Das Licht der Hoffnung und die Möglichkeit der Heilung
Viel ist in der letzten Zeit von (unheilsamen) Verstrickungen zwischen Lehrern und Schülerinnen oder Schülern die Rede. Die Autorin des folgenden Beitrags zeigt anhand ihrer persönlichen Erfahrungen auf, was sich für sie im Prozess der Verarbeitung einer solchen Verstrickung als hilfreich erwiesen hat und welche institutionelle Unterstützung sie sich für Betroffene wünscht.
Wie schreibt man eine leidvolle Geschichte, ohne anzuklagen? Wie schreibt man über Verletzungen, ohne Vorwürfe zu machen? Über ein Trauma, ohne Schuld zuzuweisen? Ich weiß es nicht, aber ich will es versuchen. Denn wie sollten wir Mitgefühl entwickeln, wenn wir unser Leid nicht miteinander teilen? Wie soll etwas heilen, wenn wir es abspalten? Wie sollen Bewusstheit und Verständnis entstehen, wenn wir uns abwenden von dem Unfassbaren? Wie sollen wir gemeinsam etwas bewirken, wenn wir unsere Geschichte hinter einer scheinbaren Normalität verbergen und einfach so weitermachen, als wäre nichts geschehen?
Es ist nicht wichtig, wo oder wann sich die folgende Geschichte zugetragen hat. Sie ereignet sich so oder ganz ähnlich vermutlich gerade jetzt irgendwo auf unserer Erde. Wichtig ist allein die Botschaft, die aus ihr spricht. Diese möge einen winzigen heilsamen Teil zu notwendigen strukturellen Veränderungen in spirituellen Gemeinschaften unserer Gesellschaft beitragen und Menschen, in der Regel Frauen, die Ähnliches erlebt haben, auf dem Weg der Heilung Mut machen.
Es ist die Geschichte einer Frau, die sich im Netz möglicher Verstrickungen zwischen Lehrern und Schülerinnen oder Schülern verfangen hat wie eine Fliege im Spinnennetz. In der Begegnung mit dem unerlösten Schatten eines Lehrers hat sie sich auf Grund ihrer eigenen biografischen Narben verloren und war vorübergehend im freien Fall. Aus einer traumatischen Erfahrung windet sie sich nun heraus wie eine sich häutende Schlange, erfindet ihr Leben neu und erlebt, was es mit dem Lotos und dem Schlamm auf sich hat …
Es ist die Geschichte eines charismatischen, intelligenten Mannes und einer kraftvollen, lebenserfahrenen Frau, die beide auf dem Weg der Bewältigung tiefer Verletzungen in ihrer frühen Lebensphase die heilsame Kraft des Geistes entdeckt und auf unterschiedlichen spirituellen Wegen zu nutzen gelernt haben. Es ist die Geschichte zwischen einem Meditationslehrer und einer Seminarteilnehmerin. Es ist meine Geschichte.
Während eines Kurses, ohne uns zu kennen, erlaubten wir unseren sich begegnenden Blicken schon bald ein verführerisches, verborgenes und machtvolles Spiel, welches den Raum für unbegrenzte Projektionen eröffnete, ohne durch eine ernüchternde Realität gestört zu werden. Die Rollen in denen wir uns Jahre später verlieren würden, entfalteten ihre unbewusste Anziehungskraft bereits in diesen ersten Tagen. Er, der väterliche, spirituelle Retter – ich, das sehnsüchtige Mädchen. Ich, die freie, lebendige Frau und schützende Mutter – er, der verloren wirkende, suchende Junge.
Meine seit Jahrzehnten unerfüllte Sehnsucht nach einem spirituellen Lebensbegleiter bahnte den weiteren Weg. Ich war angezogen, zugleich aber auch verwirrt von seinen sich überlappenden Rollen und Lebensfeldern: der spirituelle Lehrer, der charmante Privatmann, der engagierte Begleiter von hilfsuchenden Frauen.
Während des Kurses äußerte er den Wunsch nach einem privaten Treffen, was bei mir ambivalente Gefühle hervorrief, doch der Verlockung, dem geschätzten Lehrer und wunderbaren Mann so nahe zu sein, wollte ich nicht widerstehen. So erwiderte ich auch sein starkes Bedürfnis nach körperlicher Nähe, obwohl ich dies als missbräuchlich empfand und mich dabei zwar einerseits beschämt, andererseits aber wie „auserwählt“ fühlte.
Sind es Mangelgefühle, biografische Scharten?
Erst Jahre später erkannte ich, dass ich bereits in diesen ersten unstimmigen Momenten entscheidende Weichen gestellt hatte. In der noch unbewussten Erwartung, durch die Hingabe an diesen Lehrer über mich selbst hinauszuwachsen und in etwas „Größeres“ hinein befreit zu werden, überging ich meinen Grundsatz, mich klar zu verhalten und nicht zu verstricken, und wurde mir selbst untreu. Und im weiteren Verlauf legte ich unmerklich den Keim für das nachfolgende „spirituelle oder Hingabe-Trauma“, das mein Leben grundlegend verändern sollte.
Ich erlaube mir, an dieser Stelle die Frage einzuschieben:
Wie viele unter uns Schülerinnen, Schülern und Lehrenden sind tatsächlich ausschließlich wegen der Erkenntnis auf dem Weg des Dharma? Sind es nicht, neben dem Wunsch zu erwachen, bei den meisten von uns auch Mangelgefühle oder biografische Scharten, die uns in den spirituellen Erfahrungsraum hineinbewegen? Die Sehnsucht nach behüteter Gemeinschaft, die Flucht vor Einsamkeit, das Bedürfnis, fraglos angenommen zu werden, der Wunsch, Verantwortung abzugeben und an der Hand genommen zu werden? Oder auch: Subtile Machtbedürfnisse? Der Wunsch, anderen ein Retter zu sein? Der Hunger nach Bewunderung und Anhängerschaft? Die Unfähigkeit, einfach nur eine unter vielen zu sein?
Ein Seminar, in dem man stundenlang dem Lehrer zu Füßen sitzt, ist für Lehrende und Schülerinnen und Schüler, die dafür anfällig sind, ein idealer Nährboden für Projektionen aller Art, und unmerklich spinnen womöglich im Hintergrund des Bewusstseins ungelöste Themen das verhängnisvolle Netz einer beginnenden Verstrickung, lenken vom Wesentlichen ab und können uns auf Abwege führen.
Doch nun wieder zur Geschichte, die sich aus dem anfänglichen Traum in ein Trauma verwandelte:
In der Zeit nach dem Seminar hob mich seine Zuwendung wie eine Flutwelle über mich hinaus. Wir erlebten das Glück einer beginnenden Liebe und entschieden uns für einen gemeinsamen Lebensweg. Nun brachten schon bald intensive Nähe und Liebe unsere jeweiligen Schatten und Kindheitstraumata hervor, die in Jahren spiritueller Praxis und therapeutischer Arbeit unbearbeitet geblieben waren. Im Anhaften an der Wunschvorstellung nach einem souveränen spirituellen Lebensbegleiter fand die Tatsache in meiner Realität keinen Platz, dass der Mann, der für mich den Dharma repräsentierte, wiederholt vor der innerlich empfundenen Übermacht schwieriger Erfahrungen aus unserer Ehe floh und dieses Weglaufen vor Schwierigkeiten als seine persönliche Freiheit definierte. In falsch verstandenem Mitgefühl und in der Hoffnung, dass meine spirituelle Kraft durch Hingabe wachsen und meine Liebe Heilung hervorbringen würde, setzte ich mich, anstatt mich abzugrenzen, Verhaltensweisen aus, die ich vorher in meinem Leben nicht geduldet hätte und deren verletzende Wirkung ungeschützt in mich eindrang.
Wiederholte Gesprächsverweigerung im Konfliktfall, subtile Bedrohung und schließlich auch Ausgrenzung seitens der Sangha hinterließen bei mir tiefe und bleibende Spuren und im weiteren Verlauf eine traumatische Verarbeitung. Die traumatisierenden Erfahrungen waren schließlich in mir erstarrt und verwundeten mich in ständiger Wiederholung von innen her.
Licht der Hoffnung
Nun ist es absolut nicht selbstverständlich, was ich dann erleben durfte: Mit professioneller therapeutischer Hilfe lernte ich, meinen Wahrnehmungen wieder zu trauen und meine idealisierenden Projektionen zu Gunsten einer realistischen Sicht aufzugeben. Langsam fand ich wieder in mein Leben hinein und zu meiner Kraft zurück.
Mit Hilfe der spirituellen Praxis ist es mir inzwischen möglich, das gewaltige, in der Traumaenergie gebundene Potential immer wieder herauszulösen und im besten Sinne für meine Entwicklung zu nutzen. Es erfordert einerseits Mut und schenkt mir andererseits Zuversicht, innerhalb der Meditation nicht an der Geschichte und ihrer Bedeutung festzuhalten, sondern in der vertrauensvollen Zufluchtnahme die empfundene Bedrohung und innere Erstarrung in den mit liebevoller Güte, Mitgefühl und Gleichmut durchtränkten Gewahrseinsraum hineinzuentspannen, mich dem Weiterfließen der Phänomene hinzugeben und deren Werden und Vergehen in der Einsichtsmeditation als befreite Energie zu erfahren. Diese Meditationserfahrungen perforieren nach und nach die Matrix des Traumas und lassen das Licht der Hoffnung und die Möglichkeit der Heilung hindurch scheinen. (Anm.: Diese Darstellungen implizieren keine allgemeingültigen Hinweise zur Heilung eines spirituellen Traumas sondern beschreiben ausschließlich meinen persönlichen Weg.)
Und so kann ich mich nun meiner Geschichte wie einem Spiegel gegenüberstellen, den Blick weiten und mich der Frage widmen, wie wir innerhalb spiritueller Gemeinschaften mit der immer gegenwärtigen Möglichkeit von Grenzüberschreitungen, emotionalen Verletzungen oder auch Missbrauch umgehen können. Denn häufig verlieren Menschen aufgrund vergleichbarer Erfahrungen ihren Platz in der Gemeinschaft, das Band zum Lehrer zerreißt und die Fähigkeit zur vollkommenen Hingabe an Buddha, Dharma und Sangha weicht einem tiefen Misstrauen, Ängsten oder einer Erstarrung, die den Zugang zum eigenen Herzen verschließt.
Wir alle können nicht vermeiden, dass unsere Geschichten innere Bilder weben, Sehnsüchte wecken oder unseren klaren Blick trüben. Wohl aber können wir durch klare Strukturen und bewusstes Einüben ethischen Verhaltens zu verhindern suchen, dass dieses innere Weben äußere verhängnisvolle Realitäten schafft. Wie schon andere vor mir spreche ich mich deshalb zum Schutze aller Beteiligten für unmissverständlich gekennzeichnete, klare räumliche Verhältnisse in Seminar- oder Retreat-Häusern aus. Des Weiteren für ein nicht verstrickendes Rollenverhalten von Lehrenden, Schülerinnen und Schülern sowie den beidseitigen Verzicht auf jegliche Anbahnung einer romantischen, körperlichen, intimen, sexuellen oder betreuenden Beziehung innerhalb eines Seminars, Retreats oder in den ersten Monaten danach. Wir sollten unser aller Bewusstsein in diese kritische Zone hineinentwickeln und zu unserem eigenen und zu unserer Lehrer Schutz den Seminar- und Retreat-Ausschreibungen entsprechende Ethikregeln anhängen, welchen bei einer Anmeldung zugestimmt werden muss und die uns immer wieder ans Wesentliche erinnern. Hier sei auf die vielfach zitierten Ethikregeln von Spirit Rock verwiesen, die um einen Verhaltenskodex für Schüler und Schülerinnen untereinander wie auch deren Lehrern und Lehrerinnen gegenüber erweitert werden sollten.
Empathisch antworten
Nach den bis jetzt leider immer wieder versandenden Ansätzen innerhalb der DBU betone ich zudem einmal mehr die Notwendigkeit des Amts einer Ombudsperson innerhalb der Organisation spiritueller Gemeinschaften. Hätte ich bei jenem kritischen Vorfall im Seminar gewusst, dass es eine unparteiische Vertrauensperson gibt, die sowohl meine Erfahrung hört und ernst nimmt als auch den Lehrer in dieser Sache vertritt, hätte mich das zwar nicht vor der Erfahrung, wohl aber vor der traumatischen Verarbeitung bewahrt.
Sinn und Zweck einer Ombudsperson ist zunächst einmal vergleichbar mit einer Videokamera in Supermärkten, die die Umgebung neutral wahrnimmt und damit eine starke Rolle bei der Verhütung von Diebstählen spielt. Wenn gesehen werden und ans Licht kommen kann, was geschieht, hat das an sich schon einen hohen prophylaktischen Wert. Es schafft Bewusstheit, fördert Verantwortlichkeit und bringt damit allen Beteiligten Schutz.
Des Weiteren könnte eine Ombuds- oder Vertrauensperson die verstörende Erfahrung einer Person innerhalb der spirituellen Gemeinschaft zeitnah validieren und empathisch beantworten, was eine natürliche Verarbeitung ermöglichen und damit Traumatisierungen verhüten könnte. Als niederschwellige Helferin könnte sie nach dieser ersten Hilfe bei Bedarf Betroffene an ein Netzwerk professioneller Helfender weiterleiten.
Das Amt einer Ombudsperson würde den Mitgliedern der Gemeinschaft bewusst machen, dass wir uns in buddhistischen Kreisen nicht in einem idealen Umfeld befinden, in das wir vor der „bösen Welt“ fliehen können, und dass wir auch in diesen Kreisen nicht von der Auseinandersetzung mit den Schattenseiten unseres Menschseins entbunden sind. Die äußere Sangha kann nur dann ein Ort der Zuflucht sein, wenn es dort keine gefahrenträchtigen Dunkelbereiche gibt. Gefahren kann man zwar nicht ausschließen, wohl aber Licht in die Dunkelzone bringen.
Die Idee der Erweiterung spiritueller Gemeinschaften um eine Ombudsperson führt unweigerlich zur Kollision mit den bekannten patriarchalen und hierarchischen Traditionen und erfordert Mut zum strukturellen Wandel. Wir alle sind mit dieser Möglichkeit aufgefordert, über das Gewohnte hinauszudenken und uns der Unbequemlichkeit zu stellen, die jede Neuerung mit sich bringt. Diese offene Haltung und Bereitschaft zum Wandel erscheint mir in hohem Maße „buddhistisch“.
Lehrerinnen und Lehrer qualifizieren
Gerade jetzt, wo die Wellen in dieser Hinsicht in der buddhistischen Welt hoch schlagen, ist die Zeit günstig, den Keim für eine solche konstituierende Neuerung zu legen, die sowohl „top down“ von den buddhistischen Führungspersönlichkeiten und der DBU empfohlen, als auch „bottom up“ durch Motivation und Tatkraft von Betroffenen vorangetrieben werden sollte. Letztere könnten so auch ihre belastenden Erfahrungen auf positive Art verarbeiten und kreative Energien freisetzen.
Meine Zukunftsvision ist, dass für ein solches Amt ein Qualifizierungslehrgang entwickelt wird und ein integrer Lehrer, eine integre Lehrerin im Hintergrund, unterstützt durch Supervision, sowie ein assoziiertes Netzwerk professioneller Helferinnen und Helfer (Therapeuten/Ärztinnen) zum „Inventar“ einer jeden größeren spirituellen Gemeinschaft gehört.
Mit dieser Vision schließe ich und bin dankbar für meine Geschichte und das Geschenk des posttraumatischen Wachstums. Der Pfau verwandelt das Gift der Beeren in die leuchtenden Farben seiner Schwanzfedern. Der Lotos, der im Schlamm wurzelt, möge irgendwann knospen und blühen. Mögen wir unsere Erfahrungen nutzen lernen und dem Wohle aller widmen.
„Spirituelles Trauma“
Trauma kann definiert werden als tatsächliche oder wahrgenommene Bedrohung der körperlichen und psychischen Unversehrtheit einer Person, die mit erlebter Ohnmacht, Hilf- und Schutzlosigkeit einhergeht, die Bewältigungsmöglichkeiten der betroffenen Person übersteigt und dadurch ihr Selbst- und Weltbild tiefgreifend erschüttert. Bei einem „spirituellen“ oder „Hingabe-Trauma“ hingegen werden in Erwartung eines spirituellen Gewinns vorhandene Ressourcen nicht genutzt und mögliche Strategien zu Abgrenzung, Selbstschutz und Bewältigung bewusst nicht eingesetzt. Vollkommene Hingabe setzt voraus, dass man vorübergehend auf jeglichen Schutz und Rückhalt verzichtet und sich restlos anvertraut. In diese schutzlose Öffnung hinein können Verletzungen ungehindert eindringen und zur traumatischen Verarbeitung führen.
Eva-Maria Bergauf
Dieser Name ist ein Pseudonym, der richtige Name ist der Redaktion bekannt.