Buddhismus 2.0
Stephen Batchelor ist einer der profiliertesten (Quer-)Denker des Buddhismus. Im folgenden Beitrag, als Vortrag im September 2012 auf der DBU-Tagung „Buddha im 21. Jahrhundert“ in Hamburg gehalten, erläutert er seine Vorstellungen eines säkularen Buddhismus oder Buddhismus 2.0. Läutet er damit eine notwendige Reformbewegung ein oder führt sein Ansatz in eine Sackgasse? Wir freuen uns über eine lebhafte Diskussion.
Bevor ich im Folgenden näher ausführe, was ich mit „Buddhismus 2.0“ meine, möchte ich zuerst beschreiben, wo ich selbst stehe. Ich sehe mich als einen säkularen Buddhisten. Ich habe viele Jahre gebraucht, bis ich das in der Öffentlichkeit sagen konnte. Es ist für mich ein bisschen wie ein Coming-out, wie es in der Schwulen-Community genannt wird.
„Ich bin ein säkularer Buddhist.“
Was meine ich mit dem Wort „säkular“? Einerseits benutze ich es so, wie es üblicherweise verwendet wird, nämlich im Gegensatz zu dem, was wir uns unter Religion vorstellen. Doch ich verwende es auch in seinem wortgeschichtlichen Sinn. „Säkular“ kommt vom lateinischen „saeculum“, was „diese Zeit“ bedeutet. Damit ist nicht nur das Hier und Jetzt gemeint, sondern das Zeitalter, in dem wir uns befinden.
Als säkularer Buddhist verstehe ich meine Praxis in erster Linie als Antwort auf die Krise, die Fragen und das Leiden unserer Zeit. Historisch gesehen ist das, glaube ich, in jeder Epoche der Fall gewesen, in der der Buddhismus in einer Gesellschaft in Blüte stand. Ob wir die Zeit des historischen Buddha nehmen, als er auf das Drängende und die Krisen seiner Zeit geantwortet hat, oder die Zeit, als der Buddhismus nach China, Tibet oder in irgendein anderes Land kam: Er ließ sich vollkommen auf die vorhandene Situation ein.
Doch verfestigen sich im Laufe der Jahrhunderte solche Antworten, Lehren und Praktiken offenbar immer wieder zu Orthodoxien, Praxiskanons und Machthierarchien. Wenn wir uns die Geschichte des Buddhismus anschauen, so sehen wir im Grunde Kreisläufe der Erneuerung. Auf der einen Seite gibt es natürlich eine Anerkennung der Tradition, die uns diese Lehren und Ideen überliefert hat, aber zugleich besteht die Herausforderung, sie in der Welt, in der wir uns jetzt befinden, anzuwenden.
Ich sehe das Ziel meiner buddhistischen Praxis nicht darin, ein endgültiges Nirvana zu erlangen, vielmehr sehe ich sie als einen Versuch, dem Rahmen des Achtfachen Pfades entsprechend zu leben und danach zu streben, darin als Mensch vollkommen zu erblühen. In anderen Worten: Bezogen auf die Vier Edlen Wahrheiten ist es die vierte, die ich zu verwirklichen trachte. Für mich ist klar, dass es bei der Praxis nicht nur darum geht, gut in der Meditation zu werden, sondern vor allem darum, jeden Teil des eigenen Menschseins als Fahrzeug zu nutzen. In den ursprünglichen Pali-Schriften beschreibt der Buddha den Achtfachen Pfad als das, was es auszubilden sowie in die Praxis und ins Leben umzusetzen gilt, wobei er nicht allein Achtsamkeit und Konzentration betont.
Die Idee der Reinkarnation passt nicht zu unserem heutigen Bezugsrahmen
In den Begriffen unserer gegenwärtigen Welt finde ich es sehr schwer zu verstehen, was Kontinuität des Lebens nach dem Tod bedeutet. Wir wissen jetzt über die biologische Evolution des Menschen Bescheid, und auch, wie Selbst-Bewusstsein, Sprache und die Komplexität unseres Gehirns entstanden sind. Mir scheint es sehr schwierig zu sein, die Idee der Reinkarnation mit gegenwärtigen Konzepten von dem, was und wer wir sind, in Einklang zu bringen. Es wäre dogmatisch, zu behaupten, es gebe keine Reinkarnation, doch für mich besteht das Problem darin, dass die Idee der Reinkarnation nicht zu unserem heutigen Bezugsrahmen passt.
Oft wird mir vorgeworfen, ich würde die Vorstellung von Karma verwerfen, aber das ist nicht der Fall. Ich glaube, es ist außerordentlich wichtig, dass wir moralisch für das, was wir jetzt tun, verantwortlich sind, und dass unsere Taten auch nach unserem Tod noch wirken.
Wir sollten uns daran erinnern, dass Karma und Wiedergeburt in der Geschichte des Buddhismus nicht bloß intellektuelle Vorstellungen sind. Es handelt sich um Ideen, die Menschen in einer vorwissenschaftlichen Zeit ein Gefühl für ihren Platz in einem sehr viel größeren Zusammenhang gegeben haben. Beide Doktrinen haben eine enorme Bedeutung im sozialen Leben der buddhistischen Kulturen. Als Westler neigen wir dazu, sie lediglich als religiöse Doktrinen zu verstehen.
Anders als früher haben wir heutzutage jedoch eine sehr viel lebhaftere Vorstellung von der Vergangenheit, sowohl in astrophysikalischer Hinsicht, in Bezug auf die Entstehung der Erde, als auch in Hinsicht auf die Entwicklung fühlender Wesen oder die Menschheitsgeschichte – wie Menschen gelebt, sich verhalten und Gesellschaften geschaffen haben. Das verschafft uns auch eine sehr viel stabilere Basis für unsere Vision, welche Art von Zukunft sich in den kommenden Generationen entfalten wird, für die wir im Übrigen heute in einem hohen Grad die Verantwortung tragen.
In unserer gegenwärtigen Welt besteht unser einzig sicheres Wissen darin, dass sich Leben auf diesem Planeten entwickelt hat. Soweit wir wissen, ist dies möglicherweise das einzige Mal, dass diese Art von Leben sich überhaupt entwickelt hat. Zugleich leben wir aber auf eine Weise, vor allem in unseren modernen Industriegesellschaften, welche die Zukunft des Lebens auf der Erde bedroht.
Wir müssen den Buddhismus von Grund auf neu denken
Diese säkulare Vision der Welt reicht m. E. völlig aus, um ein ethisches Leben zu fuhren und sich in einer spirituellen Praxis zu engagieren, die ein solches Leben prägt. Das bedeutet aber für mich, dass wir den Buddhismus von Grund auf neu denken müssen. Ich stelle mir einen säkularen oder modernen Buddhismus nicht als moderne Umgestaltung einer traditionellen asiatischen Schule vor. Ich bin nicht besonders daran interessiert, die Schule des Theravada-, die tibetischen oder die Zen-Schulen zu reformieren. Sie werden zweifellos neue Formen entwickeln, die ihren Ursprüngen entsprechen. Aber ich glaube, dass ein säkularer Zugang tiefer geht.
Mein Ausgangspunkt bei diesem Projekt besteht darin, zu den frühesten, heute verfügbaren Lehrtexten zurückzugehen. Und zwar, um zu fragen: Was von dem, was der Buddha gelehrt hat, stammt tatsächlich von ihm selbst? Wenn ich beispielsweise in den Pali-Schriften lese, habe ich immer im Kopf: Könnte das ebenso gut ein jainistischer Mönch oder ein brahmanischer Priester gesagt haben? Wenn es heißt: Der Buddha wurde von jemandem gefragt: „Meine Mutter ist gerade gestorben. Als was wird sie wiedergeboren werden?“ Und der Buddha antwortete: „Sie wird im Himmel der Dreiunddreißig wiedergeboren werden“, dann lege ich das höflich beiseite. Doch Ähnliches gilt auch für Einiges, was manche Buddhisten als das wahre Wesen des Buddhismus ansehen: Wenn die Texte vom Nirvana als vom Aufhören des Kreislaufs von Geburt und Tod sprechen, lege ich das ebenfalls höflich beiseite.
Was ist das Spezifische an den buddhistischen Lehren?
Mit anderen Worten: Durch diesen Prozess der Auslese gelangen wir möglicherweise zu einem klareren Bild dessen, was spezifisch für die buddhistischen Lehren ist und nicht aus der indischen Kultur ihrer Entstehungszeit abgeleitet werden kann. Ich schlage versuchsweise vor, dass dieser Prozess der Auslese vier klar unterscheidbare Schlüsselgedanken übrig lässt:
1.
das Prinzip der Bedingtheit (gegenseitige Abhängigkeit, bedingtes Entstehen). Die Betonung der Bedingtheit ist dem Buddhismus sehr eigen und ursprünglich. Es gibt eine berühmte Aussage von Sariputta, der den Buddha mit den Worten zitiert: „Derjenige, der Bedingtheit sieht, sieht dhamma, und derjenige, der dhamma sieht, sieht Bedingtheit.“ Das sehe ich als das Grundprinzip der buddhistischen Lehre an, das dann von Nagarjuna zu der Idee von shunjata (Leerheit) weiterentwickelt wurde.
2.
der Prozess der Vier Edlen Wahrheiten. Ich ziehe es vor, von den Vier Edlen Wahrheiten als von den Vier Edlen Aufgaben zu sprechen.
3.
die Praxis der Achtsamkeit. Soweit wir wissen, war Meditation zur Zeit des Buddha weitgehend eine Innenschau und eine Vertiefung der Konzentration bis zu dem Punkt, an dem man sein eigenes wahres Selbst oder atmanerkennen konnte. Ich glaube, der Buddha hat diese Idee auf den Kopf gestellt und die Aufmerksamkeit zu allererst auf den Körper, den Atem, die Gefühle, Seelenzustände und schließlich auf die Fünf Daseinsfaktoren gelenkt – also auf alles, was die Erfahrung des gegenwärtigen Augenblicks ausmacht. Dabei ging es nicht darum, Zugang zu etwas Transzendentem, Unbedingtem und Absolutem zu finden.
4.
die buddhistische Betonung des Sich-auf-sich-selbst-Verlassens. Einer der Pali-Begriffe für eine Person, die den Achtfachen Pfad eingeschlagen hat, ist aparapaccaya – „nicht von anderen abhängig“. Mit anderen Worten: Das Einschlagen des Pfades ist zugleich das Erlangen der Unabhängigkeit. Mich hat es ziemlich frappiert, dass der Buddha nirgends im Pali-Kanon das Wort „Guru“ verwendet. Er scheint sich gegen die Tendenz im damaligen Indien gewandt zu haben, eine spirituelle Autorität, der man sich unterwirft, zu verehren.
Auf Englisch lassen sich diese vier Besonderheiten sehr leicht als vier Ps zusammenfassen: principle (Prinzip), process (Prozess), practice (Praxis), power (Macht).
Diese vier Aspekte stellen nach meiner Auffassung eine vollständige und angemessene Basis dar, um Dharma zu praktizieren. Sie sind eine Grundlage für Ethik, für philosophische Erkundungen, für Meditationspraxis und dafür, als Mensch ganz und gar in dieser Welt zu leben. In gewisser Weise ist es diese säkulare Sichtweise, die den Buddhismus von anderen Religionen unterscheidet.
Aus dem Buddhismus ist im Laufe der Zeit eine Religion geworden
Das bestätigt, was ein englischer Buddhismusforscher, Trevor Ling, vor etwa 50 Jahren in einem Buch über den Buddha ausgeführt hat. Er geht davon aus, dass Buddhismus nie als Religion gemeint gewesen sei, sondern eher als eine neue Zivilisation oder Kultur, die im Laufe der Zeit zu einer Religion mutiert sei. Sicherlich kann man Ähnliches auch vom Christentum und wohl auch vom Islam sagen. Religionen neigen dazu, die Inspirationen zu vergessen, die in ihrem eigenen Ursprung liegen.
Buddhismus ist für mich also etwas, was es zu tun, nicht etwas, woran es zu glauben gilt. Er ist im Wesentlichen pragmatisch. Das zeigen auch viele der berühmten Parabeln, etwa die vom vergifteten Pfeil, bei der es darum geht, den Pfeil schnell herauszuziehen, ohne lange danach zu fragen, woher er gekommen ist. In einer anderen Parabel beschreibt sich der Buddha als jemanden, der in einen Wald gegangen ist, dort einen alten, überwachsenen Pfad entdeckt, diesem folgt, in eine Ruinenstadt gelangt und sich schließlich daran macht, sie wieder aufzubauen. Der Buddha vergleicht diesen Pfad mit dem Achtfachen Pfad, den schon alle Buddhas der Vergangenheit gegangen seien. Es ist sehr interessant, dass dieser Pfad nicht ins Nirvana und zum Ende von Geburt und Tod führt, sondern zum Wiederaufbau einer Stadt. Das ist für mich ein zutiefst säkulares Bild, es verortet unsere Praxis darin, die Struktur dieser Welt zu verändern.
Ich möchte Ihnen noch ein anderes Bild vorstellen, mit dem wir besser verstehen können, worin dieser säkulare Zugang besteht: Nehmen wir an, dass alle uns heute bekannten Schulen des Buddhismus verschiedene Softwareprogramme sind, die aber alle auf demselben Betriebssystem laufen. Man könnte also sagen, dass der Buddhismus Upgrades für alle diese Programme benötigt, damit wir einen benutzerfreundlicheren, angemesseneren Theravada oder Zen erhalten. Aber reicht das?
Das von mir gewählte Bild ist sicher mit einem Augenzwinkern zu verstehen, aber die Bedeutung ist durchaus ernst gemeint, denn trotz der Unterschiede zwischen den klassischen buddhistischen Schulen neigen sie dazu, sich in Bezug auf die grundlegende Soteriologie einig zu sein, das heißt in Bezug auf die Art und Weise, wie sie sich befreiende Erlösung vorstellen. Und diese Soteriologie wurzelt in der klassischen Weltsicht des alten Indien. Wenn es nun in einer breiteren Öffentlichkeit darum geht, Buddhismus vorzustellen, wird die indische Vorstellung der Wiedergeburt oft einfach beiseitegelassen oder kaum erwähnt, während die Betonung auf der Praxis und dem, was unser Leben verändern kann, liegt.
Es geht um ein ganz neues „Betriebssystem“, um Buddhismus 2.0
Auf einer bestimmten Ebene riskieren wir eine gewisse intellektuelle Unredlichkeit, wenn wir unsere Praxis auf der Grundlage der Tradition ausüben. Wenn Sie beginnen, an der Oberfläche, welcher buddhistischen Tradition auch immer, zu kratzen und tiefer zu graben, werden Sie unweigerlich auf einige dieser Schwierigkeiten stoßen, sich einen Reim auf Lehren wie die von der Wiedergeburt zu machen. Doch wenn wir eine buddhistische Praxis haben wollen, die intellektuell präzise ist, muss sie auf einem philosophischen Verständnis gründen, das sich nicht in derartige Widersprüche mit unserem gegenwärtigen Weltverständnis verwickelt. Das ist natürlich ein anspruchsvolles Projekt. Es geht im Grunde darum, das Betriebssystem umzuschreiben. Dieses umgeschriebene Betriebssystem nenne ich Buddhismus 2.0.
Der Hauptunterschied zwischen Buddhismus 1.0 und Buddhismus 2.0 besteht darin, dass Ersterer, zumindest für uns, ein glaubensbasiertes System ist, der Buddhismus 2.0 hingegen ein praxisbasiertes. Ich möchte das an einem Beispiel veranschaulichen: Wenn irgendetwas die Bezeichnung „buddhistisch“ verdient, muss es mit der grundlegenden Lehre der Vier Edlen Wahrheiten in Einklang stehen. In seiner ersten Lehrrede sagt der Buddha: „Solange mein Wissen und meine Vorstellung nicht völlig klar in Bezug auf diese Vier Edlen Wahrheiten waren, konnte ich mich nicht als vollständig in dieser Welt erwacht ansehen.“ Doch wenn er die Vier Edlen Wahrheiten beschreibt, beschreibt er sie als eine Reihe von Aufgaben, nicht als ein erkenntnismäßiges Verstehen von Wahrheitsaussagen. Tatsächlich hat die Wissenschaft jüngst recht klar gezeigt, dass der Begriff „Edle Wahrheit“ im Originaltext der ersten Lehrrede nicht vorkommt. Man kann sogar sehen, wie der Begriff später ungeschickt eingefügt worden ist. Vergessen wir nicht, dass die andere Vorstellung von Wahrheit – von den zwei Wahrheiten, einer relativen und einer absoluten – im Pali-Kanon überhaupt nicht zu finden ist. Das ist dem frühen buddhistischen Denken völlig fremd. Man kann mutmaßen, dass der Buddha sich überhaupt nicht mit Wahrheit als einem metaphysischen Konzept befasst hat.
Vor Kurzem suchte ich im Samyutta Nikaya nach dem Wort „Wahrheit“. In der englischen Fassung kommt es 503 Mal vor, etwa 480 Mal davon in der Zusammensetzung „Edle Wahrheit“. In nahezu jedem anderen Zusammenhang bezieht es sich auf die Tugend der Wahrhaftigkeit. Nach meinem Eindruck hat der Buddha „Wahrheit“ als eine Tugend verstanden, mit anderen Worten: als etwas, was Sie beim Reden „tun“. Im Laufe der Zeit wurde dann der Begriff der Wahrheit zu einer absoluten Wirklichkeit emporgehoben, mit der Idee, in buddhistischer Praxis gehe es darum, diese Wirklichkeit richtig zu verstehen.
Stephen Batchelor
1953 in Schottland geboren, lehrt weltweit buddhistische Philosophie und Meditation. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Mitbegründer des Bodhi College. Er lebt mit seiner Frau Martine in Frankreich.