Buddhistische Praxis als spirituelle Lebenskunst

Ein Beitrag von Ani Karma Tsultrim veröffentlicht in der 4/2024 unterwegs unter der Rubrik Philosophie und Praxis.

Das Herz öffnen, alle Wesen umarmen

Warum sind Dharmazentren gerade heute so wichtig? Darüber reflektiert Ani Karma Tsultrim in ihrem Beitrag. Sie feiert dieses Jahr ihren 75. Geburtstag, zu dem BUDDHISMUS aktuell herzlich gratuliert. Der persönliche Lehrer der buddhistischen Nonne in tibetischer Tradition ist Ringu Tulku Rinpoche, spiritueller Leiter der internationalen Bodhicharya Community. Er hat Ani Karma Tsultrim die spirituelle Leitung des Sangha und des Zentrums Dharma-Tor übertragen, das sie vor 25 Jahren am Ammersee in Bayern gegründet hat. Seit 2005 ist das Zentrum in Huttenried bei Schongau beheimatet und trägt den Namen „Dharma-Tor – Bodhicharya Huttenried“. 

In unserer herausfordernden Zeit mit Krisen, Klimawandel und Ausbeutung der Natur kommt der Lehre des Buddha eine ganz besondere Bedeutung zu. Durch Dharmapraxis können wir einen inneren Transformationsprozess erfahren, durch den wir uns wieder verständnisvoll und mitfühlend für andere Menschen, ja für alles Lebendige öffnen können. Die Aufgabe der Dharmalehrenden und der buddhistischen Zentren als Orte der Stille, des Friedens und der Verständigung ist es, die Buddhalehre zu erhalten, weiterzugeben, die darin überlieferten Werte zu vermitteln und Praktizierende auf diesem Weg anzuleiten und zu begleiten. Es ist ein Weg zu innerem Reichtum und zum Frieden. Es ist genau das, was in der heutigen Zeit so wichtig ist.

Zum Wesentlichen zurückkehren

Wenn immer mehr Menschen unter Aggression, Depression, Werteverlust, Intoleranz und entsprechenden Verhaltensweisen leiden, ist das ein Zeichen dafür, dass etwas Wesentliches fehlt, um mit äußeren Herausforderungen in rechter Weise umzugehen.

Um das zu verstehen, wollen wir einmal auf große Persönlichkeiten schauen, die auch in schweren Zeiten und Krisen die Kraft haben, sich für Entspannung, Frieden, Menschlichkeit und Menschenrechte einzusetzen. Bei ihnen können wir eine tiefe Verwurzelung in ihrem religiösen Weg und ihrem spirituellen Sein finden, das ihr Leben durchdringt. Das zeigen die Biografien von Mahatma Gandhi, Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama, Erzbischof Desmond Tutu, Martin Luther King, Maha Ghosananda und Thich Nhat Hanh, um einige der Bekanntesten zu nennen.

Der Mensch ist eben nicht nur ein weltliches, sondern auch ein spirituelles Wesen. Er verliert einen Teil seiner selbst, wenn er nur der Welt zugewandt lebt. Aber eine innere Sehnsucht nach etwas macht sich irgendwann bemerkbar, eine zarte innere Stimme, der leise Ruf, der oft überhört wird oder nicht gedeutet werden kann. 

Unzufriedenheit und innere Unruhe zeigen einen bedeutenden Mangel auf. Und wenn die äußere Welt dann auch noch zu zerfallen droht, verlieren viele Menschen den letzten scheinbaren Halt, der in Äußerlichkeiten so fragil ist. 

Spirituelle Lebenskunst 

Abhängiges Entstehen, Veränderung und Vergänglichkeit beziehungsweise Auflösung und Neubeginn sind nicht zu übersehende Merkmale der Existenz. Sich nicht dagegen zu stemmen, sondern in rechter Weise damit umzugehen, kann geübt werden und ist ein grundlegender Aspekt der buddhistischen Praxis wie aller traditionell überlieferten religiösen und spirituellen Wege. Was Menschen manchmal daraus machen, wenn sie die ursprünglichen Lehren für ihre Zwecke zurechtbiegen, ist eine andere Sache. Recht verstanden und angewendet sind diese Lehren ein wertvolles Werkzeug, um ein ethisch gutes Leben zum Wohl der Gemeinschaft und Gesellschaft zu führen und einem religiös ausgerichteten spirituellen Weg für ein erfülltes Leben zu folgen. Wenn sich die Lehren auch in Methodik, Paxis und Aussagen unterscheiden können, zeigen sie doch letztendlich alle, wenn man die Erfahrungen und Erkenntnisse ihrer Mystiker studiert, in dieselbe Richtung, zum Gipfel des Berges.

Um den buddhistischen Weg zu verstehen, zu praktizieren und unser Leben davon durchdringen zu lassen, müssen wir uns nach innen wenden und einen Sichtwechsel vollziehen. Das wahre Glück, der wahre Frieden, die wahre Freiheit können nicht im Außen gefunden werden, denn alles Äußere ist von Ursachen und Bedingungen abhängig und ständigem Wandel unterworfen – wir können nichts davon festhalten. 

Dies aufzuzeigen, das Verständnis dafür zu wecken und die Lehren und Praxismethoden in dieser Weise als spirituelle Lebenskunst zu vermitteln, ist gerade in der heutigen Zeit eine verantwortungsvolle Aufgabe der Dharmalehrenden. Die buddhistischen Zentren sind die Orte dafür, um die Überlieferung der buddhistischen Lehren zu bewahren und lebendig zu erhalten.  

Das Herz öffnen

Von unserer Sicht auf Lebewesen, Dinge und Situationen wird das Denken, Reden und Handeln bestimmt. Die Grundlage dafür sind die drei Pfeiler des spirituellen Weges: Ethik, Meditation und Weisheit. Der Buddha hat sie als die Vier Edlen Wahrheiten inklusive dem Edlen Achtfachen Pfad und den Silas, den ethischen Richtlinien, gelehrt.  

Die Essenz dieses Weges möchte ich mit den folgenden Worten kurz zusammenfassen:

Lass das innere, spirituelle Licht im Tempel deines Herzens strahlen. Dann wirst du keinem Wesen Leiden zufügen und dein Leben wird voller Liebe, Verstehen und innerem Frieden sein!  

Auch Aussagen großer buddhistischer Meister weisen in diese Richtung:

Seine Heiligkeit der Dalai Lama: „Der Frieden beginnt in dir.“
Ringu Tulku Rinpoche: „Frieden in dir, Frieden in der Welt.“
Thich Nhat Hanh: „Wenn du Frieden willst, musst du Frieden sein. Frieden ist eine Praxis und keine Hoffnung!“

Diese Worte sind wie ein wunscherfüllendes Juwel: Durch inneren Frieden können wir ein erfülltes Leben leben. Durch inneren Frieden strahlen wir Frieden in die Welt. Innerer Frieden erhellt unsere zwischenmenschlichen Begegnungen. In innerem Frieden verankert, vermeiden wir alles uns Mögliche, um anderen Lebewesen zu schaden. Hier liegt der Ansatz für die Auflösung aller Probleme, Konflikte und Umweltkrisen. 

Ein berühmter, viel zitierter Vers aus dem Dhammapada besagt: „Hass kann nicht durch Hass getilgt werden. Nur liebende Güte bezwingt den Hass.“ 

Durch Hass wird die Hemmschwelle zur Gewalt immer niedriger und die Achtung vor dem Lebendigen schwindet mehr und mehr. Kriege führen uns das deutlich vor Augen – schon immer …

Da kann man nur fragen: Warum folgen wir nicht dieser alten Weisheit? Warum entsagen wir nicht Hass und Gewalt? 

Die eigene Sicht ändern

Die Antwort ist klar: Weil wir in den Geistesgiften verstrickt sind, die vom Ego-Ich und dem Ich-und-mein-Denken genährt werden. Und weil wir nicht fähig sind, andere in ihrer Verstrickung zu sehen und das Leid darin zu erkennen, sind wir nicht fähig zu verstehen. Unsere Egozentriertheit mit ihren Schutzmechanismen und Machtbestrebungen steht uns im Weg – bis wir dieses unschöne Spiel durchschauen, durch das wir uns selbst an der Nase herumgeführt haben.

Wir können Menschen nicht ändern, schon gar nicht durch Gewalt. Aber unsere eigene Sicht können wir ändern, uns öffnen für die Verletzlichkeit der Mitmenschen, ihnen mit Verständnis begegnen, ihnen helfen und ihnen den Weg aus ihrem Leid aufzeigen. Wie weit sie unsere Unterstützung annehmen und dann fähig sind, sich von ihren inneren Fesseln zu befreien, liegt bei ihnen. Wir können nichts erzwingen. Was wir aber stets tun sollten: die guten Seiten eines jeden Menschen sehen und ihm Raum geben, sie zu entfalten. Wenn wir uns gegen jemanden stellen und ihn in die Enge treiben, nehmen wir ihm diesen Raum und damit die Chance, seine negativen Muster zu durchbrechen. Leider ist genau diese Einengung weit verbreitet, bis das Gegenüber an der Wand steht und nur noch Aggressivität als Ausweg sieht. 

Das Gesetz von Ursache und Wirkung gilt auch auf der moralischen Ebene, Karma-Gesetz genannt. Es ist sehr tiefgründig. Veränderungen können schnell geschehen oder sehr lange dauern. Wir sollten einfach unser Bestmögliches beitragen, indem wir heilsam wirken und unter allen Umständen vermeiden, uns aus Vorteilsdenken gegen andere zu stellen. Das sind metta-karuna gepaart mit upekkha: liebende Güte, die sich in tätigem Mitgefühl zeigt, fest gegründet auf Gleichmut, um sich nicht von Emotionen mitreißen zu lassen. 

Lebe das und werde zu einem Friedenspfeiler in der Welt! 

Die Aufgabe der Dharmalehrenden

Ich sehe es als eine große Aufgabe der Dharmalehrenden und der buddhistischen Zentren, den Menschen den Weg zu Vergebung, Verständigung, Versöhnung und Frieden zu zeigen. Die Lehre des Buddha gibt uns alle dafür notwendigen Werkzeuge in die Hand. Wir müssen nichts neu erfinden, müssen nichts hinzufügen, dürfen aber auch nichts wegnehmen. Sie ist ein vollständiges System, durch das wir zu innerem und äußerem Frieden bis hin zur Befreiung von grundlegendem und sekundärem Leiden finden können. 

Mit viel Fingerspitzengefühl sollten die buddhistischen Lehren in unser westliches Leben integriert werden. Die Lehre des Buddha ist zeitlos, denn sie ist in der Essenz von äußeren Dingen unabhängig. Kulturelle Einflüsse, religiöser Glaube, philosophische Auslegungen und auch die Anwendung bestimmter Methoden für weltliche Anliegen wie Stressminderung, die Optimierung der Arbeitskraft und ähnliche Zwecke sind nicht das, wofür die eigentliche Dharmalehre steht. Die Lehre des Buddha betrifft vielmehr den inneren Transformationsprozess eines jeden Menschen von der Verstrickung über die Auflösung der Fesseln, die er sich selbst angelegt hat, bis zur vollkommenen Befreiung. Die ganze Lehre, der gesamte Weg mit allen Methoden der Praxis ist dazu da. Sie transzendieren insofern auch die verschiedenen Traditionen. Anleitungen und Praxismethoden zeigen verschiedene Möglichkeiten des Zugangs auf, die als geschickte Methoden betrachtet werden sollten und zur Schulung und Vertiefung einzelner Schwerpunkte des Weges dienen. Der Buddha selbst hat sich in seinen unzähligen Unterweisungen auf die jeweiligen Zuhörerinnen und Zuhörer eingestellt und auf verschiedenen Stufen gelehrt, von der Ethik über Meditationsmethoden, den Umgang mit Emotionen, die Auflösung von Verstrickungen im Leben, bis hin zu rechter und klarer Sicht und zur Entfaltung allumfassender Liebe und vollkommenen Gleichmuts, der das Tor zur letztendlichen Erkenntnis ist. 

Es ist in sich ein vollkommener Weg zur spirituellen Heilung.

Wahrer Reichtum

Gelebte Freiheit muss alle Wesen einbeziehen. Sie bedeutet rücksichtvoll zu leben und heilsam zu handeln. Wir können im Leben nur dann wirklich glücklich sein, wenn wir uns so verhalten, dass andere auch glücklich sein können. Wir können nur in Frieden und Freiheit leben, wenn wir uns so verhalten, dass wir für andere die Voraussetzungen für Frieden und Freiheit nicht einschränken, sondern fördern. Wahre Freiheit bedeutet also nicht, alles zu tun, was wir wollen, sondern zu unserem eigenen Wohl und zu dem der anderen heilsam zu handeln.

Wenn wir so leben, werden wir im Inneren im Frieden sein. Und das ist wahrer Reichtum. Dazu gehört selbstverständlich auch eine Öffnung und Wertschätzung gegenüber allen Religionen und überlieferten spirituellen Traditionen mit Begegnungen und interreligiösem Austausch. 

Die Welt wird sich verändern, wenn die Menschen ihre Herzen öffnen, um alles Lebendige zu umarmen. Das ist wahre, unvoreingenommene Liebe und Fürsorge und die Grundlage für die Auflösung aller Krisen und Konflikte – und damit für den Frieden in der Welt. 

Weitere Informationen

Dharma-Tor-Homepage:
dharma-tor.com

Webseiten von Ani Karma Tsultrim:
ein-licht-fuer-die-welt.com
dharmawolke.com,
ani-karma-tsultrim.de

Bücher von Ani Karma Tsultrim: 
„Dharma-Mystik. Vertiefung des spirituellen Weges“, epubli 2020, 5. Auflage 
„Der Schlüssel zur spirituellen Heilung“, epubli 2021, erweiterte Neuauflage 
„Wahre Selbsterkenntnis als Weg zur Befreiung. Anregungen und Kontemplationen“, epubli 2021

Ani Karma Tsultrim

hat an einem Gymnasium Mathematik, Chemie und Psychologie unterrichtet und dort körperbehinderte Kinder und Jugendliche integriert. Von ihrem Wurzellama Ringu Tulku Rinpoche erhielt sie 2006 die Ordination zur buddhistischen Nonne. Sie leitet das Zentrum Dharma-Tor – Bodhicharya Huttenried in Oberbayern.

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