Das Lebensrad – Wach werden in schwierigen Zeiten
Das Lebensrad, Bhavachakra, findet sich oft im Eingangsbereich tibetisch-buddhistischer Tempel. Dort mahnt es die Menschen, ihre weltliche Suche nach Glück und Leidfreiheit als illusionär, da der Vergänglichkeit unterworfen, zu erkennen. Wie das Lebensrad dazu inspirieren kann, in schwierigen Zeiten zu meditieren und das eigene Leben zu reflektieren, beschreibt die Psychotherapeutin Petra Biehler.
Das Lebensrad stellt ohne Worte die Essenz der gesamten buddhistischen Psychologie dar. Es entstammt dem Abhidharma, dem Teil von Buddhas Lehren, der die Funktion des menschlichen Geistes behandelt. Derzeit befindet sich die Menschheit in Krisen von globalem Ausmaß. Dies setzt archaische Ängste und Bewältigungsmechanismen in Gang, sowohl individuell wie auf der politischen Weltbühne. Das vielschichtige Aushalten von Spannung, Unsicherheit und Zukunftsängsten stellt eine besondere Herausforderung dar, die nicht selten auch in Psychotherapien getragen werden.
Die Suche der Psyche nach Auswegen geschieht zunächst meistens „im System“, buddhistisch gesehen inmitten von Unwissenheit und samsara, dem Daseinskreislauf. Wenn die Lösung nicht gelingt – und die muss in diesen schnellen Zeiten voller Informationsfluten täglich neu gelingen – entwickeln sich Angststörungen, Depressionen, Traumasymptome. Menschen fühlen sich dauergereizt, zweifeln am Sinn des Lebens oder spalten ihre Belastung ab. Auf ihrer Suche nach einem Ausweg tut sich für sie eine Schere auf: zwischen ressourcenreichen und unheilsamen Wegen.
Eine gute meditative Grundausstattung stellt in krisenbehafteten Zeiten eine besonders wertvolle Ressource dar. Daneben ist es aber auch spannend und wichtig, die eigenen mentalen, emotionalen und Verhaltensmuster neugierig zu erforschen – ebenso wie die Muster, die uns im Außen auffallen. Dabei geht es nicht darum, sich selbst immer neue Geschichten darüber zu erzählen, sondern sich – mittendrin – zu befreien.
Wenn es im Leben eng wird
Das Rad des Lebens eignet sich exzellent für eine solche Erforschung. Es besteht aus vier Kreisen, die den ewigen Kreislauf des Lebens und Leidens darstellen, der Buddha kurz vor seiner Erleuchtung erschienen ist. Gehalten wird dieser samsarische Kreislauf von Yama, dem „Herrn des Todes“. Buddha Shakyamuni und Bodhisattva Avalokiteshvara stehen oberhalb und außerhalb dieses Lebensrades; sie haben den Ausstieg geschafft. Neben den drei im innersten Kreis durch Schlange, Hahn und Schwein dargestellten emotionalen Wurzelgiften Gier, Hass und Verblendung können vor allem die im dritten Kreis dargestellten sechs Daseinsbereiche zur aufschlussreichen Kontemplation unserer Reaktionsmuster herangezogen werden. Sie können als Formen immer neuer Inkarnationen gesehen werden oder auch als einseitige, reaktive Geisteszustände, in die wir auf besonders akzentuierte Weise geraten, wenn es im Leben „eng wird“. Unser Geist fühlt sich von bestimmten Bereichen bevorzugt angezogen, jedoch werden alle Bereiche, wenn wir in Bedrängnis sind, in irgendeiner Form in uns auftauchen und uns auf eine bestimmte Weise fühlen, denken und handeln lassen – ohne echte Lösung. Doch erfreulicherweise gibt es für jeden von ihnen eine passende Medizin, die Befreiung aus der mentalen und emotionalen Verstrickung ermöglicht. Im Rad des Lebens wird sie durch einen jeweiligen Buddha angeboten.
Hölle: Wasser reinigt
Versetzen Sie sich in die Vorstellung, plötzlich in einer Welt heftigster Qualen gefangen zu sein: Im Bereich der Hölle regiert der Hass, überall ist Krieg. Sterben ist auch kein Ausweg, die erlittenen Schmerzen müssen immer wieder erfahren werden – endlose, unerträgliche Pein an heißen oder kalten Orten des Schreckens. Neben Kriegsgebieten können wir hier denken an häusliche Gewalt, die Neigung zu unkontrollierbaren cholerischen Impulsen, eine feindselige oder gereizte Grundstimmung oder auch selbstschädigendes Denken und Handeln.
Und die entsprechende Medizin? Der Buddha des Höllenbereichs bietet reinigendes Wasser an, gegen alles, was sich angestaut hat, und ermahnt zu einer Tugend – geduldig zu sein im Umgang mit unseren menschlichen Abgründen und unserer Ignoranz. Die Kontemplation von upekkha (Gleichmut), eine Körpermeditation mit linderndem, wärmendem oder kühlendem Wasser, andere Reinigungspraktiken wie die das Karma reinigende Vajrasattva-Praxis, Herzenspraktiken und die Reflexion des von Buddha beschriebenen „dunklen Zeitalters“, in dem wir uns befinden, könnten Anregungen sein, einen zeitweisen Aufenthalt im Höllenbereich zu bewältigen.
Hungergeister: Großzügigkeit befreit
In diesem Bereich sind Sie hungrig und durstig, Ihr Bauch ist schon ganz dick und aufgeblasen, Ihr Hals aber so dünn, dass Sie keinerlei Nahrung und Flüssigkeit zu sich nehmen können. Sie bleiben unbefriedigt, spüren aber ein immerwährendes Verlangen, eine Gier. Was Sie besitzen, soll kein anderer bekommen. Hier können wir an Hamsterkäufe denken und die schier grenzenlose Gier der neoliberalen, das Wachstum maximierenden Marktwirtschaft. Hierher gehört auch die Tendenz, in einer Krise ungesund und zu viel zu essen, Alkohol zu trinken, das Rauchen wieder anzufangen. Wenn wir für Bedürftige spenden, gehen wir keinesfalls an einen Punkt, wo es sich nach Verzicht anfühlt.
Der Buddha des Bereichs der Hungergeister hält ein Gefäß mit Nektar in den Händen – und weist damit auf das erlösende Mittel der Freigebigkeit und Opferbereitschaft hin. Sie führen aus den Begierden heraus, die leiden lassen. Ein gesundes Maß anzustreben, statt maximalen Gewinn für uns selbst, die gefühlte Verbindung zu anderen wiederherzustellen, dem zu begegnen, was hinter der Gier steht, vielleicht Schmerz, Leere, Angst, Getrenntheit oder Wut, und die Praxis von metta, liebevoller Güte, können hier als Anregungen dienen.
Tiere: nach Wissen und Weisheit suchen
Im Bereich der Tiere sind Sie gefangen im täglichen gefährlichen Kampf um Nahrung. Ständig müssen Sie wachsam sein, sonst werden Sie angegriffen oder gefressen. Sie sind Ihren Instinkten ausgeliefert, und besonders leiden Sie, wenn Sie ein Nutztier sind – zum Beispiel ein Hund an der Kette, ein geschundenes Touristenkamel in der Wüste oder ein frisch geborenes Kalb, das sofort von der Mutter getrennt und in ein nacktes Stahlgatter gesperrt wird. Sie können über die Ursachen Ihrer eigenen Situation nicht differenziert nachdenken, um zumindest einen inneren Ausweg zu finden.
Hierher gehören Fluchtmanöver aus dem inneren Unbehagen wie Dauerfernsehen, Suchtmittel, die unreflektierte Unterwerfung unter Regeln, Gesetze und mediale Mainstream-Botschaften, weil Politiker*innen und Expert*innen „es schon für uns wissen“. Hier regredieren Sie, stumpfen ab, lassen sich gehen.
Der Buddha dieses Bereichs hält meistens ein Buch oder eine Schriftrolle in den Händen – mit dem Dharma als spirituelle Nahrung. Er hält dazu an, nach tiefgründigem Wissen und Weisheit zu suchen, statt in stumpfen Ablenkungen gefangen zu bleiben. Wer in diesem Bereich feststeckt, könnte nach einer integren spirituellen Lehrperson Ausschau halten, ein Retreat besuchen, trotz aller Widerstände das Meditieren (wieder) anfangen oder ein aufweckendes Buch lesen.
Menschen: lernen, was wirklich wichtig ist
Charakteristisch für den Bereich der Menschen ist eine starke Sehnsucht nach Erfüllung durch etwas im Außen. Wir befinden uns auf einer verwirrten Suche, weil wir spüren, dass wir nie dauerhaft glücklich sind. Statt unsere prekäre Situation, Angst, Frust, Schmerz und andere irritierende Gefühle wirklich zu berühren, was für unsere psychische und körperliche Gesundheit unerlässlich wäre, suchen wir Erlösung über Adrenalinquellen und alles, was uns sinnliche Intensität bringt und doch vergänglich ist – neue Orte, Liebhaber*innen, Credos, Lehrer*innen, Therapieformen, Heilslehren. Der Bereich des Menschseins bietet uns die größte Chance, uns aus wiederkehrendem Leiden zu befreien, denn hier können wir uns reflektieren. Leben und Meditation präsentieren uns immer wieder Situationen, in denen wir unsere hoffnungslosen samsarischen Erwartungen und Muster erkennen und aufwachen können.
Der Buddha mit der Medizin für den Menschenbereich hält eine leere Bettelschale in der Hand; dieses Bild spricht für sich selbst. Und er hält dazu an, sich dem Aufwachen beharrlich und mit Willenskraft zu widmen. Eine Anregung könnte hier sein, einmal auf etwas zu verzichten, zu prüfen, was wirklich wichtig ist, an die Vergänglichkeit aller Phänomene zu denken und sich die Gewissheit des Todes zu vergegenwärtigen, in den wir bekanntlich keine Besitztümer mitnehmen können. Die Shamatha-Vipassana-Praxis, die uns Vergänglichkeit und Substanzlosigkeit erfahren lässt, ist hier eine wirksame Medizin.
Halbgötter: Rüstung des Mitgefühls
Hier tragen sie Waffen und eine Rüstung. Um Sie herum wandeln ebenso bewaffnete Wesen und es liegt eine Atmosphäre von Konkurrenz, Neid und Eifersucht in der Luft. Ständig. Im Blickfeld sind die, die es besser haben als Sie, und dorthin wollen Sie auch. Ziele und Werte verschwinden hinter diesem ehrgeizigen Streben. Ein hochenergetischer Zustand, aber auch erschöpfend und nie endend. Aktuelle Beispiele sind das politische Streben, das „sicherste“ oder „beste“ Land zu sein, das individualistische Selbstoptimierungscredo unserer Gesellschaft oder die in verunsichernden Krisenzeiten zunehmende Neigung zu polarisieren, Recht zu haben, andere Wahrnehmungen und Meinungen zu verurteilen.
Der Buddha hält hier oft eine neue Rüstung bereit – die Rüstung des Mitgefühls, nach innen und außen: grundlegendes Wohlwollen, mit Fehlerfreundlichkeit, Menschlichkeit und einem wiederhergestellten Kontakt zum eigenen Herzen, inmitten der Katastrophe. Innehalten, zurückkehren zum gemeinsamen Menschsein und unserer gegenseitigen Verflochtenheit und Abhängigkeit, und die Kontemplation von karuna (Mitgefühl) und mudita (Mitfreude) können hier als Anregung dienen.
Götterbereich: Raus aus Ego und Wellness
Hier zu sein fühlt sich höchst angenehm an. Die Umgebung ist luxuriös und erfüllt alle Wünsche, ein riesiger Wellnessbereich. Es ist friedlich. Gegen die Widrigkeiten des Lebens sind Sie hier abgeschirmt, auch gegen unangenehme Mitmenschen. Das Problem: Auch dieser Bereich ist endlich und gewährt keine dauerhafte Abschottung von den unbehaglichen Aspekten des Menschseins, der Krise, den unerlösten Aspekten in uns selbst. Im Götterbereich halten Sie sich vielleicht oft auf, wenn Sie in einem sehr wohlhabenden Umfeld leben. Auch wenn wir Krisenzeiten meditativ oder spirituell begegnen, kann uns der Götterbereich locken. Dann erheben wir uns vielleicht über die anderen, weil wir „praktizieren“. Doch wenn wir einen schlechten Tag haben und unser Leid nicht „wegmeditieren“ können, fühlen wir uns enttäuscht und hören mit der Meditationspraxis auf. Es kann auch sein, dass wir an Momenten geistiger Befreiung festhalten möchten – das ist die Verwirrung des Götterbereichs.
Der Buddha für die Wahrnehmungsebene des Götterbereichs ist Avalokiteshvara mit einer Laute. Damit lässt er nicht etwa Wellness-Dauerberieselung erklingen, sondern verbreitet den mittleren Weg und macht auf die tatsächliche Bedeutung der Meditation aufmerksam: Auch aus den Egoprozessen des Götterbereichs soll sie befreien.
Krise als Zeit des Ausstiegs
Der buddhistische Weg ist ein Übungsweg. Phasen der Krise und Bedrängnis, des Chaos und Nichtwissens eignen sich besonders als Praxis- und Aufwachzeiten, wie buddhistische Lehrer*innen und auch Psycholog*innen immer wieder unterstreichen.
Und noch etwas sei betont: Buddha war ein gesellschaftlicher Rebell und wandte sich gegen viele Konventionen seiner Zeit. So dient die Praxis des Wachwerdens neben der eigenen Befreiung auch dazu, mit einem „gezähmten“, gesunden und sortierten Geist aktiv zu sein und Ungerechtigkeit und Leid zu bekämpfen – mitten in der Welt, so wie sie gerade ist.
Petra Biehler
Petra Biehler arbeitet als Psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis in München. Neben klassisch westlichen Therapieausbildungen ist sie ausgebildet in kontemplativer Psychologie und Mindful Self-Compassion (MSC). Sie hat den Ratgeber „Mit Buddha die Trennung meistern“ geschrieben und praktiziert seit 25 Jahren, vor allem in tibetisch-buddhistischen Traditionen.