praktizierender seit 35 Jahren; Mitglied des wissenschaftlichen Beirats im Tibethaus Frankfurt. Bis 2014 war er Professor für Volkswirtschaftslehre, Statistik und Kreativitätstechniken an der Fachhochschule für Angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt und an der Hochschule für Politik an der Universität München. Er ist Autor zahlreicher Bücher.

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