Brief eines Schülers an seine Lehrerin Ayya Khema
Liebe Ayya Khema,
am 25. August dieses Jahres gedenken wir mit großer Wertschätzung und Dankbarkeit deines 100. Geburtstages. Nie werde ich unsere erste Begegnung im Buddha-Haus vergessen. Du betratst den Meditationsraum und wir alle standen dir zu Ehren auf. Als buddhistische Nonne in deiner braunen Robe, mit kurzgeschorenen weißen Haaren und von eher kleiner Gestalt nahmst du deinen Platz ein. Deinen Vortrag begannst du mit den Worten: „Das Herz kann einem aufgehen in dieser wunderschönen Allgäuer Natur, aber es kann einem noch viel weiter aufgehen, wenn man das Dhamma hört.“
Nach deinem Vortrag sprachen wir in deinem Zimmer mehr als eine Stunde unter vier Augen über Meditation und Orientierungshilfen des Dhamma im Alltag. Diese und viele weitere Begegnungen mit dir gehören zum Kostbarsten in meinem Leben. Du bist nun seit mehr als 25 Jahren nicht mehr in deinem Körper; für mich warst und bist du allerdings nie weg, sondern anders da. Vor jedem Vortrag, jeder Belehrung, die ich als Dhammalehrer geben darf, bitte ich dich nach wie vor um Unterstützung.
Du selbst lehntest übertriebene Ehrerbietung ab und standest überschäumenden Gefühlsäußerungen distanziert gegenüber. Obwohl du viel in der Welt herumgekommen warst und in verschiedenen Ländern gelebt hast, waren deine Berliner Wurzeln doch immer noch spürbar: diese Mischung aus trockenem Humor und einer unverblümten Art, sich mitzuteilen. In allem stand stets das Dhamma an erster Stelle, nicht deine Person. Deine Belehrungen kamen von und gingen zu Herzen. Du wähltest auch in der Vermittlung komplexer Dhammathemen eine klare, einfache Sprache. So konnten wir dich alle gut verstehen, unabhängig von unserer persönlichen Vorbildung.
Völlig unerschrocken
In deinen Belehrungen legtest du großen Wert auf die meditativen Vertiefungen, die jhanas. Du warst eine Jhana-Meisterin und kanntest wie nur wenige den direkten Zugang zu befreienden Einsichten über diese tiefen Sammlungszustände. So war es kein Wunder, dass es von Jahr zu Jahr mehr Menschen in deine Vorträge und Kurse zog. Völlig unerschrocken sprachst du auch Unvollkommenheiten im Verhalten deiner Schülerinnen und Schüler an. Als ich diesbezüglich einmal deinen Mut bewunderte, bemerktest du: „Wenn ich nur das sagen würde, was den Menschen angenehm ist, wäre ich wie eine Fahne im Wind und niemand könnte sich mehr orientieren.“
Unvergessen ist für mich auch der Tag, an dem ich dich in Berlin zu Plätzen deiner Kindheit fahren durfte. Am Nachmittag saßen wir dann in einem Café am Wannsee. Die Menschen in den vorbeifahrenden Schiffen winkten und du winktest lächelnd zurück. So direkt und fröhlich warst du. Und gleichzeitig sah ich in dir auch in dieser Situation die hochgeachtete und geliebte Lehrerin. Einmal durfte ich deinen in Amerika lebenden Enkel während seines Berlinbesuchs in meiner Wohnung beherbergen. Natürlich kamen wir dabei auch auf dich zu sprechen. „Ihr bewundert alle meine Großmutter sehr, doch für mich ist sie meine geliebte und manchmal schrullige Oma“, lachte er.
Offen für andere Religionen
Als Berliner Jüdin, die zum Buddhismus gefunden hatte, warst du offen anderen Religionen gegenüber. Öfter erwähntest und zitiertest du Teresa von Ávila, mit der dich offenbar eine Seelenverwandtschaft verband. Berührend war auch, dich neben Pater Jungklausen im Benediktinerkloster Niederaltaich zu erleben: zwei authentische spirituelle Vorbilder mit immenser Inspirationskraft.
Im November 1996 entstand im Rahmen eines Retreats die Idee, in Berlin ein Meditationszentrum aufzubauen. Du warst begeistert, wir Berliner Schülerinnen und Schüler gaben unser Bestes und du unterstütztest uns nach deinen Möglichkeiten.
Im Frühjahr 1997 beauftragtest du mich während eines Aufenthaltes in Berlin, eine Veranstaltung in der Berliner Kongresshalle zu organisieren. Ich erinnere mich noch gut an meine Aufregung, als ich dich gemeinsam mit Sylvia Wetzel vor etwa tausend Zuschauerinnen und Zuschauern vorstellen durfte. Du schenktest uns danach in einem völlig überfüllten Saal einen deiner berührenden und zu Herzen gehenden Dhammavorträge. „Das Dhamma fließt durch mich hindurch, und manchmal höre ich mir selbst zu und wundere mich, was ich sage.“
Wer sich in Deutschland für Buddhismus interessiert, stößt rasch auf deinen Namen, früher wie heute. Enge Schülerinnen und Schüler haben die Gründung des Buddha-Hauses im Allgäu und der Stadtzentren in München und Stuttgart ermöglicht. Aber auch im Buddhistischen Stadt-Zentrum Hamburg, in Riethausen bei Bremen, im Lotos Vihara in Berlin und weiteren Zentren lebst du mit deiner Lehrvermittlung weiter. Besonders am Herzen lag dir der Aufbau des Waldklosters Metta Vihara, nur wenige Kilometer entfernt vom Buddha-Haus gelegen. Bis heute können Menschen hier in längeren Retreats tiefer mit der Lehre des Buddha vertraut werden und Ruhe und Orientierung in ihr Leben bringen.
Fleiß gehörte zu deinen Tugenden und Fleiß erwartetest du auch von den Menschen in deinem Umfeld. „Wir haben hier viel zu tun, deshalb erledigen wir alles gleich.“ Diesen Satz habe ich oft von dir gehört.
Das Dhamma zu lehren ist mit Verantwortung verbunden. Belehrungen nicht durch individuelle Ansichten und Interpretationen zu verwässern ist höchst bedeutsam. 1997 hast du mich beauftragt, in Berlin Belehrungen zu geben. Dies hast du mit der Auflage verbunden, zuvor meine Reflexionen zu dieser zukünftigen Aufgabe auf einer Tonkassette aufzunehmen und dir ins Buddha-Haus zu schicken. Erst nach deinen Verbesserungsvorschlägen und der Freigabe durfte ich beginnen. Diese Art von Rückenstärkung und Überprüfung empfand ich als unterstützend.
Menschen erzählen mit leuchtenden Augen
Nachdem wir uns einige Zeit kannten, vertrautest du dich mir als Arzt mit deiner Krebserkrankung an. Ich war erschrocken über die Ausprägung deiner Erkrankung. Aus medizinischer Sicht war die Begrenztheit deiner verbleibenden Lebenszeit offenkundig. In deiner Lehrvermittlung spürte man davon allerdings nichts.
Im Sommer 1997 verschlechterte sich dein Gesundheitszustand deutlich. Ende August gabst du dein letztes Retreat im Kloster Niederaltaich. Der Weg auf die Bühne zu den Vorträgen fiel dir aufgrund deiner Kurzatmigkeit sichtbar schwer. Doch in den dann folgenden Belehrungen war von dem bald bevorstehenden Ende nichts zu spüren. Noch einmal ließen sich zehn Tage viele Menschen von dir, deiner Lehrvermittlung und der Tiefe deiner Einsichten berühren. Auch heute erlebe ich immer wieder Meditierende, die mit leuchtenden Augen von dir erzählen, obwohl sie dich nie persönlich kennengelernt haben; Bücher von dir haben sie inspiriert.
Als du am 2. November deinen Körper verlassen hast, waren wir engen Schülerinnen und Schüler zwar vorbereitet, aber dennoch tief betroffen und traurig.
Liebe Ayya Khema, solange ich lebe, will ich dich ehren, indem ich mein Bestes gebe, deinen Spuren zu folgen.
Mit tiefer Verbeugung,
Dein Wilfried
Wilfried Reuter
Wilfried Reuter war Schüler von Ayya Khema und eng mit ihr verbunden, leitet seit 1997 Meditierende an und ist spiritueller Leiter des Lotos-Vihara-Meditationszentrums in Berlin. Er arbeitet als niedergelassener Frauenarzt, verfügt über langjährige Erfahrung in der Geburtshilfe und Sterbebegleitung und ist Autor mehrerer Bücher.